zum Hauptinhalt
Herr in Hoppegarten. Karl Griep, Leiter der Berliner Außenstelle des Bundesfilmarchivs.
© Mike Wolff

Zu Besuch im Bundesarchiv: Die bröckelnde Erinnerung

Das deutsche Filmerbe verrottet. Kann es gerettet werden – und was würde das kosten? Ein Besuch in der Außenstelle des Bundesarchivs, im brandenburgischen Hoppegarten

Es kann nicht immer Fritz Lang sein. Die erste Regalreihe links, in Raum L-03, gehört „Insel der Dämonen“, einem von Friedrich Dalsheim auf Bali gedrehten Naturfilm von 1933. Karl Griep hat ihn noch nicht gesehen, doch der Titel klingt schon mal interessant, sagt er. Genau das ist Grieps Dilemma, das wird bis zur Pensionierung sein Schicksal bleiben: Filme zu hüten, von denen er die allermeisten nie gesehen hat und niemals sehen wird. Es sind schlicht zu viele.

Allein neun Metallbüchsen, die hier lagern, enthalten Rollen mit Bildsequenzen aus „Insel der Dämonen“. Neun weitere verwahren die Tonspur, Zifferncodes an der Außenseite verraten es. Wer so eine Büchse aus dem Regal nimmt, öffnet und einen Blick auf die dunkelbraune Rolle wirft, der riecht: überhaupt nichts. Was ein sehr gutes Zeichen ist, es bedeutet nämlich, dass sich dieser Film noch nicht zersetzt und eines Tages, falls jemand Interesse zeigt, angeschaut werden kann. Nach allem, was man in den vergangenen Wochen gehört und gelesen hat, ist dies keine Selbstverständlichkeit.

Große Teile des deutschen Filmerbes befinden sich in akuter Gefahr! So steht es in einer Petition an die neue Kultur-Staatsministerin Monika Grütters, seit Ende November fanden sich schon über 4200 Unterstützer. Das Problem verklebender, zerbröselnder und dann unbrauchbarer Filmrollen ist Experten bekannt, überraschend ist die Dringlichkeit: Falls die Politik nicht endlich einschreite, müsse man in den kommenden Jahren „mit dem Verlust der meisten Filme aus den letzten hundert Jahren rechnen“, heißt es darin. Das Schreiben liest sich nicht wie ein Hilferuf, eher wie ultimatives Alarmgebrüll. Und dann der Satz: „Um den drohenden Untergang unserer Bestände abzuwenden, werden bis zum Ende dieses Jahrzehnts Investitionen von etwa 500 Millionen Euro benötigt.“ Die Petition stammt von dem Berliner Filmhistoriker Jeanpaul Goergen und zwei Gleichgesinnten. Benannt wird darin auch, wer dringend Hilfe braucht: die Filmabteilung des Bundesarchivs.

Das ist Karl Grieps Bereich. Hier am Standort Hoppegarten, östlich von Berlin, werden 1,2 Millionen Büchsen gelagert. 70 000 davon in einem speziell gesicherten Betonbau. Hinter die dicke Brandschutztür kommt man nur mit Chipkarte, 30 Personen haben Zutritt, drinnen finden sich weitere Sicherheitstüren und Alarmsysteme. Erschreckend laut ist es. Das sind nicht die kistengroßen Kühlanlagen, welche die Innentemperatur permanent bei sechs Grad halten sollen, sagt Griep. Sondern die noch weit sperrigeren Kästen unter der Decke, die wiederum alle Wärme absaugen sollen, welche die Kühlanlagen bei ihrer Arbeit abgeben. Die niedrige Temperatur soll nicht bloß die Zersetzung des Materials aufhalten, sie soll Explosionen verhindern. Denn hier lagern Rollen aus Nitrocellulose – kurz Nitrofilm – aus der Kino-Gründerzeit. Etwa das berühmte „Wintergartenprogramm“ der Brüder Skladanowsky, das 1895 bei der ersten öffentlichen Filmvorführung in Europa gezeigt wurde. Aber auch Werke aus den 1950er Jahren, als Nitrofilm eigentlich längst als zu risikoreich galt. Es ist leicht entzündbar und kann, eine Kettenreaktion vorausgesetzt, starke Druckwellen erzeugen. Das Gebäude besitzt deshalb Außenmauern, die im Ernstfall dem Druck nachgeben würden. Dahinter wurde extra ein Erdwall aufgeschüttet. Wenn schon Katastrophe, dann soll sie kontrolliert ablaufen.

Quentin Taranantino hat gezeigt, welche Schäden Nitrofilm anrichten kann

Wer Rollen ins Nachbargebäude mitnehmen will, muss sie in dort extra angelegten Tresoren verschließen. Ist das nicht ein bisschen hysterisch?

Keinesfalls, sagt Karl Griep. Er hat selbst eine Explosion erlebt, 1988 in einem Archiv nahe Koblenz. Büchsen wurden 40 Meter weit geschleudert, noch über das Nachbarhaus drüber. Nur durch Zufall gab es keine Toten. In „Inglourious Basterds“ hat Quentin Tarantino gezeigt, welche Schäden Nitrofilm anrichten kann. Vor dem Dreh haben die Produzenten bei Karl Griep angefragt, ob er nicht Original-Nitrofilm entbehren könne. Er hat aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Die Pyrotechniker sollten lieber mit ihren gewohnten Materialien hantieren. Das mit dem Nitrofilm könne böse ausgehen, sagte er.

Weniger gefährlich, aber ebenfalls gefährdet sind die Rollen, die im Altbau nebenan verwahrt werden. Früher betrieb die Stasi hier eine Verschlüsselungszentrale, jetzt stapeln sich Regalreihe an Regalreihe 150 000 Werke auf Acetat, dem nicht brennbaren Nachfolgematerial. In der aktuellen Diskussion ums Filmerbe geistert die Zahl 44 herum: So viele Jahre halte Acetat bloß. Das würde bedeuten, dass alle Filme aus den frühen 1970ern unmittelbar vor der Auflösung stünden. „So schlimm ist es nicht“, sagt Griep. Aber es gibt Fälle, wo teure Restaurierung und Umkopierung nötig wird.

Die Rollen lagern erst seit wenigen Monaten hier, der alte Standort in Berlin-Wilhelmshagen, einer ehemaligen Defa-Anlage, musste evakuiert werden, nachdem aus dem Boden Gase entwichen. Mitarbeiter durften die Räume nur noch mit Schutzmasken betreten. Dazu kam auch noch ein Wasserschaden. Ewig können die Rollen nicht hier bleiben, der Stasi- Bau soll ebenfalls abgerissen werden.

Über die Dringlichkeit des Problems herrscht Einigkeit. Nicht aber über den Tonfall der Petition. Karl Griep hat sie bis heute nicht unterzeichnet. Falls die Initiatoren ein politisches Signal setzen wollten, heiße er das gut. Mehr aber nicht. Sehr viel deutlicher wird Rainer Rother, Chef der Deutschen Kinemathek. Auch er teilt die zugrunde liegende Sorge, hält das Dokument aber für einen Schnellschuss und ungeeignet, die Politik für das Anliegen zu gewinnen: Einerseits teilt er die „alarmistische Vision“ nicht, die in der Petition gezeichnet werde und mit der Archivrealität wenig zu tun habe. Andererseits kritisiert er die „falsche Einstellung“, dass alles vorhandene Filmmaterial digitalisiert werden müsse – und zwar sofort. „Das ist, als würde einer fordern, dass die gesamte deutsche Literatur jetzt umgehend als E-Book angeboten werden muss. Auf die Idee kommt doch auch keiner.“ Sorgfalt und längerfristige Perspektive seien viel wichtiger. Rother hätte sich gewünscht, dass die Initiatoren der Petition vor der Formulierung ihres Papiers mehr Rücksprache mit Archivaren gehalten hätten.

Um das ganze Ausmaß des Problems zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, dass weder Bundesarchiv noch alle Kinematheken zusammen ein vollständiges Archiv besitzen. Bis heute ist nicht einmal vorgeschrieben, dass ein veröffentlichter Film überhaupt archiviert werden muss – oder von wem.

Angesichts der Mittelknappheit stellt sich die Frage: Was ist unbedingt zu retten, was verzichtbar? Aufgabe des Bundesarchivs ist es, mit einem Querschnitt an Filmen ein Abbild damaliger Zeit und Gesellschaft zu bewahren. Konkret heißt das, Griep braucht nicht nur für vermeintlich künstlerisch wertvolle Filme Geld, sondern auch für höchst banale.

„Zum Beispiel frühe Karl-Dall-Filme?“

„Haben wir.“

„Liebesgrüße aus der Lederhose?“

„Haben wir.“

Vor 20 Jahren, als Griep selbst noch Zuträger war, bekam er den Anruf eines Angestellten von 4711. Der Hersteller von Eau de Cologne war gerade von einem anderen Konzern aufgekauft worden, und die Anweisung war klar: Alle alten Werbefilme müssen in den Müll. Der Mitarbeiter widersetzte sich, bot Griep die Rollen heimlich an. Der ging zu seinem Chef, und schnell wurde man sich einig: „Wir nehmen sie, aber sprechen nicht drüber.“ Keine unnötigen Diskussionen über die Relevanz von Werbefilmen.

Man könnte vermuten, Digitalisierung sei die Rettung. Einmal im Rechner, kann der Film ohne Qualitätsverlust beliebig oft umkopiert werden. Aber auch Daten müssen gespeichert werden, etwa auf Festplatten, und die wiederum können kaputtgehen. Dazu kommt das Formatproblem: Schon jetzt gibt es Dutzende, keiner kann sagen, welches sich langfristig durchsetzen und in 20 Jahren vielleicht als Standard gelten wird. Vor vier Jahren gaben große US-Studios ein Gutachten in Auftrag, ob die massenhafte Digitalisierung lohnt. Überraschendes Ergebnis: Nein, sie sei unsicherer und teurer als die konventionelle Aufbewahrung.

Bleibt eine Frage, auf die auch Karl Griep keine schlüssige Antwort weiß, bei der er im Gang stehen bleibt und erst mal gar nichts sagt: wie es überhaupt so weit kommen konnte. Wie ein Staat, der so stolz ist auf seine Filmindustrie und alle Förderprogramme, die Verrottung seines Filmerbes riskiert. Die wahrscheinlichste Begründung lautet: Archive haben keine roten Teppiche und keine Scheinwerfer, die Geldgeber glänzen lassen.

Zur Startseite