Musikfest Berlin: Revolution auf Italienisch
Von Claudio Monteverdi bis Luigi Nono: Das Musikfest Berlin blickt in diesem Jahr gen Süden.
Wer allzu lange auf ein und derselben Sache herumdenkt, läuft Gefahr, dass am Ende genau das Gegenteil von dem herauskommt, wofür die ganze Anstrengung unternommen wurde. Wie beim Logo des Musikfest Berlin 2017. Zwei grafische Elemente – ein gekipptes V sowie ein Halbkreis mit Punkt darunter – sollen anzeigen, dass es hier um Noten geht. Die beiden Symbole für „lauter werden“ (Crescendo) und „den Ton beliebig lange halten“ (Fermate) sind allerdings so stark stilisiert, dass sie den gewohnten Vortragszeichen überhaupt nicht mehr ähneln. „Sie können auch einen singenden Mund darin sehen sowie die Schulter der Interpretin“, bietet Musikfest-Chef Winrich Hopp an.
Er selber hat sich auch lange den Kopf zerbrochen – und danach den Mund fusselig geredet –, um das Programm des hauptstädtischen Saisoneröffnungsfestivals zusammenzustellen, das am kommenden Donnerstag beginnt. Allerdings war sein Ziel dabei: größtmögliche Komplexität. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, spannt sich ein Netz subkutaner Querverbindungen zwischen den verschiedenen Konzertabenden, ist hier geistig tatsächlich fast alles mit jedem verknüpft.
Zentralgestirn des diesjährigen Musikfestes ist Claudio Monteverdi
Zentralgestirn des Musikfest Berlin ist diesmal Claudio Monteverdi, geboren vor 450 Jahren in Cremona. Als Miterfinder der Oper und langjähriger Kapellmeister der Basilica di San Marco in Venedig hat er eine ganze Musikepoche geprägt. Justin Doyle, der neue Chefdirigent des RIAS-Kammerchores wird am 15. September sein Einstandskonzert mit zwei geistlichen Werken Monteverdis geben, in der Hedwigs-Kathedrale sowie im Pierre Boulez Saal. Vor allem aber macht Sir John Eliot Gardiner auf seiner großen Tournee mit den drei erhaltenen Opern des Komponisten in Berlin Station: „L’Orfeo“, „Il ritorno d’Ulisse in patria“ sowie „L’incoronazione di Poppea“ werden halbszenisch in der Philharmonie zu erleben sein. Die Faszination Monteverdis für heutige Hörer liegt vor allem in der Unmittelbarkeit der Emotionen in seinen Opern. Was später im Barock eher verklausuliert ausgedrückt werden wird, bricht hier noch ganz unmittelbar aus den Figuren heraus. Wobei sich der Komponist in die Gefühlsaufwallungen heldenhafter Sympathieträger ebenso hineinzuversetzen vermag wie in die finsteren Seelenklüfte fieser Intriganten.
„Schon vor drei Jahren, als Gardiner mit dem London Symphony Orchestra beim Musikfest war, hat er mir von dem Projekt erzählt“, berichtet Hopp. „Und ich habe sofort zugegriffen.“ Dass die Trilogie auch in Venedig, in Gardiners Heimat Großbritannien sowie in den USA gezeigt werden sollte, war klar. Die Luxusfestivals von Salzburg und Luzern dagegen kamen erst sehr viel später hinzu – zeigten das Projekt aber früher und griffen damit einen Großteil der medialen Aufmerksamkeit ab.
Der Sound von Venedig
„Wenn ich ein anderes Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig.“ Friedrich Nietzsches Feststellung aus dem Jahr 1888 wird jeder bestätigen, der sich schon einmal mit offenen Ohren durch die Lagunenstadt bewegt hat. Die Abwesenheit von Straßenlärm – der zu Zeiten von Rädern und Hufschlag auf Kopfsteinpflaster übrigens noch ärger gewesen sein muss als heutzutage – lässt ein absolut ungewohntes Klangpanorama entstehen. Glocken, Vogelstimmen, Geräusche des Wassers in allen erdenklichen Formen bestimmen den Sinneseindruck.
Luigi Nono hat der Sound seiner Heimatstadt maßgeblich geprägt. Der politisch engagierte Komponist ist zweimal beim Musikfest vertreten, mit einem Stück im Gedenken an den tschechischen Widerstandskämpfer Julius Fucik beim Rundfunk-Sinfonieorchester am 17. 9. sowie mit „Il canto“ beim Gastspiel des SWR Symphonieorchesters am 11. September. Das 1956 uraufgeführte Stück zeigt Nonos Beschäftigung mit der Musik der Renaissance, die in dem Konzert durch Madrigale von Luca Marenzio und Nicola Vicentino vertreten ist. Frühbarockes aus Italien wird beim IPPNW-Benefizkonzert mit der Akademie für Alte Musik am 4.9. zu hören sein, die Berliner Philharmoniker bieten mit den Vorspielen aus der Oper „Palestrina“ ein Beispiel für die Auseinandersetzung Hans Pfitzners mit der Musik des 16. Jahrhunderts.
Mit zum Venedig-Schwerpunkt des Festivals darf man natürlich auch Gustav Mahlers Fünfte rechnen, die das Konzerthausorchester am 12.9. spielt, hat doch der langsame Satz der Sinfonie als Soundtrack in Viscontis „Tod in Venedig“-Verfilmung Kultstatus erreicht. Ganz konkret für San Marco wiederum hat Wolfgang Rihm 1995 seine „In-Schrift“ konzipiert. Auf die außergewöhnliche Akustik der Kirche reagiert der Komponist, indem er die hohen Streicher weglässt und die tiefen Klangregionen erforscht, mit Soli für Posaunen und Tuba sowie intensivem Glocken- und Schlagwerkeinsatz.
Hopp will ein möglichst mutiges Programm durchsetzen
Doch Winrich Hopps programmatischer Blick fokussiert sich nicht allein auf die Lagunenstadt, sondern weitet sich auch in andere Regionen des Sehnsuchtslands Italien: Aus Mailand reist Maestro Riccardo Chailly zusammen mit dem Orchester des von ihm geleiteten Teatro alla Scala an, um eine hierzulande wenig bekannte Seite Giuseppe Verdis zu zeigen: Mit den „Quattro pezzi sacri“ schuf der fast 80-jährige Musikdramatiker ein Meisterwerk der Sakralmusik. Doch auch ihre Kompetenz im deutschen Fach wollen die Mailänder Musiker unter Beweis stellen, als Partner von Leonidas Kavakos in Brahms’ Violinkonzert.
Zum Teufelsgeiger wird Ilya Gringolts am 3. September, wenn er die 24 Capricci von Niccolò Paganini spielt, Mendelssohn ist mit seinen „Italienischen“ vertreten (DSO am 8.9.), und mit etwas Großzügigkeit lässt sich auch noch Hector Berlioz’ dramatische Symphonie über das Veroneser Liebespaar „Roméo et Juliette“ hier eingemeinden (Orchester der Deutschen Oper am 18.9.).
Jedes Jahr aufs Neue müht sich Winrich Hopp darum, die Orchester zu möglichst mutigen Musikfest-Programmen zu überreden. Er möchte starke Stücke aufs Programm setzen, bahnbrechende Werke, gerne auch anspruchsvollster Natur, aus Vergangenheit und Gegenwart. Isang Yun wird gefeiert, der südkoreanische Komponist, der in West-Berlin seine künstlerische Heimat fand, mit vier Veranstaltungen am 17. 9., seinem 100. Geburtstag. Und Rebecca Saunders hat im Auftrag des Musikfests ein 60-minütiges Werk explizit für den Kammermusiksaal der Philharmonie geschrieben. James Joyces „Ulisses“ diente ihr dazu als literarische Grundlage. Und so schließt sich beim Konzert des Ensemble Musikfabrik am 9. September der Themenkreis des Jahrgangs 2017 – auch wenn es bei Joyce nicht um den antiken Odysseus geht, wie bei Claudio Monteverdi, sondern um einen modernen Irrfahrer. Rainer Maria Rilke wiederum beschwört den mythischen Sänger in seinen „Sonetten an Orpheus“, aus denen der britische Komponist Harrison Birtwistle 2004 seine „Orpheus Elegies“ machte, die im selben Konzert erklingen. Gesang und Dichtung verschmelzen an diesem Abend zur Einheit, über allem aber schwebt: Amore. Im Prolog zu Monteverdis „Ritorno d’Ulisse“ tritt die personifizierte Liebe selbstbewusst der Tugend und dem Glück gegenüber und singt die Worte: „Heute werdet ihr beide von mir Unterworfenen zugeben müssen, dass sich auf eine bloße Laune von mir die ganze Welt verändert.“
Das Musikfest Berlin läuft vom 31. August bis zum 18. September. Das komplette Programm findet sich unter: www.berliner-festspiele.de
Frederik Hanssen