Musikfest Berlin: Alles, außer gewöhnlich
Zum Finale begeistern Daniel Barenboim und die Staatskapelle mit Elgars "Dream of Gerontius". Ein Resümee des Musikfests Berlin 2016.
Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des Musikfest Berlin, geht gerne an Grenzen. Zum Beispiel an die des Repertoires, besonders des 20. Jahrhunderts. Kompositionsaufträge vergeben kann jeder, der genug Geld im Subventionssäckel hat. Aber zu Unrecht vergessene oder sträflich selten gespielte Werke der letzten Jahrzehnte aufs Programm zu setzen, das erfordert Mut und Risikobereitschaft. Vor allem, wenn es sich um extrem aufwendige Stücke handelt wie Wolfgang Rihms poème dansé „Tutuguri“ von 1982, mit dem das diesjährige Musikfest eröffnet wurde. Oder um Olivier Messiaens 1949 uraufgeführte „Turangalîla“-Sinfonie, die Gustavo Dudamel und das Orquestra Simon Bolivar aus Venezuela im Gepäck hatten. Da werden die Grenzen des Machbaren schnell touchiert.
Zudem wollen solche Abende auch erst einmal verkauft sein, selbst wenn bekannte Dirigenten und bedeutende Ensembles in der Philharmonie auftreten. Aber gerade das reizt den Grenzgänger Winrich Hopp. Ein Festival mit Glanz fordert sein Geldgeber, das Kulturstaatsministerium, das die Berliner Festspiele finanziell trägt, unter deren Dach das Musikfest veranstaltet wird: Zum Start der hauptstädtischen Kultursaison sollen Begegnungen auf Augenhöhe stattfinden zwischen hochkarätigen Gästen und den vor Ort beheimateten Orchestern, allen voran den Berliner Philharmonikern. Glänzen aber, so findet Winrich Hopp, sollen die Ensembles gerade dadurch, dass sie von gewohnten Pfaden abweichen, sich selber künstlerisch herausfordern – und damit auch die Zuhörer.
Große Werke, große Herausforderungen
Dieses „Alles, außer gewöhnlich“-Konzept ist 2016 erneut aufgegangen. Eine kontrastreiche Konfrontation zweier oder mehrerer Komponisten, wie er sie in den vergangenen Jahren oft konstruiert hatte, gab Hopp dabei diesmal nicht vor. Im Vordergrund standen schlicht die ganz großen Partituren, in personeller wie zeitlicher Hinsicht.
Beim „Tutuguri“-Auftakt mit Daniel Harding und dem BR-Symphonieorchester aus München war der heute so hochmögend-meisterliche Rihm als angry young man zu entdecken, Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker boten ein sperriges, russisches Programm mit Schostakowitsch und Ustwolskaja. Donald Runnicles, der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper, wiederum machte sich mit seinen Musikern zum Anwalt der 1916 komponierten Sphärenmusik des Dänen Rued Langgard, bevor er eine fesselnde Aufführung des ersten „Walküre“-Akts folgen ließ.
Mit einem allzu sehr auf Schönklang fixierten Abend blieben Ivan Fischer und das Konzerthausorchester dagegen ebenso hinter Hopps Ideal zurück wie Andris Nelsons und die Philharmoniker. Dass ein Konzert trotz des Rückgriffs auf romantische Stücke zur Entdeckungsreise werden kann, machen Kirill Petrenko und Daniel Barenboim deutlich: Der designierte Nachfolger Simon Rattles, indem er mit dem Bayrischen Staatsorchester Richard Strauss’ langweiligste Tondichtung, die „Sinfonia domestica“, in einem Akt faszinierendster kollektiver Konzentration bis ins kleinste Detail energetisch auflud. Und der Staatsopern- Chef, indem er zum Finale Edward Elgars „Dream of Gerontius“ wählte, eines jeder Monumental-Oratorien, die sich im viktorianischen England allergrößter Beliebtheit erfreuten.
Dabei stand das zweifach gespielte Abschluss-Event im Vorfeld unter keinem guten Stern: Erst sagte Jonas Kaufmann ab, der Star, dessentwegen ein Gutteil der Besucher seine Tickets erworben haben dürfte, dann meldete sich die Solistin Sarah Conolly krank. Und nach der Generalprobe ging den Veranstaltern schließlich noch der Tenor-Einspringer Toby Spence aus gesundheitlichen Gründen verlustig.
Elgars Spätromantik liegt der Berliner Staatskapelle
Mögen Kaufmann-Fans am Montag das heldisch-prachtvolle Organ ihres Idols auch schmerzlich vermisst haben – der in letzter Minute eingeflogene Andrew Staples macht seine Sache sehr gut: Mit exquisiter britischer Diktion gestaltet er die Titelrolle, ungemein differenziert in der Textausdeutung und sehr lebendig – würde man sagen, wenn sich die Formulierung in diesem Zusammenhang nicht verböte. Denn Staples stellt ja einen Greis im Todeskampf dar, dem nach seinem Ableben dann das Glück einer Paradies-Vision zuteil wird.
Elgars eigenwillige Spätromantik passt perfekt zum dunklen, dichten Klangideal der Berliner Staatskapelle: Assoziationen an edle, schon etwas brüchig gewordene Ledertapeten kommen da auf, an Sommerabendstimmung in alten Herrenhäusern, wenn letzte Sonnenstrahlen durch bleiverglaste Fenster fallen, sodass man die Staubkörner tanzen sieht.
Mit mütterlich-sanftem Mezzosopran führt Catherine Wyn-Rogers als Engel den Verblichenen durch himmlische Gefilde, und wenn Thomas Hampson seinen raumgreifenden Bariton ertönen lässt, zunächst als Priester, später als angel of the agony, wenn sich gar der 200- köpfige Chor von seinen Bänken auf der Philharmonie-Bühne erhebt, wenn der bedrohlich-massiven Menschenwand ein Gesang entströmt, so mächtig und voluminös wie unter den Gewölben einer gotischen Kathedrale, dann wird die Einsamkeit von Andrew Staples’ schlankstimmigem Gerontius auch für die Zuhörer körperlich erfahrbar, das Geworfensein des Individuums in die Welt.
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