Interview mit Riccardo Chailly: Opernhäuser müssen leben können, nicht nur überleben
Als Leipziger Gewandhauskapellmeister steht Riccardo Chailly seit acht Jahren am Pult eines der ältesten Orchester der Welt. Ein Gespräch über kulturelle Erfahrungen, den Umgang mit Traditionen und die Krise in Italien.
Die Bezeichnung 'Kapellmeister' ist eng verbunden mit der Vorstellung von einer gewachsenen deutschen Musikkultur. Sehen Sie sich in Leipzig eher als Bewahrer oder als Erneuerer?
Das Gewandhausorchester ist weltweit das älteste Sinfonieorchester, das von Bürgern gegründet wurde. Gerade haben wir unsere 233. Saison angekündigt. Zwei Konzert-Zyklen werden jeweils Johannes Brahms und Richard Strauss gewidmet sein. Diese großen Komponisten haben direkt mit dem Orchester zusammengearbeitet, ebenso wie Mendelssohn, Beethoven, Schumann, Brahms, Bruckner und Mahler. Ich habe damit eine enorme Verantwortung, die mir aber auch die Kraft gibt, die Tradition aufzufrischen. Die Musiker wollen mit mir ihr Repertoire erneuern. Zum einen geht es darum, dass wir uns den Klassikern auf eine andere Weise nähern. Außerdem nehmen wir neue Werke ins Programm und führen jedes Jahr drei Auftragskompositionen auf. 2015 werden wir ein Stück des italienischen Komponisten Fabio Vacchi für Schlagzeug und Orchester uraufführen, geschrieben für den österreichischen Percussionisten Martin Grubinger.
Sie verbringen einen großen Teil des Jahres in Leipzig. Wie sehr sind Sie durch Ihre Erfahrungen in Deutschland geprägt worden?
In den achtziger Jahren war ich bereits Chefdirigent des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, das sich inzwischen Deutsches Symphonie-Orchester nennt. Damals war ich sehr jung und trat meine erste wichtige Stelle an. Ich lernte Deutsch, um mich in eine neue Gesellschaft zu integrieren. Besonders wichtig war es mir, mit einem traditionsreichen Orchester zu arbeiten, das eine großartige Spielkultur hat. Berlin war noch durch die Mauer geteilt, das spürte man in der Stadt sehr stark. Als ich 2005 nach meiner Zeit als Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters in Amsterdam als Kapellmeister nach Leipzig kam, war das für mich eine willkommene Rückkehr nach Deutschland. Seitdem beobachte ich in der Stadt große Veränderungen. Die Gebäude, die Spuren des Krieges tragen oder an die Teilung Deutschlands erinnern, fallen immer weniger ins Auge.
Mit dem Gewandhausorchester nehmen Sie die gesamten Sinfonien von Gustav Mahler auf DVD auf. Im April erscheint bei dem Label Accentus die Vierte Sinfonie. Wie stark wirkt auf Sie die Leipziger Mahler-Tradition?
Bruno Walter, der von 1929 bis 1933 Kapellmeister am Gewandhaus war, hat auf mich immer einen großen Einfluss gehabt. Was Mahler betrifft, so kommt ihm eine unbestrittene Deutungshoheit zu. Walter hat eine neue Mahler-Tradition begründet, bevor er vor den Nazis aus Deutschland fliehen musste. Das Gewandhausorchester liebt es nach wie vor, diese Werke zu spielen.
Leipzig ist auch die Geburtsstadt Richard Wagners, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr in der ganzen Welt begangen wird. Auf dem Spielplan Ihres Orchesters kommt er jedoch kaum vor.
Das liegt vor allem daran, dass ich Wagner ebenso wie Giuseppe Verdi zuerst als Opernkomponist sehe. Im September werde ich Stücke von beiden Komponisten bei einem Open-Air-Konzert dirigieren. Auf dem Spielplan der Oper Leipzig sind sie häufiger vertreten. Beide sind solche Genies, dass ihre Werke eigentlich immer aufgeführt werden. Dennoch halte ich solche Jubiläen generell für sinnvoll, weil man dem Publikum auf diese Weise auch weniger bekannte Werke vorstellen kann. In Mailand habe ich beispielsweise vor Kurzem mit der Filarmonica della Scala selten gespielte Ballettmusik aus der Oper 'Jérusalem' von Verdi aufgeführt, die wir zusammen mit anderen Stücken bei Decca auf CD eingespielt haben.
Als die Mailänder Scala im Dezember ihre neue Saison mit Wagners 'Lohengrin' eröffnete, kam es zu Protesten, weil das Verdi-Jahr nicht mit einer Verdi-Oper begonnen wurde. Ist das italienische Publikum besonders auf die eigene Kultur fixiert?
Ehrlich gesagt verstehe ich solche Diskussionen nicht. In Deutschland gibt es viele Opernhäuser, die auch jetzt im Wagner-Jahr häufig Werke von Verdi im Programm haben. Es stimmt allerdings, dass sich das Scala-Publikum sehr verbunden mit der Tradition des Hauses fühlt, die auf das große italienische Melodrama zurückgeht. Rossini, Verdi, Puccini und die Komponisten des Verismo haben eine Tradition begründet, die unumgänglich ist. Da dieses Repertoire heute seltener aufgeführt wird als früher, neigen manche Leute vielleicht zu einer konservativen Haltung.
Sollten sich die Musikinstitutionen in Italien nicht gerade jetzt verstärkt nach außen öffnen, um der Kultur in Zeiten politischer und finanzieller Krisen ein Überleben zu sichern? Ist dies angesichts der weit verbreiteten Europa-Skepsis zurzeit überhaupt denkbar?
Ich glaube schon, dass sich die italienische Kultur nach Europa hin orientiert. Allerdings fehlt es den Orchestern und Opernhäusern zurzeit an Geld, um unter idealen Bedingungen arbeiten zu können. Momentan ist das Land nicht in der Lage, sich mit Europa und dem Rest der Welt zu messen. Es wäre wünschenswert, dass die wichtigsten Theater Italiens mit gleichwertigen Partnern auf internationaler Ebene einen intensiveren Austausch pflegen könnten. Die Krise hat derzeit enorme Auswirkungen. Unsere Opernhäuser müssen aber leben und nicht nur überleben können. Wäre dies garantiert, könnte auch ein Freiraum für neue kulturelle Initiativen entstehen. Musik muss allen Menschen zugänglich sein, unabhängig vom sozialen Status. Deshalb darf sie auf keinen Fall zum Luxusgut werden.
Corina Kolbe