Berlinale-Chef Dieter Kosslick: „Ohne Publikum gäbe es uns nicht“
Nächste Woche startet die 68. Berlinale: Im Interview spricht Festival-Chef Dieter Kosslick über die Debatte um seine Nachfolge, MeToo - und das Programm.
Herr Kosslick, was sagen Sie zur Debatte um Ihre Nachfolge nach 2019 und der Forderung nach Berlinale-Reformen?
Jeder Vorschlag ist willkommen und Kritik gehört zu meinem Job. Die Art hat jedoch vor allem im Ausland Irritationen ausgelöst. Statt einer Auseinandersetzung um Inhalte ginge es schnell nur um mich als Direktor. Aber ich hoffe nicht, dass wir wegen der Aufregung bestimmte Filme nicht bekommen haben. Die kulturelle Qualität spielt in der Berlinale-Debatte offensichtlich keine Rolle, etwa die Tatsache, dass wir genau wie die anderen großen Festivals immer wieder Werke von Aki Kaurismäki, Lars von Trier, Isabella Rossellini, Maren Ade, Valeska Grisebach oder Gus van Sant zeigen. Oder dass wir letztes Jahr eine Meisterregisseurin wie Ildikó Enyedi wiederentdeckt haben, deren Bären-Gewinnerfilm „Körper und Seele“ jetzt für den Oscar nominiert ist.
Mit „Eine fantastische Frau“ sind sogar zwei Wettbewerbsfilme von 2017 für den Auslands-Oscar nominiert.
Das zählt offenbar nicht. Es heißt nur, Kosslick sei ein Dampfplauderer, der trifft falsche Entscheidungen, der muss weg. Welche Falschentscheidungen? Dass wir 2006 „Das Leben der Anderen“ nicht gezeigt haben? Wer das kritisiert, erwähnt meistens nicht, dass wir bereits vier andere starke deutsche Filme im Wettbewerb programmiert hatten.
Sie sind nach wie vor verärgert.
Zum Festivaldirektor gehört wie gesagt auch Kritik dazu. Es ist eine sich wiederholende Debatte. Die Film- und Medienbranche befindet sich gerade in einem radikalen Umbruch, das spielt auch eine Rolle. Alle sind hypernervös. Schauen Sie sich nur an, mit welcher Härte gerade Sundance kritisiert wurde. Die Hauptforderung nach einem transparenten Findungsverfahren lag seit einem halben Jahr vor, das ist auch gut so. Regisseure wie Dominik Graf und Andreas Dresen haben sich von dem Brief öffentlich wieder distanziert, viele haben sich bei mir gemeldet. Was mich wirklich ärgert, sind die Leute, die sich daran stören, dass wir so viel Publikum haben. Ohne Publikum gäbe es die Berlinale gar nicht. Unser größtes Pfund, Asset, wie die Banker sagen würden.
Inwiefern?
Wenn wir als Festival keine Lust mehr machen, ins Kino zu gehen, wenn wir keinen Enthusiasmus mehr wecken, haben wir unseren Auftrag verfehlt. In Zeiten von Singlebörsen, Parship, Tinder und wie sie alle heißen, in Zeiten der digitalen Einsamkeit sollen wir die Kommunikation einschränken und weniger Filme zeigen? Sollen wir das Publikum nach Hause schicken? Die Fans klagen schon lange über zu wenige Karten. Ich bin doch nicht mit dem Glamour-Beutel gepudert! Bis 1957 stimmten die Besucher sogar noch über die Gewinner ab. Es ist richtig, dass es inzwischen Jurys gibt, aber so fing es mal an, im Titania und im Gloria am Ku'damm. In Cannes werden ein paar Prozent der Karten verlost, that's it. Wir hier machen das Festival auch für Leute, die mit Schlafsäcken in den Arkaden übernachten, um morgens als Erste am Ticketcounter zu stehen.
Der Film ist längst mobil geworden. Stimmt die Devise noch, dass die Berlinale ein Kino-Filmfestival ist?
Ja, aber sicher. Im Hauptprogramm gilt die einfache Regel: Wir zeigen nur Filme, die für eine Kinoauswertung vorgesehen sind. Andernfalls würden wir unsere Legitimation und unsere staatliche Förderung verlieren. Dazu gehört, dass wir Experimente wagen, Achtstundenfilme zeigen und mit der Reihe „Generation“ etwas für den Zuschauernachwuchs tun. Wir haben einen kulturellen Auftrag, wir sind unabhängig. Gleichzeitig machen wir den Zoo-Palast zur Spielstätte für Berlinale Series - soweit sie künstlerisch interessant sind.
In Cannes gab es die Netflix-Debatte. Die Berlinale zeigte schon 2016 Spike Lees „Chiraq“, der dann nie ins Kino kam.
Aber er war fürs Kino vorgesehen. Cannes hat eine andere Regel, dort sollen nur Filme im Wettbewerb laufen, für die eine Kinoauswertung in Frankreich geplant ist. Wir sagen: Auswertung sollte sein, egal wo auf der Welt. Auf unserem European Film Market, dem nach Cannes weltweit zweitgrößten Markt auf einem Festival, spielt eine andere Musik, da geht es auch um TV-Rechte und Streamingdienste. Das ist übrigens das zweite Standbein neben dem Publikum: Ohne den Markt hätte die Berlinale keine Zukunft, egal wer Festivaldirektor ist.
Wie trägt die 68. Berlinale denn der MeToo-Debatte Rechnung?
Sie wird mit Sicherheit auch auf dem Festival stattfinden. Unter dem Titel „NEIN zu Diskriminierung“ werden wir Beratungsangebote für Betroffene vermitteln. Außerdem gibt es Veranstaltungen, auf die wir hinweisen und die wir ideell unterstützen, die Podiumsdiskussion der Antidiskriminierungsstelle oder von ProQuote Film. Vier Regisseurinnen im Wettbewerb, das klingt nicht nach viel; aber nach der neuen ProQuote-Berechnung stehen wir trotzdem nicht schlecht da. Produktion und Drehbuch mitgezählt beträgt der kreative Anteil der Frauen schon fast 50 Prozent. Und mit „Damsel“ gleich am Freitag nach der Eröffnung gibt es einen feministischen Western. Wobei wir die Diskussion gerne erweitern würden und uns in vielerlei Hinsicht um Diversity bemühen.
Hat sich Ihre Wahrnehmung von Frauenbildern im Kino seit dem Weinstein-Skandal verändert?
Es ist merklich, dass wir in der Auswahlkommission anders auf die Filme schauten und immer wieder sagten: Das geht ja gar nicht! Ich meine jetzt nicht provokante Werke à la „Im Reiche der Sinne“, sondern den leider immer noch gewöhnlichen Sexismus. Produktionen, an denen Filmschaffende beteiligt waren, die eindeutig Fehlverhalten zugegeben haben, haben wir von vornherein ausgeschlossen,. Eine andere Frage ist die Trennung zwischen Künstler und Werk. Die hatten wir schon mal sehr heftig, als wir 2010 Roman Polanskis „The Ghost Writer“ zeigten. Es ist eine heikle, wichtige Debatte, denn es gilt immer auch, die Kunstfreiheit zu verteidigen.
Was halten Sie von der „Nobody's Doll“-Initiative? Schluss mit High Heels und Dekolletés auf dem roten Teppich?
Die Berlinale hat keinen Dresscode - und eher das umgekehrte Problem. Ich erinnere mich an mein erstes Festivaljahr, da kamen sie zur Gala mit offenem karierten Hemd und Hose ohne Gürtel. Skimütze, schmutzige Schuhe, gibt's alles hier. Ich freue mich über jede Frau in flachen Schuhen und jeden Mann in High Heels. Hauptsache, die Schuhe sind sauber. Aber was soll's.
Nie ausreichend deutsche Filme im Wettbewerb
Ein Blick aufs Programm: Welche Themen ziehen sich durchs Festival?
Zivilcourage, die braucht man offenbar, heute wie früher. „Das schweigende Klassenzimmer“ erzählt von einer DDR-Schulklasse, die wegen einer solidarischen Schweigeminute nach dem Ungarn-Aufstand 1956 komplett relegiert wurde. In „Dovlatov“ geht es um Schriftsteller im rigiden Sowjetregime der 70er Jahre. Malgorzata Szumowska ist so mutig, sich in „Twarz“ wieder die katholische Kirche in Polen vorzunehmen. Religion und Zugehörigkeit zu ungewöhnlichen Familienkonstellationen tauchen immer wieder auf. Von Cédric Kahns „La Prière“ über einen Drogensüchtigen, der im Gebet Heilung sucht, bis zu „Figlia mia“ aus Italien, mit Alba Rohrwacher und Valeria Golino. Einer meiner Lieblingsfilme ist „Unga Astrid“ im Berlinale Special, mit Alba August als Astrid Lindgren. Man begreift die Tragik ihres Lebens - und warum alle Kinder Lindgren lieben.
Vier deutsche Filme im Wettbewerb, ein deutscher Jury-Präsident, bisschen viel deutsch
Entweder es sind zu viele oder zu wenige deutsche Filme im Wettbewerb - ich freue mich über alle vier. Christian Petzold verhandelt in „Transit“ das Gegenwartsthema, Flucht und Migration, und schafft es, Anna Seghers' Roman von 1944 ins moderne Marseille zu verpflanzen. In Emily Atefs „3 Tage in Quiberon“ brilliert Marie Bäumer als deutsche Filmikone Romy Schneider. In „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ nähert sich Philipp Gröning mit Heidegger'scher Wucht dem Thema Zeit. Und Thomas Stubers „In den Gängen“ ist ein Film über die Liebe bei der Arbeit und die Arbeit an der Liebe, angesiedelt in einem Großmarkt auf dem Land. Voll magischem Realismus.
Und Tom Tykwer?
Wir kennen uns seit seinem allerersten Film, den wir damals bei der NRW-Filmstiftung unterstützt haben. Mein erstes Festival 2002 wurde mit Tykwers „Heaven“ eröffnet, ich wünschte ihn mir schon lange als Jury-Präsidenten. Aber er konnte nie. Jetzt hat es endlich geklappt, er sagte zu, längst bevor wir mit der Filmauswahl angefangen hatten.
Sie zeigen mit „Isle of Dogs“ erstmals einen Animationsfilm zur Eröffnung.
Es ist alles andere als ein klassischer Animationsfilm, ein echter Wes Anderson, sehr verblüffend. Ich bin froh, dass er auf der Berlinale läuft. Alle waren da hinterher. Und, kleine Vorschau auf die Eröffnungsrede: Wir sind im chinesischen Jahr des Hundes.
Noch mal zurück zur Zukunft: Wie geht es weiter hier am Potsdamer Platz?
Der Mietvertrag für die Büros und die Kinos ist bis 2022 verlängert, im Sommer zieht das Festivalteam ins Glashochhaus am Potsdamer Platz, endlich unter einem Dach vereint. Nächstes Jahr stehe ich zum letzten Mal am roten Teppich. 2020 feiert die Berlinale ihren 70. Wer dann am roten Teppich steht, das will Kulturstaatsministerin Monika Grütters in diesem Sommer bekannt geben. Wir sind alle gespannt.
Und wenn Grütters Sie fragt, ob Sie ein künftiges Filmhaus mit aufbauen wollen?
Gute Idee. Aber ich hör erst mal auf, bevor ich weitermache.
Das Gespräch führten Andreas Busche und Christiane Peitz.