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Der Regisseur und damalige Festspiel-Intendant Dieter Wedel.
© Swen Pförtner/dpa

Anwalt Christian Schertz zum Fall Wedel: „Wir müssen über das System des Schweigens nachdenken"

Medienanwalt Christian Schertz vertritt Jany Tempel und Patricia Thielemann, die schwere Vorwürfe gegen Dieter Wedel erheben. Ein Gespräch über MeToo und die Folgen.

Herr Schertz, Sie sind bekannt dafür, dass Sie Prominente verteidigen, denen in den Medien Vorwürfe gemacht werden. Sie versuchen dann, die Berichterstattung zu stoppen. Nun aber vertreten Sie Jany Tempel und Patricia Thielemann, die Frauen, die im Artikel des „Zeit“-Magazins den Fall Dieter Wedel ins Rollen gebracht haben. Haben Sie die Seiten gewechselt?

Ich bin seit 25 Jahren tätig in diesem Geschäft und ja, vielfach habe ich Medienopfer vor medialer Verfolgung beschützt. Aber in diesem Fall kann ich mit guten Gründen sagen, auf der richtigen Seite zu stehen. Man muss sehr genau die Unterschiede zu anderen Fällen prüfen.

Wie hat Dieter Wedel reagiert?

Er hat einige Tage nach Erscheinen des Artikels meine Mandantinnen auf Unterlassung abgemahnt, aber ich habe die Ansprüche abgelehnt, weil wir die Vorwürfe für so massiv, nachhaltig und glaubwürdig halten, dass wir glauben, dass die Frauen die Wahrheit sagen. Außerdem haben beide meine Mandantinnen eidesstattliche Versicherungen abgegeben, wie er ja auch. Sodass sich beide Aussagen gegenüberstehen. Offenbar sind dann aber von Herrn Wedel keine juristischen Schritte mehr gefolgt. Er hat ja auch sodann sinngemäß öffentlich erklärt, von juristischen Mitteln Abstand zu nehmen.

Wie begleitet man so einen Fall juristisch?

Bevor Wedels Abmahnung kam, ja noch bevor der Artikel erschien, habe ich Jany Tempel beraten, welchen rechtlichen Angriffen sie durch Herrn Dr. Wedel durch ihren Schritt in die Öffentlichkeit ausgesetzt sein könnte. Nach dem Erscheinen ist sie natürlich überschüttet worden mit Anfragen anderer Medien. Meine Beratung war: ab jetzt gar nichts mehr zu sagen, denn der Artikel im „Zeit“-Magazin ist erschöpfend. Ihre Einlassung ist detailliert, glaubhaft und glaubwürdig, und es bringt jetzt gar nichts mehr, noch in irgendwelche Kameras von RTL Exklusiv-O-Töne zu geben.

Sie sind ja eigentlich kein Freund von Verdachtsberichterstattung. Im November sagten Sie in einem Interview im Deutschlandfunk, die ganze MeToo-Debatte mit ihrer Art, „Ross und Reiter zu nennen“, sei quasi rechtswidrig. Und jetzt?

Bleibe ich dabei. Man braucht nur ein bisschen Raum, um die Dinge einmal zu erläutern.

Bitte.

Grundsätzlich bin ich tatsächlich der Meinung, dass die MeToo-Debatte mehrere Probleme in sich trägt. Vor allem wird alles vermengt und oft undifferenziert berichtet: Es geht von blöder Anmache bis hin zur Gewaltanwendung und Vergewaltigung. Ein Großteil der Dinge, über die in den letzten Monaten berichtet wurde, ist meines Erachtens der Privatsphäre zuzurechnen und reicht für eine Verdachtsberichterstattung nicht aus, weil es sich nicht um schwere Straftaten handelt. Da muss man die wirklich harten Vorwürfe, wie sie gegen Weinstein und Wedel erhoben werden, von schlechtem Benehmen und Flirtunfällen trennen. Davon unbenommen ist die Frage, dass man natürlich gesellschaftlich diskutieren muss, wie man miteinander umgeht. Doch jetzt alle Leute an den Pranger zu stellen, die einmal einen blöden Spruch gemacht haben, reicht meines Erachtens für eine Veröffentlichung nicht aus.

Die Medien, die Menschen, die Gesetze. Christian Schertz, Anwalt.
Die Medien, die Menschen, die Gesetze. Christian Schertz, Anwalt.
© Thilo Rückeis

Genau das hat die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen der „Zeit“-Geschichte mit Ihren beiden Mandantinnen vorgeworfen: Wedel käme an den „Medienpranger“.

Auch ich bin ein Freund der Unschuldsvermutung und die gilt naturgemäß auch für Herrn Dr. Wedel. Eine andere Frage ist aber, wann eine Verdachtsberichterstattung zulässig ist: Wenn es sich um den Vorwurf einer schweren Straftat handelt und diese Vorwürfe noch dazu einen sehr berühmten und sehr mächtigen Menschen betreffen und sich auch auf einen längeren Zeitraum und viele Personen beziehen, darf meines Erachtens ausnahmsweise berichtet werden. Bei allem, was ich hier sage, gilt natürlich: Man wirft Dieter Wedel Dinge vor, die bis heute nicht bewiesen sind, da brauchen wir nicht drüber zu streiten. Es sieht aber so aus, als habe hier ein systemisches Verhalten über Jahrzehnte bestanden – die Vorwürfe reichen von den Siebzigern bis in die Mitte der neunziger Jahre. Und die Macht von Wedel war auch begründet von den öffentlich-rechtlichen Sendern. Wer hat das bezahlt? Der Gebührenzahler.

Leiten Sie daraus das für die Berichterstattung notwendige öffentliche Interesse ab?

In der Tat ist das ein besonderer zusätzlicher Umstand des Falles. Aber in diesem Fall kommen mehrere Aspekte hinzu, warum dieser Fall öffentlich gemacht werden darf: Zuallererst werden die Vorwürfe von mehreren Personen erhoben, die alle kein großes Interesse haben, in die Öffentlichkeit zu kommen, weil sie keine Rollen mehr brauchen. Viele haben – vielleicht auch wegen dieser Erlebnisse – mit der Branche abgeschlossen. Die Verdachtsmomente sind weiterhin sehr massiv. Zuletzt benötige ich für eine zulässige Verdachtsberichterstattung ein besonderes öffentliches Interesse. Inzwischen wissen wir, dass sich die Vorwürfe teilweise auch in den Akten der Produzenten und Sender finden, wonach es zu Gewaltanwendung im Zusammenhang mit Sexualität gekommen sein soll.

Haben Sie die Akten vor der Veröffentlichung gekannt?

Natürlich nicht. Das hat die „Zeit“ ja erst recherchiert. Aber jetzt kommt noch ein entscheidender Punkt hinzu, und der liegt in der Reaktion von Wedel selbst. Man hätte ja die Auffassung vertreten können, dass die Berichterstattung derzeit rechtswidrig ist, und sie unter Verweis auf die Unschuldsvermutung und Verletzung der Intimsphäre zu verbieten versuchen. Wedel ist aber nicht gegen das Magazin vorgegangen, sondern hat gegenüber den Medien umfassende Erklärungen abgegeben. Er hat seine Version der Vorfälle beschrieben und auf eine seitenlange eidesstattliche Versicherung verwiesen.

Die hatte Wedel vor der Veröffentlichung an das „Zeit“-Magazin schicken lassen.

Wenn man sich zu Vorwürfen öffentlich äußert, lässt man sich zur Sache ein und kann dann den Medien nicht mehr verbieten, dass über den Fall berichtet wird. Wir Juristen nennen das „Selbstbegebung“.

Sie wollen sagen, Wedel war schlecht beraten?

Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Doch immer wenn sich ein Mandant in der Vergangenheit an mich gewandt hat, wenn es um Vorwürfe aus der Privat- und Intimsphäre ging, habe ich geraten, gar nichts dazu zu sagen. Wir schreiben das Medium an, dass wir der Auffassung sind, es darf nicht berichtet werden. Und wenn sie trotzdem rechtswidrig berichten, versuchen wir das schnell wieder einzufangen, indem wir eine einstweilige Verfügung dagegen besorgen. Ich rate keinesfalls, die „Jetzt rede ich“-Geschichte zu machen. Die fällt einem immer auf die Füße. Und meistens macht das eigene Statement die Sache nur noch größer. Wenn der Betroffene sich auch noch umfassend in einer Presseerklärung erklärt, willigt er zudem faktisch selber in die Berichterstattung ein.

"Weinstein und Wedel sind Ausnahmefälle"

Einmal abgesehen davon, ob eine Berichterstattung erlaubt ist: Sie werden doch auch in Ihrem Kopf und Herzen gewogen haben, ob Sie Ihrer Mandantin überhaupt zuraten können, ihre Geschichte publik zu machen mit allen möglichen Konsequenzen für sie. Was haben Sie ihr geraten?

Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch: Ich versuche eigentlich immer, auf der richtigen Seite zu stehen. Das ist mir bislang nicht immer gelungen, aber oft, glaube ich. Hier habe ich mir natürlich selber auch anwaltsethische Gedanken gemacht. In diesem konkreten Fall bin ich tatsächlich der Auffassung, dass es moralisch gerechtfertigt ist, dieses Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist ja hier nicht der Fall Kachelmann. Damals habe ich die enorme mediale Vorverurteilung kritisiert: Hinten im Gerichtssaal saß immer eine Gruppe voreingenommener Berichterstatter. Im Endeffekt war der Fall Kachelmann ein einziges Desaster für den Rechtsstaat, weil er zeigt, dass auch im Falle eines Freispruchs die Folgen für den Betroffenen immens sind.

Was ist jetzt anders?

Anders als bei Wedel war es bei Kachelmann ein Einzelfall-Vorwurf, der zu einem medialen Tsunami geführt hat. Im Ergebnis hat sich der Vorwurf offensichtlich als falsch herausgestellt. Dieses Mal kam nun eine Riesendebatte, losgetreten von der „New York Times“, aus Amerika. Wochen- und monatelang passierte in Deutschland erst einmal gar nichts. Dann haben sich viele Personen, die kein spezielles Interesse an Öffentlichkeit haben, zugleich und unabhängig voneinander entschlossen, an die Medien zu gehen.

Frauen. Frauen und Schalen. Frauen und Schalen und ein Schwert. Gerechtigkeit?
Frauen. Frauen und Schalen. Frauen und Schalen und ein Schwert. Gerechtigkeit?
© imago/McPHOTO

Wir müssen trotzdem noch einmal fragen: Wenn also jetzt die Mandantin Jany Tempel zu Ihnen kommt und berichtet, Dieter Wedel habe sie vor 22 Jahren im Hotelzimmer misshandelt. Da würde ich als Anwalt immer sagen: Gehen wir zur Staatsanwaltschaft.

Ich bin kein Strafrechtler. An mich wenden sich Menschen, die fragen: Kann ich mit dieser Geschichte an die Medien gehen und was droht mir in dem Fall? Ich berate Buchverlage und Filmproduktionen, die Realstoffe verfilmen. Ob nun Regina Ziegler, die aktuell das Gladbecker Geiseldrama produziert, fragt: Wie gehen wir mit Rösner und Degowski um?, oder ob eine Frau, die behauptet, Opfer von Dieter Wedel zu sein, fragt, ob sie diese Geschichte erzählen darf: Ich prüfe immer dieselben Rechtsfragen. Ob man es in einem Film oder einer Zeitung erzählt, ist dabei völlig irrelevant. Ich prüfe, ob man Geschichten mit realen Personen erzählen darf. Das ist meine Spezialisierung.

Man könnte ja auch sagen: Es gibt ein förmliches Verfahren zur Feststellung von Schuld. Da kann man der Mandantin ja auch zuraten.

Ich bin Äußerungsrechtler und habe mir deshalb nur die medialen und äußerungsrechtlichen Sachen angehört. Strafrechtlich bin ich davon ausgegangen, das ist verjährt. Dann hat sich aber die Münchner Polizei gemeldet, Kripo und Staatsanwaltschaft, da es relativ aktuelle Übergangsvorschriften gibt, die im Zusammenhang mit den Missbrauchsgeschichten 2015 geschaffen wurden: Wenn ein Opfer von Sexualdelikten noch keine 30 Jahre alt war, beginnt die Verjährung später. Deshalb gibt es jetzt ein Ermittlungsverfahren.

In der Öffentlichkeit, die seit dem Erscheinen des Artikels für Dieter Wedel besteht, werden auch Urteile getroffen und Strafen bestimmt: Seine Stücke werden abgesetzt, seine Filme sollen nicht mehr gezeigt werden. Soll es aus Ihrer Sicht Schule machen, dass man es sich im Namen von öffentlichem Interesse oder später Gerechtigkeit herausnimmt, das öffentlich aufzuarbeiten, was der Rechtsstaat bei verjährten Fällen nicht mehr herstellen kann?

Nein, Weinstein und Wedel sind Ausnahmefälle. Grundsätzlich bin ich ein Freund der strengen Grundsätze für die Verdachtsberichterstattung durch den BGH. Sogar entlassene Straftäter haben zum Beispiel das Recht, nach verbüßter Strafe presserechtlich resozialisiert und alleingelassen zu werden, außer es handelt sich um spektakuläre Verbrechen der deutschen Geschichte, wie die der RAF oder eben das Gladbecker Geiseldrama. Hier spricht jedoch vieles dafür, dass die Vorwürfe stimmen, wenngleich natürlich auch für Herrn Wedel die Unschuldsvermutung gilt. Er bestreitet ja auch alle Vorwürfe, das kann man gar nicht oft genug sagen.

Sie haben schon einmal eine Frau gegen Dieter Wedel vertreten: Damals ging Hannelore Elsner, die ein Kind mit Wedel hat, gegen Beschreibungen ihres Intimlebens in dessen Autobiografie „Vom schönen Schein und wirklichen Leben“ vor. Sie konnten die Passagen verbieten und haben eine Geldentschädigung durchgesetzt. Hatten Sie damals auch von Übergriffen gehört?

Jedenfalls von Vorwürfen wie Vergewaltigung hatte ich nichts gehört. Auch nichts, was irgendwelche Straftatbestände erfüllen würde. Aber Sie fragen ja nach der moralischen Komponente: Ich glaube, dass es Ausnahmefälle gibt, in denen eine Berichterstattung notwendig ist. Egal ob es sich um Unternehmer, Politiker oder einen Machtmenschen wie Wedel handelt. Wenn Journalisten investigativ und sauber recherchiert so ein System aufdecken, ist das ausnahmsweise zulässig. Auch in der Politik gibt es verjährte Fälle, die nicht in Ordnung sind, nehmen Sie die schwarzen Kassen der CDU. Oder den VW-Skandal mit Peter Hartz, da ging es um Bordelle in Rio und Betriebsratspartys mit Prostituierten. Denken Sie an die Odenwaldschule. Oder nehmen Sie die katholische Kirche: Da ist alles verjährt. Darf man deshalb nicht berichten, was die Popen mit den Messdienern und Domspatzen gemacht haben?

Nehmen wir einmal an, es ist alles wahr, was über Dieter Wedel berichtet wurde. Welche Schlüsse sollen wir daraus ziehen?

Über das System des Schweigens zu diesen Dingen, die offenbar unter vielen Augen stattgefunden haben, müssen wir jetzt alle einmal nachdenken. Viele andere Schauspieler, Produzenten und Sender haben das offenbar mitbekommen, aber es führte zu keinerlei Sanktionen. Es wurde offenbar nicht einmal aktiv gedeckt oder verschleiert – es führte einfach zu gar keiner Reaktion. Ich glaube, das wäre heute nicht mehr möglich.

Warum?

Es ist eine Film- und Fernsehindustrie entstanden, die es vor 20, 30 Jahren in Deutschland so noch nicht gab. So wie ich heute Produktionen erlebe, geht es da hauptsächlich um Zahlen und Inhalte. Die Verantwortungen sind auch geteilt. Die Besetzung wird professionalisiert von Casterinnen abgewickelt. Es gibt einfach keine Regisseure mehr, die im Bademantel in der Hotelsuite sitzen und dann etliche Schauspielerinnen zum Casting kommen lassen. Das würde gar keiner mehr bezahlen.

Indem wir die Vergangenheit nun so skandalisieren, sind wir vielleicht gerade dabei, die Gegenwart überzumoralisieren?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Natürlich haben wir eine Tendenz zur Überkorrektheit: Rauchen in Gaststätten ist verboten, unser Leben wird von Energiesparlampen beleuchtet und alle dürfen nur noch regionale Produkte essen. Diese Empörungsgesellschaft finde ich in der Tat sehr, sehr schwierig, weil eine differenzierte Debatte nicht mehr möglich ist und bei einer vielleicht nicht immer politisch korrekten Auffassung sofort massiv angegangen wird. Auch das, was etwa mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff passiert ist: Die Medien hören teilweise nicht auf, bis die Leute am Boden liegen, und dann wird noch weiter auf sie eingetreten, wenn man nicht in jederlei Hinsicht Abbitte leistet. Aber in bestimmten Punkten haben die Medien auch gelernt.

Wie das?

Zu Beispiel druckt die „Bild“-Zeitung jetzt unter der Wedel-Berichterstattung einen Riesenkasten zur Unschuldsvermutung: „Bild hält die schweren Vorwürfe gegen Dieter Wedel für ausreichend plausibel, um umfangreich darüber zu berichten. Dennoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein großer Teil dieser Vorwürfe juristisch verjährt ist und Dieter Wedel deswegen nicht die Möglichkeit erhalten wird, sich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren dagegen zu verteidigen. Nach journalistischen Standards halten wir es für gerechtfertigt, über die Vorwürfe zu berichten, die in der ,Zeit‘ von zahlreichen Zeugen erhoben werden. Dieter Wedel hat alle Anschuldigungen bestritten. Es steht Aussage gegen Aussage.“ Das ist wirklich bemerkenswert. Respekt!

Das Interview führten Deike Diening und Jost Müller-Neuhof.

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