Interview zu Ungarns Zukunft: „Neues muss aus dem Geist kommen“
Gibt es Hoffnung für Ungarn? Ein Gespräch mit dem Publizisten Wilhelm Droste in Budapest.
Herr Droste, seit sieben Jahren regiert Viktor Orbán Ihre Wahlheimat Ungarn. Die EU blickt voller Sorge auf ihren Mitgliedsstaat. Wie nehmen Sie die politische Stimmung im Land wahr?
Die Frustration ist allgewaltig. Selbst die Herrschenden sind enttäuscht und zynisch, sie machen einen verbissenen Eindruck. So etwas wie Sieger gibt es hier überhaupt nicht mehr.
Wenigstens eine Aussicht auf Sieger?
Es müssten viele Grundpfeiler wieder in Ordnung kommen. Daran fällt es mir schwer zu glauben.
Wie reagieren die Intellektuellen auf die Situation im Land?
Resignation ist fast noch die aktivste Form von Widerstand. Die meisten Literaten ziehen sich aus den gesellschaftlichen Diskursen zurück, weil alles so fürchterlich verblödet ist. Zudem sind die zwei großen Stimmen im letzten Jahr verstorben: Imre Kertész und Péter Esterházy. Sie waren Ausnahmen. Kertész war am Ende zwar zu alt, um sich noch klar positionieren zu können, Esterházy hat das aber bis zur letzten Sekunde getan. Er war ein Mensch, der einerseits sehr in seinen Büchern lebte, zugleich aber auch stark in der Budapester Öffentlichkeit stand. Esterházy fehlt extrem.
Im April gingen in Budapest 70000 Menschen gegen die drohende Schließung der Central European University auf die Straße. Hat Sie das überrascht?
Vor allem hat es mich gefreut. Ich habe gewusst, dass es Widerstand gibt, nur nicht, ob er sich in einem solchen Demonstrationszug manifestieren würde. Das Schöne am Uni-Beruf ist ja, dass man immer wieder eine Lawine neuer Jugend abbekommt. Und diese Jugend ist unendlich positiv und klug und wird sicher irgendwann dafür sorgen, dass Ungarn wieder ein lebenswertes Land wird. Ich habe keine wirklichen Sorgen um die Zukunft. Ich weiß nur nicht, wie sich diese Zukunft aus der Eierschale lösen kann – denn die wird immer dicker. Viktor Orbán hat ein riesiges Talent, das Land in diese Verschalung hineinzuzwängen.
Wie reagieren die jungen Akademiker auf die politische Lage in ihrer Heimat?
Vor allem Mediziner gehen massenhaft ins Ausland. Es herrscht großer Personalmangel, obwohl die Qualität der Ausbildung sehr gut ist. Es spricht gerade einiges dafür, erst mal woanders Geld und Kraft zu sammeln, um danach vielleicht doch wieder nach Ungarn zurückzukehren. Davon wird abhängen, wie schnell sich das Land wieder wendet. Es käme viel welterfahrene Intelligenz zurück, die nationale Schrullen nicht duldet.
Schockiert Sie das Geschehen in Ungarn eigentlich noch, oder haben Sie sich daran gewöhnt?
Es schockiert mich zutiefst. Zuletzt etwa, als im vergangenen Oktober die beste Tageszeitung, die „Népszabadság“, über Nacht weggeputscht wurde. Es war die einzige Zeitung, die ich noch gekauft habe und die auch außerhalb Budapests oppositionell berichtete. In einem elendigen Zustand befinden sich jene Medien, die man in Deutschland die öffentlich-rechtlichen nennt. Sie sind hier weder öffentlich noch rechtlich, sondern völlig begradigt und zu Manipulationsorganen gemacht.
Wie zeigt sich diese Manipulation?
In der Provinz die Nachrichten anzustellen ist eine Schande. Bis dahin reichen die anderen Sender nicht, es gibt dort nur noch die eine, regierungsnahe Stimme. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass die Presse in den späten 1980er Jahren unter János Kádár eine kritischere war als die öffentlich-rechtliche Berichterstattung, die Viktor Orbán heute betreibt.
Wie geht es Ihrer Frau, der Filmregisseurin Ildikó Enyedi, die im Februar den Goldenen Bären der Berlinale gewann?
Sie hat in einem Interview gesagt, sie schäme sich für die Zustände in Ungarn. Seitdem grüßt uns die Hausmeisterin nicht mehr. George Soros, der ja aus Budapest stammt, wird im Moment zum Satan stilisiert, und wir sind angeblich seine Püppchen, die für ihn Stimmung gegen Ungarn machen. Das ist das Traurigste, was uns unterstellt wird: Wir seien keine guten Ungarn. Dabei wollen wir nichts mehr, als dass dieses Land wieder spannend und liebenswert wird. Wie auch viele andere haben wir das Gefühl, dass der größte Anti-Ungar Viktor Orbán heißt. Aber genau das ist hierzulande das Problem: dass man sich gegenseitig für Vaterlandsverräter hält.
Enyedis prämierter Film „On Body and Soul“ erzählt die Liebesgeschichte zweier verschlossener Menschen, die in einem Budapester Schlachthaus arbeiten.
Im weitesten Sinne ist dieser Film auch politisch, denn an den Krämpfen einer Liebesgeschichte offenbaren sich die Krämpfe von Kommunikation. Und die sind das politische Hauptthema des Landes. Die Kommunikation ist hier komplett gestört. Das Land führt bloß noch rammdösige Monologe mit sich selbst, keiner erreicht niemanden. Man behauptet zwar, die große Einheit zu suchen, treibt in Wahrheit aber die Spaltung weiter voran.
Das gilt besonders für Orbán, der immer so tut, als sei er der Vater der gesamten Nation. Dabei ist er wahrscheinlich nicht einmal mehr der Vater der halben Nation, sondern nur noch jener Teile Ungarns, die er erfolgreich verhexen konnte.
Sehen Sie eine starke Opposition, die die Regierung ablösen könnte?
Geistig sehe ich sie. Die Frage ist nur, ob man noch an die parlamentarischen Möglichkeiten der Demokratie glauben kann. Im Zuge der drohenden Schließung der Eliteuni CEU wurde zwar die junge Bewegung „Momentum“ erfolgreich, aber ich denke, das Parlament spielt bloß noch eine assistierende Rolle. Ich habe Angst, dass alles in Straßenkämpfe ausartet.
Was muss geschehen, damit es so weit nicht kommt?
Gott sei Dank gibt es diese europäische Verankerung, sie verhindert das Allerschlimmste. Ich hätte nie gedacht, mal so ein begeisterter Anhänger des europäischen Gedankens zu werden, aber hier hat er im Moment eine hohe Friedensfunktion. Die Jugend hat das erkannt, mit ihren Demonstrationen aber auch klargemacht, dass sie nicht das Europa eines Viktor Orbán will. Sie hat ihm entgegengerufen: „Du treibst uns raus aus der EU. Du sagst ,Europa‘ und meinst in Wahrheit deine Eigeninteressen.“ „Europa“ wurde zur antidiktatorischen Parole.
Was macht Orbáns europäischen Sonderweg aus?
Er dachte wohl zwischendurch – und das gar nicht mal so aussichtslos –, er könne der neue Merkel werden. Obwohl er aus dem kleinen Ungarn kommt, hat er immerhin schon die Achse über Polen und die Slowakei hinter sich. Auch die Serben will er dazuholen und dann als Führer von Ostmitteleuropa in Brüssel seinen Kurs durchsetzen, als europäischen Kurs.
Wie sollte die EU mit Ungarn umgehen?
Eine Sonderlektion sollte man auf jeden Fall vermeiden, eine Art „Fortbildungsveranstaltung in Demokratie“. Ungarn mit Restriktionen zu belegen, etwa das Stimmrecht zu entziehen, wäre kontraproduktiv. Es würde Orbán noch stärker zum Märtyrer machen, zum heroischen Widerstandskämpfer. Außerdem sind die Erfolgschancen importierter Demokratie bescheiden. Wenn die Menschen sie nicht aus sich selbst heraus entwickeln, geht es völlig schief. Man treibt das Land dann noch weiter in den Irrwitz.
Welcher politischen Kraft trauen Sie?
Bei allen großen Oppositionskräften winken die Leute ab. Da ist Jobbik, die neufaschistische Partei, die jetzt versucht, den Faschismus aus sich herauszukratzen, indem sie sich nicht mehr einseitig antisemitisch gibt, sondern etwa auch die Korruption anprangert. Aber keiner will wirklich, dass die es schaffen, Orbán auszuhebeln. Auch die sozialdemokratisch-sozialistische Partei kriegt keinen Fuß auf die Erde. Sie hat zu viel Blödsinn gemacht. Eine Partei, in die viele Hoffnungen hatten, gibt es gar nicht mehr: die linksliberal-jüdische SZDSZ-Partei. Deren Kinder sind nun im Momentum. Wahrscheinlich schaffen sie es ins Parlament – aber ich glaube nicht, dass sich dieses Land parlamentarisch kurieren wird.
Wie dann?
Ich würde mir so etwas wie eine Erneuerung aus dem Geist heraus wünschen. Dass aus einer kulturellen Intelligenz eine erneuernde Kraft in der Gesellschaft entsteht. Der Ausgangspunkt liegt nicht im Parlament, es ist zu sehr zum Spielort unglaubwürdiger Politik geworden. Der Schriftsteller György Konrád hat am Ende der Kádár-Zeit von einer „Antipolitik“ gesprochen, das finde ich sehr aktuell. In Deutschland hatten wir die außerparlamentarische Opposition, von der selbst Merkel einiges aufgegriffen hat. Das könnte ein Weg sein.
Sie haben mehrere Cafés in Budapest betrieben, im Herbst eröffnen Sie ein neues.
Es soll gewissermaßen eine kleine, spielerische Gegenwelt produzieren: Ein außerparlamentarisches Demokratiegelände, das hoffentlich irgendwann auch parlamentarisch seine positiven Auswirkungen zeigt. Ich will das Parlament nicht aufgeben, ich merke nur: Es ist unwahrscheinlich, dass es der Zellkern einer Erneuerung ist. Die Erneuerung muss direkt aus der Gesellschaft hervorwachsen.
Der Publizist Wilhelm Droste, geboren 1953 im Sauerland, lebt seit 1989 in Budapest, wo er an der Eötvös-Loránd-Universität deutsche Literatur lehrt. In seiner Wahlheimat betrieb er schon mehrere Kaffeehäuser, darunter das „Café Eckermann“ im Haus des Budapester Goethe-Instituts. Verheiratet ist Droste mit der Filmregisseurin Ildikó Enyedi, die in diesem Jahr den Goldenen Bären der Berlinale gewann.