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Festival-Chef Dieter Kosslick mit Bären-Gewinnerin Ildikó Enyedi.
© Gregor Fische / dpa

Bilanz der Berlinale: Ein solider Jahrgang

Die 67. Berlinale bot viel Altbewährtes und wenig Aufregendes. Viele Filme fanden Bilder für das Unbehagen an unserer Zeit. Eine Festival-Bilanz.

Am Ende war es ein Start-Ziel-Sieg, den „On Body and Soul“ hinlegte. Am Samstagabend zeichnete die Jury unter Regisseur Paul Verhoeven das ungarische Gesellschafts-Psychodrama von Ildikó Enyedi mit dem Goldenen Bären aus. Ein kleiner Film, in dem viele Themen zusammenkommen, die das Festival dominierten: tote Tiere als Sinnbild für die Verrohung der Gesellschaft, ungewöhnliche, widersprüchliche Frauenfiguren – und eine politische Haltung, die das Kino nicht vereinnahmt, sondern eigensinnige, komisch-verstörende Bilder für die Gemütsverfassung eines zunehmend verunsicherten Europas findet.

Eine salomonische Entscheidung in einem Wettbewerbsjahrgang, der zum Schluss hin immer weniger überzeugte. Auch deswegen ist die Überraschung umso größer, dass „On Body and Soul“, der gleich am ersten Tag lief, am Schluss nicht vergessen wurde. Seine ruhigen, spröden Bilder wirken nach. „On Body and Soul“ gehört zu der Sorte von Filmen, deren Qualitäten sich erst mit zeitlichem Abstand erschließen. Er handelt davon, wie zwei Menschen ohne emotionale Verbindung zur physischen Welt erst in ihren Träumen zueinander finden – und am Ende fast noch daran scheitern, ihre Beziehung in die Wirklichkeit zu retten.

Ein Liebesfilm, der in einem Schlachthaus spielt, könnte leicht in Klamauk oder ins übertrieben Allegorische kippen. Aber die ungarische Regisseurin trifft in ihrer Charakterstudie zwischen Vereinsamung und Lebensangst, typische Chiffren einer kapitalistischen Lebenswelt, immer den richtigen Ton. Die weibliche Hauptrolle spielt Alexandra Borbély, blass, fragil und doch mit hoher Intensität. Allein ihre Körpersprache verrät eine permanente Abwehrhaltung.

Der Goldene Bär für Ildikó Enyedi unterstreicht einmal mehr, dass die Berlinale bei aller berechtigten Kritik nichts von ihrer Relevanz eingebüßt hat. Ein kleiner Film wie „On Body and Soul“ – noch dazu von einer wenig bekannten Regisseurin – hätte in Cannes wohl kaum gewonnen. Enyedi ist übrigens die fünfte Preisträgerin in der Geschichte der Berlinale und liegt damit vor Venedig und Cannes.

„On Body and Soul“ zeichnet ein Bild der Selbstentfremdung Europas

Der Bär für die Ungarin ist vermutlich Wasser auf die Mühlen der Kritiker, die Festivalleiter Dieter Kosslick seit Jahren vorwerfen, dass die Berlinale obskures Kunst- und unausgereiftes Politkino auszeichne, aber zu wenig Stars in die Stadt locke. Dabei beweist der Film gerade, wie falsch sie mit ihrem Urteil liegen. „On Body and Soul“ zeichnet ein Bild der Selbstentfremdung Europas und speziell von Osteuropa, ohne plakativ zu werden. Ein würdiger Gewinner gerade für dieses Festival. Wobei die übrigen Bären-Kandidaten nur selten über ein solides Mittelmaß hinauskommen.

Der Silberne Bär für Georg Friedrich etwa, den Hauptdarsteller von „Helle Nächte“, kann kaum kaschieren, dass Thomas Arslans Film im Wettbewerb nichts verloren hatte. Der Preis mag als freundliches Zugeständnis an das deutsche Kino gemeint sein, das sich mit Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“ und Volker Schlöndorffs Altmänner-Fantasie „Return to Montauk“ nicht von seiner vorteilhaftesten Seite gezeigt hat. Ist der kurze Hype um das deutsche Kino, den „Toni Erdmann“ 2016 ausgelöst hat, schon wieder vorbei?

Welchen Anteil an der miserablen Repräsentation der Deutschen auf der Berlinale Dieter Kosslick hat, wird sich in den kommenden Monaten zeigen – falls tatsächlich bessere, interessantere Produktionen in den Kinos starten. Im vergangenen Jahr gingen Nicolette Krebitz’ „Wolf“, Maria Schraders Stefan Zweig-Biopic „Vor der Mörgenröte“ und eben „Toni Erdmann“an der Berlinale vorbei.

Die weiteren Silbernen Bären wurden an die anderen grundsympathischen, verdienstvollen, aber irgendwie auch wenig nachhaltigen Filmen verteilt. An Aki Kaurismäkis lakonische Flüchtlingskomödie „The Other Side of Hope“ (Regie), die fein ziselierte Beziehungsgeschichte „On the Beach at Night Alone“ von Hong Sangsoo (Hauptdarstellerin Kim Minhee), Sebastián Lelios Transgender-Melodram „Una mujer fantástica“ (Drehbuch von Lelio und Gonzalo Maza) und an die Cutterin der nervenzehrenden Psychoanalyse-Sitzung „Ana, mon amour“ von Chlin Peter Netzer.

Der Große Preis der Jury geht an den einzigen Film, der sich ästhetisch auf ungewöhnliches Terrain wagte. Der senegalesische Regisseur Alain Gomis erzählt in „Félicité“ die aus dem europäischen Autorenkino bekannte Geschichte einer jungen Frau (eine Entdeckung: Véro Tshanda Beya), die von ökonomischen Zwängen nahezu erdrückt wird. Die lineare Dramaturgie löst sich allerdings zunehmend in einem hypnotischen Bilderfluss zwischen Traum und Trauma, Realität und Halluzinationen, Musik und Mystik auf. Diese formale Konsequenz und emotionale Intensität sieht man im Kino selten.

Man muss Kosslick die Stärkung des Dokumentarfilms hoch anrechnen

Die 67. Berlinale bot viel Altbewährtes und wenig Aufregendes. Zu den überzeugendsten Beiträgen gehörten auch in diesem Jahr wieder die Dokumentarfilme, die das ganze Spektrum abdeckten. Vom Essayfilm – Raoul Peck erinnert sich an den afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin in „I am not your Negro“– über klassisches Direct Cinema in „Motherland“ über eine Geburtenklinik in Manila bis zur Langzeitbeobachtung bei der amerikanischen Independentproduktion „For Ahkeem“. Darin begleiten die Regisseure ein schwarzes Mädchen in ihrem Alltag zwischen Schulabschluss und Mutterpflichten. Mit dem erstmals vergebene Dokumentarfilmpreis wird „Ghost Hunting“ von Raed Andoni ausgezeichnet: Reale Verhörsituationen werden von ehemaligen palästinensischen Gefangenen nachinszeniert. Eine Versuchsanordnung, die auch das Wesen des Dokumentarischen reflektiert.

Die Einrichtung des neuen Preises ist nur die logische Konsequenz nach dem Goldenen Bären für Gianfranco Rosis Lampedusa-Dokumentarfilm „Seefeuer“ 2016. Gleichzeitig muss man die Stärkung des Dokumentarfilms Dieter Kosslick hoch anrechnen. Wenn „For Ahkeem“ an einem Freitagabend annähernd tausend Zuschauer in ein Multiplexkino am Alex lockt, zeigt sich, dass die Berlinale auch ohne Hollywoodstars und die (meist männlichen) Größen des Weltkinos ein genuines Interesse am Kino weckt und aufrechterhält. Nachdenklich stimmt nur, dass der Mangel an Glamour immer seltener durch filmische Qualität ausgeglichen wird, die die aktuelle Entwicklung im Arthouse- und Weltkino abbildet, den Status Quo vielleicht sogar herausfordert.

Ein bezeichnendes Sinnbild für die Berlinale fand sich in diesem Jahr am Rande des Europäischen Filmmarkts, der nur wenige hundert Meter vom Festivalzentrum am Potsdamer Platz entfernt angesiedelt ist. Ein Glaspavillon versprach die Zukunft des Kinos, hier durften sich Branchenvertreter in einem „Pop-up- Kino“ vom state of the art der Virtuellen Realität überzeugen. Aber was sagt das über die Berlinale, wenn die Zukunft des Kinos auf dem Markt verhandelt wird? Die Zukunft, könnte man schlussfolgern, gehört der Wirtschaft, während die Kunst sich an einer zunehmend verunsicherten Gegenwart abarbeitet. Man erwartet von einem Filmfestival keine Science-Fiction, aber zumindest eine Vision für das Kino.

Zuletzt zeigte insbesondere der Wettbewerb der mit Nebenreihen überfrachteten Berlinale deutliche Ermüdungserscheinungen. Nach 16 Jahren unter Dieter Kosslick, dessen Vertrag 2019 ausläuft, wird sich das wohl kaum mehr ändern. Er hat die Filmfestspiele zweifellos geprägt. Aber es wäre ärgerlich, wenn das Kino von morgen auf den anderen Festivals entdeckt würde und nicht in Berlin.

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