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Seiltanz aus Augenblicken. Die Eröffnungsszene von „On Body and Soul“.
© Berlinale

Berlinale Wettbewerb: Jeder stirbt für sich allein

Ildikó Enyedis Wettbewerbsfilm "On Body and Soul" zeichnet das liebevolle Porträt zweier verlorener Seelen.

Film ist Seiltanz, Fortbewegung überm Bodenlosen. Selten wird einem das so bewusst wie bei diesem grandiosen kleinen Stück Kino aus Ungarn, denn hier kommt noch etwas hinzu: Regisseurin Ildikó Enyedi muss nicht nur fortwährend die Balance halten dort oben, sondern es scheint, als erfinde sie auch das Seil selbst erst mit jedem Schritt, den sie weitergeht. Der Abgrund links und rechts: der Trash auf der einen, die Trivialität auf der anderen Seite. Verwegen ist das schon. Und dabei nie nach Art der Artisten, die zwischendurch einfach schneller laufen dürfen, im Gegenteil: Langsam, immer langsam!

Das ungarische Kino, das weiß man nicht erst seit Béla Tarr, ist eines der vorgetäuschten Zeitlosigkeit. So wie hier, gleich zu Beginn, ein Hirsch und seine Hirschkuh im Wald stehen, radikal entschleunigt, während es leise zu schneien beginnt. Nichts an dieser ersten Szene ist zufällig. Einen flüchtigen Augenblick lang legt das eine Rotwild seinen Kopf auf den Rücken des anderen Rotwilds. Was für eine Geste der Zärtlichkeit, vollkommen übersehbar und doch unübersehbar! Aus solchen Augenblicken knüpft Ildikó Enyedi ihr Seil.

Der Mensch ist das allermerkwürdigste Tier

Es folgt ein jäher Wechsel aus dem Wald zu einem anderen Tier, das anders als der Hirsch irgendwann den Fehler beging, sich von uns zähmen zu lassen: Kühe im Schlachthaus, ihre Blicke, der letzte Gang. Und nein, die Regisseurin dreht dennoch keinen Tierfilm, es sei denn, man dürfte auch einen Menschenfilm unter diese Rubrik fassen. „Teströl es Lélekröl“ heißt er, Leib und Seele. Ist der Mensch nicht das allermerkwürdigste Tier?

Und Maria erst! Der Schlachthof hat eine neue Fleischprüferin, seltsamer ist keine. Nicht nur, dass sie in der Mittagspause immer den Tisch wählt, an dem noch keiner sitzt. Etwas mit ihrer Lélekröl stimmt nicht. Sie zieht auch erschrocken ihre Füße zurück, wenn sie versehentlich in einem Streifen Sonne stehen. Was für ein Bild! Es ist angeschnitten, gleichsam zweigeteilt, wie so viele stille Szenen in diesem Film. Verantwortlich für solche Eindringlichkeit ist Máté Herbai hinter der Kamera.

Ja, Maria ist trotz ihrer überwältigenden Blondheit eine Schattenfrau, und dass sie das Fleisch des Schlachthofs meist als zweitklassig einstuft, bringt ihr gar keinen Sympathiebonus. Sie kann ihre Entscheidungen allerdings begründen: Die Fettschicht sei ein paar Millimeter zu dick, sie habe ihre Vorschriften.

Der Wirtschaftsdirektor des Schlachthofs betrachtet die Neue halb verärgert, halb amüsiert. Etwas an dieser jungen Frau reizt ihn, natürlich auch, dass es unmöglich ist, ihr näherzukommen. Und vielleicht wäre das nie gelungen ohne die Schlachthof-Psychologin, die die seelische Gesundheit der Mitarbeiter in dieser, nunja, Todesfabrik prüft. Das unfassbare Ergebnis: Maria und Endre träumen von Hirschen, fast gleich. Jede Nacht?

Ein mutiges Spiel mit Trash, Trivia, absurdem Witz und surrealer Dimension

Fortan kann es geschehen, dass Maria Endre in der Kantine mit vollem Teller und den Worten aufhält: „Ich habe Sie beim See gesucht!“ Das eine Rotwild das andere. Welche Erweiterung an Teströl und Lélekröl, an Leib und Seele! Die Regisseurin spielt souverän mit absurdem Witz und surrealen Dimensionen, sie bleibt vorsätzlich unterkühlt, streift mutwillig ans Trashige und ans Triviale, um ihre Geschichte doch immer wieder auf hochpräzise Weise aufzufangen.

Das gelingt nicht zuletzt, weil Endre und Maria längst zu tragischen Helden in diesem vermeintlichen Anti-Drama geworden sind. Endre, der ältere Mann (mit allen Nuancen: Géza Morcsányi), der das Kapitel „Frauen“ in seinem Leben längst abgeschlossen hatte, wird gedemütigt von seinem Interesse an diesem unmöglichen Kind. Und sie, die Verschlossene (wunderbar: Alexandra Borbély), der alles ein Rätsel ist, was sich nicht messen und berechnen lässt, versucht vergeblich an jener Küste an Land zu gehen, an der alle anderen so selbstverständlich leben. Was hören die denn, wenn sie Musik hören? Was bedeutet der Ton jenseits des Tons?

Die Musik läuft und die Kamera fixiert nichts als einen skandalös gewöhnlichen Lampenschirm. Was für eine Szene! So wenig braucht es, und man begreift alles, wovon diese junge Frau ausgeschlossen ist: von der Normalität. Eine Ertrinkende. Eine Gerettete?

11.2., 9.30 Uhr und 21.30 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 21 Uhr (Bundesplatz-Kino), 13.2., 18.30 Uhr (Haus der Berliner Festspiele), 19.2., 12.30 Uhr (Friedrichstadt-Palast)

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