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Foto von Clemens Meyer
©  Gaby Gerster/Verlag

Clemens Meyer beim Literaturfest München: Literatur, mein Kokain

Danton, Meese und Ploog: Clemens Meyer revolutioniert das Literaturfest München. Als Kurator des "Forum:Autoren" glänzt der Schriftsteller - und lädt erfrischend streitbare Gäste.

Was haben Zitate von Wilhelm Pieck und William S. Burroughs, Palmen, sieben Schauspiel-Eleven in Wildwestkostümen, ein Flugobjekt mit Frauenkopf und Krallenpropellern sowie eine Stehlampe mit Fransenschirm gemeinsam? Unter dem Titel „Danton oder Tod im Dschungelcamp“ bilden sie ein Abenteuerbiotop für den Schriftsteller Clemens Meyer und seine Gäste. Die Münchner Kammerspiele haben seit Erich Mühsam, Bertolt Brecht und Marieluise Fleißer schon so manchen revolutionären Moment erlebt, doch nun heißt es zunächst: Abwarten und Büchner-Zitate in der Wiederholungsschleife zur „Danton-Maschine“ lesen.

„Was machen wir hier überhaupt?" fragt der Gastgeber und Conférencier Meyer erst einmal und blättert scheinbar selbstvergessen in einem handtellergroßen Miniaturbuch des DDR-Verlags Dietz. Auf einem seiner Brillengläser ist eine Diamantenlupe angebracht, von der ihm alsbald schwindlig wird. „Diese neue Disziplin fällt nicht vom Himmel“, zitiert er mit Mühe aus Lenins „Die große Initiative“. Kurz darauf klettert Jürgen Ploog aus einer Loge, Deutschlands berühmtester Cut-Up-Poet und in seinen 33 Jahren als Lufthansa-Pilot immer mit der „Zeitmauer“ konfrontiert, wie er in sonorem Bayerisch erzählt. Die Zeitsprünge, denen er ausgesetzt ist, verwandelt er in eine Poesie der Versatzstücke.

Clemens Meyer: Literatur ist Kokain

Jürgen Ploog zählt zu Meyers erklärten „Legenden“, die er bis zum 27. November als Kurator des „Forum:Autoren“ beim Literaturfest München um sich versammelt und in theatralen Inszenierungen zum Erzählen bringen will. „Ich habe eine Geschichte mit Gin“, lehnt Ploog dankend einen Martini mit Schuss ab, während der Marxismus-Theoretiker Thomas Kuczynski im Lampenschein einen Aschenbecher sucht. Mit der ihm eigenen sympathischen Hybris („Ich weiß, was großartig ist!“) will Meyer über die Todessehnsucht in Büchners „Danton“ oder über Charles Bronson diskutieren, da er zudem ein profunder Filmkenner ist. Doch die Standpunkte divergieren erheblich. Burroughs-Freund Ploog verwahrt sich gegen den „Fetisch Revolution“ und zieht sich mit einem Bier in die Loge zurück; Kuczynski dagegen genießt die Saint-Just-Deklamation der Otto-Falckenberg-Schüler.

Der bayerische Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels leistet sich das Kuratorenprogramm in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus München und der Landeshauptstadt mittlerweile zum fünften Mal. Das Programm ist integraler Bestandteil des Münchener Literaturfestes, doch noch nie war der experimentelle Charakter so stark ausgeprägt wie unter dem 37 Jahre alten Clemens Meyer – und noch nie hat sich die Faszination und Begeisterung eines Kurators („Mein Kokain ist die Literatur“) derart unmittelbar auf das Publikum übertragen. Es genießt sichtlich die Invasion der Sachsen als anarchischen Frischekick.

Dabei lehnen Meyer und sein Leipziger Kompagnon Uwe-Karsten Günther, mit dem er als Kunstperson „Günther Meyer“ fungiert, das Wort „kuratieren“ als „eine Art Nutte im Kunstbetrieb“ aufs Schärfste ab. In einem ehemaligen Heizkraftwerk in der Innenstadt, das seinerzeit die NSDAP zur Beheizung ihrer Repräsentationsbauten hatte errichten lassen, hat Günther einen Zeitungsthron und den „Laden für Nichts“ gezimmert: Den Holzverschlag halten 150 Schraubzwingen mit roten Griffen zusammen, Sinnbilder des Provisorischen. Hier kann man sich an den Wänden verewigen und aufwärmen, wenn es in der 35 Meter hohen Haupthalle zu zugig wird wie bei der Eröffnung, als Clemens Meyer mit dem verehrten Schriftstellerkollegen Ulrich Peltzer über „spontane Sozialrebellen“ und peinliche Pubertätserlebnisse spricht.

Jonathan Meese reckt auf dem Literaturfest München den rechten Arm zum Hitlergruß.
Jonathan Meese kann es nicht lassen: Auf dem Literaturfest München reckte er mal wieder den rechten Arm zum Hitlergruß.
© dpa

Jonathan Meese zeigt wieder mal den Hitler-Gruß

Oder wenn es schlicht zu anstrengend wird, wie am zweiten Abend mit dem Ereiferungskünstler Jonathan Meese. Nachdem er von der Balustrade herab regungslos und unverbesserlich den Hitler-Gruß gezeigt hat, deklamiert er sich zweieinhalb Stunden lang mit der Schärfe einer „Caligula-Sense“ (Meyer) den Frust über die Bayreuther Festspielleitung und seine Entlassung von der Seele.

Man fühlt sich bei Meese wie auf einem Parteitag der KPdSU, erfährt aber immerhin, dass Kinski und Fassbinder das einzig Relevante in Deutschland seit 1945 seien, diesem Land der „Kulturbestätiger und Kulturillustratoren“. Meese zufolge gehen Tiere zu Recht nicht in die Kirche und ist Schlaf „das Grundgesetz“. „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ lautet das Motto, das sich Clemens Meyer frei nach Alexander Kluge und dem Dichter Friedrich von Logau für seinen Veranstaltungszyklus gewählt hat. Dieser verspricht, aus der Improvisation heraus ein temporäres Gesamtkunstwerk zu werden.

Katrin Hillgruber

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