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Foto von Clemens Meyer
©  Gaby Gerster/Verlag

Clemens Meyers Roman "Im Stein": Das kälteste Gewerbe der Welt

Die Zeit, die Stadt und die Prostitution: In seinem ambitionierten Roman „Im Stein“ beweist Clemens Meyer, wie kunstvoll er Stoffe arrangieren kann.

Es beginnt mit dem Gedankenstrom einer Prostituierten, die zu einem Kunden ins Hotel muss. Was sie nur widerwillig tut, sie empfängt in der Regel in einer Wohnung: „Haus- und Hotel-Besuche stehen zwar auf meiner Sedcard, Internet und Zeitung, H & H, aber gern gehe ich nicht raus aus dem Nest. Vor allem im Januar. Minus zehn. Und ich habe ihn an der Strippe. Klingt zumindest freundlich. Immer nur mit Nummer, bei der ich zurückrufen kann. Sonst könnte ja jeder kommen.“ Dann folgt eine vielstimmige Collage über die Stadt, die Dreh- und Angelpunkt von Clemens Meyers neuem Roman „Im Stein“ ist, jedoch kein einziges Mal namentlich genannt wird: Leipzig. Statt Berlin Alexanderplatz Leipzig Hauptbahnhof gewissermaßen.

Nächstes Kapitel, nächster Auftritt: ein Mann, der angeschossen auf der Straße liegt und ein Selbstgespräch führt. Ständig mischt der Mann, der „Arnie“ heißt, später meist nur „AK“, Vergangenheit und Gegenwart. Im schnellen Rhythmus wechseln seine Wahrnehmungen: das Blut, der Himmel, die Sirenen. Dann ein Krankenhausbett, vor ihm eines seiner „Mädchen“: „Ein paar Afrikannerinnen arbeiten bei dir, am Anfang waren es die Fidschis, jetzt sind es die Afrikannerinnen, aber wieso kommt ausgerechnet diese dich besuchen.“

So könnte man jedes der 22 Kapitel dieses ungewöhnlichen, fast sechshundert Seiten starken Romans abwandern. Clemens Meyer wechselt pausenlos Zeiten, Szenerien und Figuren. Ein ehemaliger Jockey, der seine Tochter verzweifelt sucht, folgt auf Arnold „Arnie“ Kraushaar, der danach wieder als ein später, den Kapitalismus von Grund auf lernender BWL-Student und als „Vermieter der Liebe“ vorgestellt wird. Dann kommt eine weitere Prostituierte, Mandy, dann ein Polizist, der nach dem Besuch bei seiner Stammprostituierten („Pass auf Dich auf Schimmi!“, verabschiedet sie ihn) zu drei in den Mooren vor der Stadt gefunden Toten gerufen wird. Und so weiter.

Das Personal: Kriminelle, Zuhälter, Boxer, Jockeys

Wer bislang kein Buch des 1977 in Halle geborenen und in Leipzig aufgewachsenen und lebenden Schriftstellers in der Hand hatte, dürfte erstaunt über den Stoff dieses Romans sein. Insbesondere über das Personal, das in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten eine Hauptrolle spielt, weil es für die meisten Autoren nur in einer ihnen völlig unbekannten Parallelwelt existiert: kleine und größere Kriminelle, Prostitutierte und Zuhälter, Boxer und Jockeys. Wer jedoch Meyers Debütroman „Als wir träumten“ aus dem Jahr 2006 kennt, mit seinen Geschichten von Hooligans, Techno-Kids, Knastbrüdern, Autoknackern und Drogensüchtigen im Leipzig der frühen neunziger Jahre; und wer auch seinen darauffolgenden Erzählungenband „Die Nacht, die Lichter“ und das sogenannte Tagebuch „Gewalten“ gelesen hat, wird womöglich stutzen und sich fragen: Kann Clemens Meyer nicht einmal eine andere Platte auflegen? Mal das Milieu wechseln? Vielleicht versuchen, sich selbst zu entkommen, dem Clemens-Meyer-Klischee. Das Meyer allerdings auch gern provozierend bedient: durch öffentliches Bier- und Schnapstrinken, mit seiner Wett- und Rennbahnleidenschaft, seinen oft zur Schau gestellten Tätowierungen. Nur: Warum sollte er die Sujets und Milieus wechseln? Entstammen beispielsweise nicht auch die Figuren Martin Walsers allesamt derselben Gesellschaftsschicht? Ist nicht jeder Wilhelm-Genazino-Erzähler ein Flaneur und Alltagsethnologe?

Die Prostituierten sind Meyers bestechendste, überzeugendste Figuren

Foto von Clemens Meyer
Experimenteller Gastgeber: Clemens Meyer, hier in seiner Heimatstadt Leipzig, heizt dem Literaturfest München ein.
©  Gaby Gerster/Verlag

Clemens Meyers Debüt trug einige autobiografische Züge. Er sei eben in der darin beschriebenen Welt aufgewachsen, hat er in Interviews erklärt. „Im Stein“ aber verdankt sich nun auch vielen Recherchen, so präzise und umfassend, wie Meyer das im Zentrum des Romans stehende Prostitutionsmilieu abbildet und beschreibt: von dessen unterschiedlichsten Arbeitsplätzen (Straße, Clubs, Wohnwagen, Container, Laufhäuser, Wohnungen) über die Gruppierungen und Organisationen, die an der Prostitution verdienen, bis hin zum 2002 verabschiedeten Prostitutionsgesetz oder gängigen Kürzeln von „FO“ für „Französisch ohne“ bis zu „GB“ für „Gesichtsbesamung“. Und es geht Meyer um mehr noch, um „das Wissen über dieses alte Geschäft, die Geschichte, die Mythen, das ist doch auch die Geschichte unserer Geschichte, unserer Jahrhunderte.“

Die Prostituierten selbst sind dabei Meyers bestechendste, überzeugendste Figuren. So, wie sie in ihren inneren Monologen das Für und Wider ihrer Tätigkeit abwägen, diese verdammen und auch schönreden, diese in jeder Einzelheit darstellen. „Fick mich, fick mich! So feuere ich die Gäste an, damit sie schneller spritzen, damit ich sie abhaken und nur noch das Geld sehen kann. Es ist dumm, wie oft man sagt, dass man sich geborgen fühlt, wie so etwas zu fühlen ist, verstehe ich nicht. Aber jetzt schon. Ein wenig.“

Meyer tappt dabei nicht in die Falle, Männerfantasien aufzusitzen, diese Arbeit gar zu romantisieren. Dafür sorgt zum Beispiel die Odyssee des einstigen Jockeys durch die Rotlichtbezirke verschiedener deutscher Städte für ein Gegengewicht, so trist, wie sich das hier alles darstellt. Oder das Kapitel, in dem eine minderjährige Zwangsprostituierte versucht, ihr Schicksal mit der Erinnerung an die „Lustigen Taschenbücher“ mit Donald und Dagobert Duck zu ertragen.

Jede Figur in diesem polyfonen Ensemble hat ihren eigenen Sprachrhythmus

Am auffälligsten und überzeugendsten ist jedoch, wie kunstvoll Meyer seinen Stoff arrangiert – und wie groß sein Sprachvermögen ist, wie souverän er über seine Sprache verfügt. Stilistisch unterscheiden sich fast alle Kapitel voneinander. Eine jede der Figuren in diesem polyfonen Ensemble hat ihren eigenen Ton und Sprachrhythmus, wobei Meyer in einigen Kapiteln in schneller, durchaus verwirrender, leseunfreundlicher Abfolge Sprecher und Perspektiven wechselt. Dazu gibt es haufenweise Zitate, Kalauer und Überblendungen aus der Literatur, zeitgenössischen Medien oder der Kultur und Alltagskultur der DDR, von Marx’ „Kapital“ über den Sci-Fi-Roman „Eden City“ bis hin zu den „Lustigen Mäuseabenteuern“ mit Fix und Fax. Und immer wieder driftet das Geschehen auch ins Fantastische, Traum-, Albtraum- und Science-Fiction-Hafte, auf dass sich Leser wie Figuren in einem Labyrinth aus (Roman-)Wirklichkeit und Fiktionen zweiter Ordnung verirren mögen.

Meyer geht es um die Darstellung von Gleichzeitigkeit. Er will in die Tiefe der Zeit genauso vordringen wie die Oberflächen der Gegenwart abtasten, von der Diskussion über einen Maria-Furtwängler-„Tatort“ bis hin zu einer Anspielung auf die Reaktorkatastrophe in Fukushima. Leipzig, „die große Stadt“, wirkt dabei nicht wie eine Stadt mit gerade einmal einer halben Million Einwohnern, eine, die in der Realität viel Beschauliches hat, sondern wie ein Metropolenmoloch, wie Los Angeles in Sachsen. Oder wie Tokio, „dieses neonbeleuchtete Metropolis am anderen Ende der Welt“, das hier genauso einmal Schauplatz ist wie Berlin, Gößnitz oder der Ruhrpott.

Manchmal klaffen in „Im Stein“ Form und Inhalt etwas auseinander. Da wünschte man sich ein paar weniger Wiederholungen, weniger der stetigen Bilder und Motive von den Engeln über die Steine, auf die man bauen kann, bis zu den Knochenbrechern. Oder dass manche Geschichte stringenter erzählt wird und nicht einfach so verläppert (wie jene Kriminalstory mit den drei Moorleichen). Clemens Meyer spielt seine Leser gewissermaßen müde, um sie doch immer wieder wachzurütteln und Ausrufezeichen zu setzen. Dies ist nicht nur ein Milieuroman! Sondern, tatsächlich, genauso ein DDR- und Wenderoman! Und ein Zeitroman, in dem es einen Anfang, ein Ende und ein Erzählen auf den Punkt nicht geben kann.

Kurzum: In seiner Ambitioniertheit, Expressivität und Fülle ist „Im Stein“ der aufregendste, außergewöhnlichste Roman in diesem Herbst.

Clemens Meyer: Im Stein. Roman. S. Fischer, Frankfurt/Main. 558 S., 22,99 €

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