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„Ich bin ein absoluter Kulturpessimist“. Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer.
© Gaby Gerster/S. Fischer Verlag

Clemens Meyer im Interview: "Prostituierte faszinieren mich"

Vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises: Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer über literarische Vorbilder, das böse Internet, Klischees und seinen neuen Roman "Im Stein".

Herr Meyer, als wir uns vor ein paar Jahren erstmals zu einem Gespräch trafen, waren Sie ziemlich verkatert.
Ja, daran kann ich mich gut erinnern. Ich kam restalkoholisiert an und hatte einen tierischen Brand. Wir haben uns in einem Bistro am Leipziger Hauptbahnhof getroffen, und dann haben Sie mich schön aufs Glatteis geführt, mit Burkhard Spinnen und Klagenfurt und dem ganzen Drumherum.

Sie meinen, weil der Klagenfurter Juryvorsitzende Burkhard Spinnen als Leiter des Literaturinstituts in Leipzig, an dem sie studiert haben, „Shit Happens“ sagte, als sie ihm erzählt haben, dass sie zu Beginn ihres Studiums eine zweiwöchige Jugendarreststrafe antreten müssten
Genau!

Aber Sie haben das autorisiert!
Ich autorisiere alles, was ich in einem Interview sage. Ich habe noch nie etwas zurückgenommen. Außerdem war das alles ja ganz lustig – damals glaubte ich, man kann während eines Studiums nicht so einfach verschwinden. Ich bin zu jedem Seminar gegangen. Erst später habe ich gemerkt, dass das gar keinen interessiert. Das ist jetzt anders, das ist jetzt alles sehr verschult, mit Bachelor und Master. Ich bin nächstes Semester dort Dozent.

Was lehren Sie?
Ich mache ein Praxisseminar über Kurzgeschichten, da arbeite ich mich mit Studenten durch ihre Geschichten. Und eins übers literarische Schreiben, das ist eher theoretisch – aber enorm wichtig: Heute liest ja keiner mehr die Autoren, die man gelesen haben muss, Uwe Johnson, Hubert Fichte oder Wolfgang Hilbig. Die jungen Autoren wildern sich ein bisschen durch die Gegenwartsliteratur, das war´s. Die schauen alle zu sehr auf den Markt.

Das ist kein gutes Zeugnis, dass Sie der Ihnen folgenden Generation ausstellen!
Mag sein. Ich will die nicht alle über einen Kamm scheren. Trotzdem: Die Klassiker werden zu wenig gelesen, das Traditionsbewusstsein stirbt aus. Ich muss wissen, wo ich herkomme als Schriftsteller, dass die Spuren schon im 19. Jahrhundert beginnen, ach was, viel früher. Ich habe die Großen alle studiert, Tolstoi, Proust, Joyce, ich war mir des ungeheuren literarischen Raums stets bewusst.

Was für Auswirkungen hatte diese Lektüre ganz konkret für ihr Schreiben?
Ich korrespondiere mit manchen Schriftstellern. Beim Schreiben führe ich Zwiegespräche mit denen: früher mit Hemingway, heute mehr mit Hilbig, Johnson, Fichte etc. Von Daniel Richter habe ich eine wunderschöne Hubert-Fichte-Radierung bekommen. Fichte ist ist immer da.

Wie hat man sich das mit dem Kommunizieren vorzustellen?
Ich spreche mit denen, am Schreibtisch. Ich lese die Bücher und finde Spuren meiner selbst darin, als wenn ich Teil eines Bandes wäre, das Schriftsteller über Jahrhunderte miteinander verbindet. Auch bei Kleist und Büchner habe ich Dinge gefunden, das ist kurios, Spuren, die zu mir führen, als wäre man mit denen verwandt, verbandelt. Das sind vor allem auch Auseinandersetzungen im stilistischen Sinn.

Es gibt ein Fichte-Zitat in Ihrem neuen Roman "Im Stein", „Ecki geht über den Naschmarkt: Der Tote Eisenbahner ist genau null Komma neun Kilometer vom Naschmarkt entfernt“, bei Fichte geht in „Die Palette“ Jäcki über den Gänsemarkt…
Ja, sowas mache ich normalerweise nicht. Das basiert auf einem Text für eine Fichte-Anthologie des Männerschwarmverlags, über „Die Palette“, mein Lieblingsbuch von Fichte. Ich habe versucht, den Sprachduktus nachzuahmen, Fichtes Buch ist ja wie ein Beat, ein Rap, ein Prosagedicht, da alles ist reiner Rhythmus.

Wann haben Sie Fichte entdeckt?
Vor ein paar Jahren erst, „Die Palette“ fand ich auf Anhieb großartig, vielleicht ein bisschen zu schwul, das Problem habe ich auch bei Genet. Aber wenn die Sprache großartig ist, ist mir die sexuelle Orientierung völlig egal.

Jede interessante Figur hat Leerstellen, Ambivalenzen, Schatten, eine Fallhöhe

Wolfgang Hilbigs Roman „Ich“ ist ein anderer wichtiger Bezugspunkt von „Im Stein“, mit den Tunneln, den Untergrundstrukturen.
Klar, Hilbigs Tunnelsysteme. Letztendlich ist das aber ein literarischer Prozess, der sich durch die Jahrhunderte zieht: von Dantes Hölle über die Romantik, ihre Märchen bis zu Karl May und Tom Sawyer. Höhlen faszinieren mich. Sie sind ein Synonym für die Gesellschaft.

In Ihrem Roman ist das ja zwangsläufig, das von ihnen porträtierte Prostitutionsmilieu wird oft mit der Unter- oder zumindest Halbwelt gleichgesetzt.
So simpel habe ich gar nicht gedacht – oder nein: noch simpler. Für mich sind das die Personen, die verschwinden, die von der Oberfläche in den Stein heruntergehen, weil die Realität unerträglich ist, weil man nur unten existieren kann, weil oben das Chaos herrscht. An sowas wie die Unterwelt als Verbrechenswelt habe ich gar nicht gedacht. Für mich ist das die Realität, die Normalität.

Trotzdem hat man bei der Lektüre schon den Eindruck einer Parallelwelt.
Die ist aber nicht so fernab unserer gesamten Realität. Das Sexgewerbe, das Gewerbe der käuflichen Liebe, wie das immer so blöd heißt, das kann man nur in Form einer Untertunnelung beschreiben. Beim Banken- oder Managementwesen ist es nicht anders. Schauen Sie sich „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz an!

Der wirkt eher hyperrealistisch.
Sicher. Ich glaube, Goetz hätte das Ganze surrealistischer anlegen sollen, noch mehr untertunneln, noch mehr brechen müssen, der ist zu nah an seinem Holtrop dran. Ich fand den Roman trotzdem klasse und wichtig! Literatur darf, nein muss manchmal auch Pamphlet sein – bloß auf 300 Seiten, ohne eine Fallhöhe, das ist schwierig. Man muss den Menschen ihre Ambivalenzen lassen.

Der Ausgangspunkt für Ihr Buch war ein Zeitungstext über einen Mann, der Wohnungen an Prostituierte vermietete und auf offener Straße angeschossen wurde?
Ja. Aber auch Prostituierte haben mich schon immer fasziniert, die Art dieser Frauen, das Singuläre an Ihnen. Mit 13 habe ich eine Talkshow gesehen, in der eine Prostituierte zu Gast war, bei Biolek war das, kurz nach der Wende, auf unserem alten Schwarzweißfernseher. In die habe ich mich sofort verliebt. Das gibt es doch gar nicht, dachte ich, die redete ganz offen in dieser Alten-Herren-Runde, nicht als Opfer, sondern enorm souverän. Ja, und dann hatte ich diesen Wohnungsvermieter, eine Shakespeare- Figur eigentlich, bei mir dieser AK, Arnold Kraushaar. Der wird angeschossen, sein Imperium wankt, er überlebt, kehrt von den Toten zurück, wird noch mächtiger. Am Ende kommt wieder jemand und rüttelt an seinem Thron, er verliebt sich in eine Transsexuelle und verschwindet.

Wie haben Sie recherchiert? Haben Sie sich mit Prostituierten getroffen?
Getroffen habe ich nie irgendjemand, gezielt Fragen gestellt, im klassischen Sinn, mit Aufnahmegerät und so. Vieles ist im Kopf entstanden. Ich habe mit vielen Frauen zusammengesessen, geredet, denen zugehört, das schon. Aber das reichte mir nicht, das war mir noch zu wenig. Ich wollte auch die mythologischen Aspekte, das große Drama. Dafür brauchte ich noch zwei, drei Hauptfiguren, so klassische Aufstiegs- und Fallgeschichten, Figuren wie den großen Gatsby. Der wird auch von allen Seiten beleuchtet, behält aber sein Restgeheimnis. Jede interessante Figur hat Leerstellen, Schatten, eine Fallhöhe.

Und wie war das mit den männlichen Figuren, woher kennen Sie die geschäftlichen Seiten des Prostitutions- und Zuhältermileu so gut?
Kein guter Journalist würde über eine tolle Geschichte sagen, wie er es gemacht hat und wer ihm was erzählt hat. Das mache ich auch nicht. Ich habe mich viele Jahre damit auseinandergesetzt, das war´s. Ich werde das hier nicht vertiefen. Ich habe eine gewisse Affinität zu diesem Milieu und einiges in Erfahrung gebracht.

Gibt es Reaktionen aus dieser Szene?
Es kommen jetzt manchmal welche und begrüßen mich. Für die ist das alles im grünen Bereich. Es gibt ja keine 1:1-Figuren in dem Buch. Alle merken schnell, dass das ein Epos mit mythologischen Zügen ist, kein erzählendes, auf harten Fakten basierendes Sachbuch. Die Realität steckt schon voller Klischees, die muss man brechen. Und irgendwo hingehen, mit Leuten reden und sich Notizen machen, das kann doch jeder Idiot.!Aber einen Roman daraus machen, die Realität wieder verlassen, darum geht es! Trotzdem braucht man ein Fundament. Und ich sage mal: So ein Buch konnte nur ich schreiben!

Ich bin absoluter Kulturpessimist. Wir sitzen auf einem sinkenden Boot.

Womit wir bei den Clemens-Meyer-Klischees wären – natürlich konnten nur Sie das schreiben, das ist schließlich ihr Milieu seit dem Debütroman „Als wir träumten“.
Ich mache mir darüber keine Gedanken. Literatur kennt keine Milieus, Literatur ist Stil und Dramaturgie. Die ganze Welt ist doch ein Rohstoff! Die wichtigere Frage ist, wie es gemacht ist. Ich will Kunst produzieren! Und jeder, der mich bei einer Lesung erlebt hat, weiß, dass dort nur meine Literatur zählt, dass ich dabei sehr ernsthaft bin. Meine Person ist nicht wichtig, sondern meine Literatur.

Trotzdem sind Sie der Mann mit den Tätowierungen, der mit der Bierflasche in der Hand seinen Leipziger Buchpreis feiert und leidenschaftlicher Galopprennsportfan ist – und der all das nicht nur mit Gewinn in seine Literatur einbringt, sondern auch für seine Vermarktung nutzt.
Es gibt Späßchen, die ich mache, auch als Antworten auf bestimmte Fragen. Aber das wird einem ja oft verleidet. Ich merke dann immer, wie klein dieser komische Literaturbetrieb ist. Jeder Furz wird da kommentiert. Meine Tattoos zeige ich kaum, auch im Sommer gehe ich immer mit langen Ärmeln auf die Straße, um die Tatroos vor der Sonne zu schützen! Und in Leipzig treibe ich mich gern in der Kunstszene herum, da überkreuzen sich sowieso alle Welten. Die meiste Ruhe habe ich bei den Galopprennen. Dort weiß zwar auch jeder, dass ich Schriftsteller bin. Trotzdem geht es nur um den reinen Sport, da bin ich quasi involviert als halber Funktionär.

Hat der Erfolg Ihres Romans nicht auch mit Ihrer Person zu tun?
Ganz klar: nein. Mein Roman ist schwierige Literatur, auch für den Leser nicht leicht. Ich habe meinen Döblin studiert, meinen Dos Passos, die anderen, die ich genannt habe, das ist meine Art von Literatur - und das erwarte ich von Literatur. Man muss sich sprachlichen Anforderungen stellen. Zum Beispiel einen Bewusstseinsstrom der Stadt zu schaffen, dafür braucht es Gespür für Rhythmus, für Komposition. Das ist Kunst, nicht bloß Unterhaltung. Die Leute wollen Gängiges, Lineares. Dafür stehe ich nicht. Ich habe mit „Im Stein“ versucht, mich an folgendes zu erinnern und daran abzuarbeiten: Was ist eigentlich moderne Kunst? Was ist Avantgarde? Wie kann man die Welt beschreiben? Das geht nur im Bruch, im Zustand des Fragmentarischen.

Das ist der Anspruch der Moderne gewesen, der Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts.
Für mich gibt es nur eine Moderne. Und die erfindet sich immer wieder neu, mit den Mitteln der Zeit. Jetzt macht sie das halt mit dem Internet, jetzt ist die Welt vernetzt und in einem unglaublichen Chaos miteinander verbunden.

Das Internet kommt bei Ihnen kaum vor.
Doch, es gibt immer wieder die Silberfäden, auch das Internetradio von einer Figur. Aber ich bin kein Netztheoretiker. Ich hasse das Internet. Das Internet wird uns alle vernichten. Die Welt wird irgendwann nicht mehr existieren, nur das Netz wird es noch geben - und ist überhaupt nicht zu greifen Bücher konnte man verbrennen, was schlimm genug war - das Internet sollte man mal verbrennen! Nur geht das ja auch nicht, es sei denn, die Energievorräte gehen zur Neige.

Das klingt kulturpessimistisch.
Ich bin absoluter Kulturpessimist. Wir sitzen auf einem sinkenden Boot. Literatur ist so was von anachronistisch. Es geht momentan gar nichts mehr, das Ende ist in Sicht. Es sei denn, wir misten gewaltig aus und sagen als Allererstes den tausenden von Menschen: Legt die Feder weg! Es reicht! Schreibt und veröffentlicht nicht jeden Scheiß! Verschont uns mit Krimis, mit der Harry-Potter-Scheiße, vermüllt uns nicht die Bestsellerlisten! Ja, ich bin Kulturpessimist, ich sehe keinen Sinn mehr in dem, was ich da mache (lacht jetzt aber und fügt an: „doch natürlich, schon...“)

Dass Sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stehen, müsste Sie aber optimistisch stimmen. Sie gelten als Favorit.
Ich gehe nicht davon aus, diesen Preis zu gewinnen, die anderen sind auch alle gut. Am meisten würde ich es Reinhard Jirgl gönnen. Mein Roman ist nicht „der beste Roman des Jahres“, die sollten sich da etwas anderes als Bezeichnung einfallen lassen, etwa „Preis für einen herausragenden Roman des Jahres“. Der Klassenbeste wollte man doch nie sein, das waren doch immer die Idioten! Ein Roman wird durch so einen Preis nicht besser.

Was kommt für Sie nach diesem Roman? Ihr Werk hat viele Facetten, denkt man an Ihre letzten Bücher „Gewalten“, eine Art Tagebuch, und den Erzählungenband „Die Nacht, die Lichter“.

„Gewalten“ war die Vorstudie zu „Im Stein“. Nach dem Erzählband musste ich eine totale Kehrtwendung vollziehen. Dieser Band war mein Konzeptalbum, seitdem habe ich nie wieder eine Kurzgeschichte geschrieben. Ein wunderbares Buch, davon musste ich aber weg. Das nächste wird wieder etwas Anderes. Ich will auch keine Moderne und keine Avantgarde mehr, das reicht mir jetzt, das nächste Buch wird eine Novelle. Die soll von einem Mann handeln, der als Komparse bei den Karl-May-Drehs in Kroatien mitgespielt hat. Dreißig Jahre später schießen sie sich an derselben Stelle tot.

Das klingt wieder recht düster.
Na, sie wissen doch: Ich bin Pessimist, Kulturpessimist (lacht jetzt wieder). Irgendwann sitzen wir alle in den Ruinen und singen Lieder und erzählen uns Geschichten, und das ist doch auch ganz schön. Geschichten erzählen, das wird nie aussterben.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels

Clemens Meyers neuer Roman „Im Stein“ steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Nominiert sind zudem Terézia Mora („Das Ungeheuer“), Marion Poschmann („Die Sonnenposition“), Reinhard Jirgl („Nichts von euch auf Erden“), Monika Zeiner („Die Ordnung der Sterne über Como“) sowie Mirko Bonné („Nie mehr Nacht“). Die Verleihung des mit 25 000 Euro dotierten Preises findet am Montag, 7. Oktober um 18 Uhr im Frankfurter Römer statt.

Gerrit Bartels

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