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Gespräch mit Alexander Kluge: „Wir sind Glückssucher“

Am Dienstag feiert Alexander Kluge 80. Geburtstag. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Filmemacher über seine neuen Bücher, Berliner Kindheitseindrücke und die Zeit mit Adorno.

Herr Kluge, Ihr erstes Buch, „Lebensläufe“, erschien vor 50 Jahren. Ihr neues mit 402 Geschichten trägt den Untertitel „Neue Lebensläufe“. Was ist ein Lebenslauf?

Normalerweise sagt man, ein Lebenslauf ist das, was man bei einer Bewerbung vorlegt. Das sind die äußeren Fakten. So schauen Menschen von außen auf die Lebensläufe anderer Menschen. Aber diese Lebensläufe schauen zurück. Und sie schauen mit den Augen all ihrer Erfahrungen und aller Lebenszeiten des jeweiligen Lebensläufers. Ein Lebenslauf hat viele Zimmer, viele Zeiten. Mein Lebenslauf enthält auch das, was die Großeltern erzählt haben. Erfahrung gelangt in Brocken, in Fragmenten an die jungen Menschen. Es gehört auch dazu, was die eigenen Kinder erleben. Vier Generationen hängen zusammen als ein Erzählraum. In dem ersten Buch, das ich 1962 geschrieben habe, ging es um Lebensläufe, die durch das Jahr 1945 zerrissen wurden. Mich hat erstaunt, wie anders Lebensläufe von 2012 sich erzählen. Heute fällt mir auf, dass auch Gegenstände und Landschaften Lebensläufe haben. Das Ruhrgebiet besteht aus acht Generationen.

In einem jetzt bei Wagenbach erschienenen autobiografischen Text berichten Sie, wie Sie als vierjähriges Kind Ihre Großeltern in Berlin besuchen und mit der U-Bahn durch die Stadt fahren. Ist das Berlin von 1936 für Sie im Berlin der Gegenwart noch präsent?
Für mich sind die Bilder von damals Gegenwart. Ich stand im letzten Waggon des Zuges und war dort als „Zugschaffner“ tätig. In der U-Bahn gibt es, wenn man hinten auf die Schienen hinaussieht, jenen schnellen Wandel von Hell und Dunkel. Diese „bewegten Bilder“: Das war mein erster Film, wenn Sie so wollen. Der Geruch ist mir unvergesslich. Die Dichte, die Berlin für mich hatte, kann man sich heute kaum vorstellen. Für dieses Provinzkind aus Halberstadt war in der Großstadt alles sehr überraschend. Das Berlin von 1936 ist für mich stärker als jeder Gegenwartseindruck. Ich verwechsle das Berlin des Jahres 2012 nicht mit dem Berlin von 1936. Ich bin ein nüchterner Mensch. Aber ich glaube, dass wir – jeder anders – eine ganze Menge von diesen Wirklichkeiten mit uns herumtragen. Verblüffend ist, dass diese Eindrücke sich untereinander vertragen. Das ist kein romantischer Irrationalismus, sondern eine Beobachtung. Diese unterschiedlichen Wirklichkeiten in uns befinden sich in einem Austauschverhältnis. Das trägt uns. Das 21. Jahrhundert ist überkomplex. Eine Masse von Objektivität stürmt auf uns ein, von Problemen und nicht bearbeiteten Konflikten. Deshalb sollte man sich so stark verankern, wie man nur kann. Deshalb beschäftigten mich jetzt auch meine Vorfahren sehr stark.

Tauchen deshalb in „Das fünfte Buch“ so viele Geschichten über Ihre Großeltern und Urgroßeltern auf?
Das ist der Grund. An diesen Geschichten ist fast nichts erfunden. Jeder von uns hat 16 Urgroßeltern. Meine sind offenkundig äußerst verschieden. Sie kommen aus unterschiedlichsten Regionen. Ein Familienzweig kommt aus Mittelengland nach Köpenick und errichtet dort eine Fabrik. Ein anderer kommt aus dem Eulengebirge, in der Nähe ist Karl May geboren, dort waren auch die Aufstände der schlesischen Weber. Dieser Urgroßvater kommt nach Berlin, meldet sich zum Landsturm, der 1848 die Revolution bekämpft, und darf zur Belohnung eine Eckkneipe in Berlin eröffnen. Ein anderer Familienzweig kommt aus Eisleben, Luther-Stadt. Aus Frankreich kommt die Tochter eines Jakobiners, sie heiratet in Deutschland. Eigentlich müssten solche unvereinbaren Gegensätze miteinander Krieg führen, aber das tun sie nicht. Ich finde es zauberhaft, dass in uns, in unseren Körpern, in unseren Kindern, solche Verschiedenheiten existieren. Sie bilden dort ein Gemeinwesen. Das ist für mich tröstlich, wenn auf der anderen Seite vom US-Verteidigungsminister erklärt wird, im April, Mai oder Juni komme es zu einem Luftangriff auf den Iran.

Sie sagen, unser Lebenslauf hätte viele Zimmer. Betreten Sie auch fremde Zimmer?
Das nennt man in der Literatur Empathie, „Einfühlung“. Der Autor versetzt sich in andere Menschen hinein. Noch immer rede ich übrigens im Geiste mit meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie lebte in Berlin, 101 Jahre ist sie geworden. Auch die Lebewesen, die die Eiszeit vor 500 Millionen Jahren überstanden haben, gehören zu unseren Vorfahren, das ist unsere Mitgift. Seitdem ist in unseren Zellen, auch in unseren geheimen, unterirdischen Gedanken, das Wissen enthalten, dass es stets einen Ausweg gibt. Wir haben „mehr Glück als Verstand“. Unsere Vorfahren, die noch keine Menschen waren, haben jene Eiszeit überstanden. So eigenartig das klingt, aber wir haben Kräfte in uns, die seit Millionen Jahren ihre Bewährungsprobe hinter sich haben. Daraus können wir Vertrauen ziehen.

Sind wir ohne Vertrauen überlebensfähig?
Das glaube ich nicht. Wir Menschen sind genetisch so eingerichtet, dass wir Vertrauen haben müssen. Wenn wir keinen Grund haben, Vertrauen zu entwickeln, erfinden wir diesen Grund. Wenn die Mutter mich als Kind nicht anlächelt, werde ich mir dieses Lächeln, das ich brauche, imaginieren. Wenn das nichts nutzt, werde ich veröden. Das ist nicht sentimental. Gefühle sind Unterscheidungsvermögen. Unterscheidungsvermögen ist etwas Präzises, wie die Unterscheidung zwischen heiß und kalt, zwischen „Ich liebe dich“ und „Ich töte dich“.

Für Niklas Luhmann ist eine Biografie, eine „Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle“. Erfinden wir unser Leben?
Luhmann ist ein unglaublich kluger Mann, ein absolut exakter Beobachter. Es stimmt, äußerlich besteht eine Biografie aus einer Sammlung von Zufällen. Entscheidend ist, wie ich innerlich auf das Angebot dieser Zufälle antworte. Wir sind Glückssucher. Obwohl wir das Glück nicht immer finden, werden wir es uns nicht ausreden lassen, es zu suchen. Man kann Leben nicht planen. Kleist hat sich in einer Lebenskrise gequält, sich einen Lebensplan zu verordnen. Der Lebensplan hat ihn später zerrissen. Wenn ich mich verliebe, trifft mich etwas. Das ereignet sich, ohne dass ich einen allmächtigen Willen dagegen setzen könnte. Das bedeutet das Wort Zufall. Aber ich kann wach sein, aufmerksam, in meiner Antwort auf das, was mich trifft. Oder ich kann mich verhalten, wie ein unaufmerksamer Kapitän, der sein Kreuzfahrtschiff in Schräglage bringt. Wenn Menschen in der Begegnung mit Zufällen unaufmerksam sind, bringen sie ihr Leben in solche gefährliche Schieflagen.

Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch, wie Sie als junger Jurist zwischen verschiedenen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten schwanken. Nur durch Zufall landen Sie in Frankfurt am Main. Dort begegnen Sie Adorno. Sie werden vom Juristen zum Filmregisseur und Schriftsteller. War dieser Zufall der Ortswahl entscheidend für Ihre Biografie?
Das war er tatsächlich. Die Entscheidung, nach Frankfurt zu gehen, fiel an einem einzigen Nachmittag. In Frankfurt kam ich dann in Kontakt mit der Kritischen Theorie. Die Alternative wäre gewesen, als Referendar zum Landratsamt in den Rheingau zu gehen, eine politisch sehr konservative Gegend. Auch das hat mich damals angezogen. Wenn man solche Entscheidungen untersucht, sehen sie aus wie ein Zufall. Aber etwas in einem hat sich genau darauf vorbereitet. Es gibt immer neben der Realität den Konjunktiv, die Möglichkeitsform, ganz dicht neben dem Realen. Es gibt Heterotopien, die Wand an Wand mit der Wirklichkeit permanent existieren.

Sie waren sehr jung, als Sie Adorno kennenlernten. Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung?
In der Antrittsvorlesung eines Altphilologen sitzt er vor mir. Ich fragte, sind Sie Adorno? Da hat er gesagt, ja. Wir haben uns auf einen Tee am nächsten Tag verabredet. Wirklich zusammen gearbeitet haben wir etwas später, ich war dann Jurist am Institut für Sozialforschung. Eigentlich haben sich unsere Augen ineinander verguckt. Das Verblüffende sind Adornos große, dunkle Augen, die sehr ruhig schauen. Wenn er einen Vortrag hält, bleiben die Hände absolut ruhig, das Auge ruhig fixiert, so als spräche er, wenn Sie so wollen, aus einer geordneten Welt. Er hält nichts von Ordnungsmächten. Er fragmentiert in seiner Wahrnehmung alles. Aber er bleibt dabei ruhig, so wie in der Mitte eines Sturms sich der Ort befindet, an dem Ruhe herrscht.

Haben Sie mit ihm über Ihre literarischen Pläne gesprochen?
Adorno hielt nicht sehr viel davon, dass man in unserer Zeit Geschichten schreibt. Er war der Meinung, Proust hat eigentlich die wesentlichen Dinge in der Literatur abgeschlossen. Ein tüchtiger Jurist soll nicht seine Zeit damit verschwenden, sich als Poet zu versuchen. Solche Vorhaben hätte er ironisiert.

War Adorno für Sie ein anderer Vater, ein älterer Freund?
Das ist ein anderes Vokabular. Er ist eine Vertrauensperson für mich, bis heute. Wo immer ich bin, kann ich mir Gedankengänge von Adorno vergegenwärtigen. Weil ich mich nicht so ausdrücke wie er, klingt eine Geschichte, die ich in seinem Geiste schreibe, nicht wie ein Adorno-Text. Es ist mein Text, in dem er anwesend ist, wie er in meinem Leben anwesend ist. Aber die Gravitation kommt aus seiner Zuverlässigkeit.

Ihr Buch enthält eine gut erfundene Geschichte von einem Abendessen Adornos mit Luhmann. Adorno bittet Luhmann um Rat, er hat Liebeskummer. Kritische Theorie und Systemtheorie, die großen Antipoden der bundesrepublikanischen Gesellschaftstheorie. Weshalb setzen Sie, sehr ironisch, die beiden in ein Restaurant?
Nichts davon ist erfunden. Während 1968 die Protestbewegung in Frankfurt tobt, vertritt Luhmann Adornos Lehrstuhl für ein Semester. Thema seines Seminars: „Liebe als Passion“. Üblicherweise wird der Lehrstuhlvertreter von dem Mann, den er vertritt, zum Essen eingeladen. Dabei kommt es, da Adorno persönliche Sorgen hat, zu diesem Gespräch. Die Frage nach den Schwierigkeiten in einem Liebesverhältnis ist eine gute Wurzel für eine philosophische Auseinandersetzung. Philosophie ist nichts Abstraktes. Sie geht um mit dem, was für mein Leben relevant ist. Das ist so in „Liebe als Passion“ von Luhmann und in Adornos „Minima Moralia“. Die Theorie, unser Denken, ist verankert in den Emotionen. Ratio ist verdichtete Emotion. Die Führer so gegnerischer Fraktionen des Geistes, sind einen Moment miteinander verbunden. Das gefällt mir.

Sie feiern Ihren 80. Geburtstag. Ihre Großmutter wurde 101 Jahre alt. Wie schauen Sie auf die nächsten 20 Jahre?
Das sind Jahre, die für uns alle nicht ohne Rätsel, nicht ohne Gefährdungen sind. Aber können wir diese Frage nicht auslassen? Ich stilisiere diesen Geburtstag ja nicht. Ich bin ein arbeitender Mensch.

Das Gespräch führte Peter Laudenbach.

Alexander Kluge, geboren am 14. 2. 1932, gehört zu den eigenwilligsten und produktivsten Künstlern in Deutschland. Seit den sechziger Jahren ist er ein radikaler Autorenfilmer („Abschied von gestern“) und seit den achtziger Jahren auch ein unabhängiger TV-Produzent. Für sein literarisches Werk („Lebensläufe") erhielt er unter anderem 2003 den Georg-Büchner-Preis. Zuletzt sind von ihm erschienen: „Das fünfte Buch“, Suhrkamp Verlag, 564 S., 34,95 €. Sowie „Personen und Reden“ im Wagenbach Verlag, 142 S., 15,90 €.

Peter Laudenbach

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