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Abriss-Kandidat Nummer Eins: das Alexa. Davor zwei der Atlas-Herausgeber Jeanette Kunsmann und Stephan Burkhoff.
© Georg Moritz

Abriss-Atlas Berlin: Ist das Architektur oder kann das weg?

Der Berliner „Abriss-Atlas“ empfiehlt die hässlichsten Gebäude der Stadt zur Entsorgung. Das Alexa zum Beispiel, oder das Aufbau-Haus. Ein radikales, subjektives Buch, eine Anweisung zur leidenschaftlichen Debatte. Ein Stadtspaziergang mit den Herausgebern.

Treffen an der Weltzeituhr, wo sonst? Sie ist ziemlich zugebaut, denn gerade beginnt die Weihnachtsmarkthölle. Warum räumt eigentlich nicht mal jemand diese Märkte ab? In das Buch, das Stephan Burkoff und Jeannette Kunsmann mitherausgegeben haben, würden die Buden jedenfalls gut passen. „Abriss-Atlas“ heißt es, die Idee ist simpel: Zehn Autoren küren in knappen, pointierten Texten Berliner Gebäude, die ihrer Meinung nach unbedingt weg müssen. Radikal subjektiv. Meist sind es Neubauten, aber nicht nur. Auch die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz oder das Finanzamt Kreuzberg gehören dazu, sogar das Brandenburger Tor.

Die beiden Jungherausgeber stellen vor Ort den ersten Kandidaten vor. Klar, das Alexa. Allein wie sich hier ein elend langer Riegel auf einer Fläche breitmacht, auf die 20 Häuser gepasst hätten. Wie sich der fleischfarbene Wurm abschottet gegen die Stadt, wie er im Erdgeschoss Läden vortäuscht, mit toten Schaufenstern! Burkoff sagt: „Das Alexa ist ein Symptom, für Investorenarchitektur, bei der sich jede Gestaltung dem Anspruch nach Effizienz und maximaler Flächenausnutzung unterordnen muss“. Immerhin, schreibt er im „Abriss-Atlas“, kann man dem Alexa keine mangelnde Integration in seine Umgebung vorwerfen – weil die an Hässlichkeit eh nicht zu überbieten ist: „Wäre der Alexanderplatz eine kalte Platte, wäre das Alexa die Dose Corned Beef.“

Die Autoren gehen nicht gerade zimperlich mit ihren Objekten um. „Der Potsdamer Platz ist zum Heulen, fühlt man sich hier doch in der Themenecke ,Die Großstadt‘ einer Modelleisenbahn-Anlage“, schreibt Tassilo Letzel. Kristina Herresthal fällt auf, dass die „Mall of Berlin“ irritierend ähnlich heißt wie die „Wall of Berlin“, die an der gleichen Stelle stand. „Daher gilt das gleiche Motto wie 1989.“

"Wir sind keine Geschmackspolizei".

Mit den Abrissforderungen wollen die Autoren eine Debatte auslösen und die Menschen wieder interessieren für ihre gebaute Umwelt. Aber: „Eine Geschmackspolizei wollen wir nicht sein“, sagt Jeanette Kunsmann. Einiges findet sie durchaus gelungen in Berlin: die Neue Nationalgalerie natürlich, die Schwangere Auster, das Galeriegebäude von Arno Brandlhuber in der Brunnenstraße. Die 31-Jährige hat an der TU Architektur studiert, ist Mitbegründerin von Flußbad Berlin e.V. und arbeitet als Chefredakteurin für das Online-Magazin „Baunetz“. Auch Stephan Burkoff ist Journalist, er schreibt über Architektur und Design, der „Abriss-Atlas“ ist das erste Buch seines Verlags Designpress. Künftig wollen die beiden Monografien publizieren, in denen Architektur anders präsentiert wird. Weg von der Selbstbeweihräucherung einzelner Bauträger, die hauptsächlich der Vermarktung dient, hin zu einer lebendigen Mischung aus Fotos und kurzen, literarischen Texten. Der Verlag hat sich gerade umbenannt in „Mitte/Rand“ – „weil wir uns mit den Dingen beschäftigen, die dazwischenliegen“, wie Burkoff erklärt.

Die Inspiration zum Atlas kam den beiden erst vor zwei Monaten. Eine Blitzidee. Weil sie zufällig hörten, dass es in Berlin mal einen „Brachflächenatlas“ gab – lange her, die meisten Flächen sind zugebaut. Aber die Idee der Brache hat sie nicht mehr losgelassen. Brachen sind das, was Berlin noch nach dem Mauerfall definierte: offene, dem Markt entzogene Gebilde, Spielwiesen. „Mittels Brachen träumt die Stadt“, schreibt Mitherausgeber Stephan Becker nun im „Abriss-Atlas“ – klingt fast nach Walter Benjamin. Da eine Brache ihrem Wesen nach temporär ist, muss sich die Stadt immer wieder neue Brachen schaffen. Also: Abrissbirne!

Der Kaufhof am Alex, eine "Hölle aus Naturstein"

Wir gehen rüber zum Kaufhof am Alex, auch er steht im Atlas. Autor Norman Kietzmann kann sich nicht anfreunden mit der „Hölle aus Naturstein“, die aussieht, als hätte Hitler doch den Krieg gewonnen. Kann man Umbauarchitekt Josef Paul Kleihues nicht zugute halten, dass er versucht hat, Einheitlichkeit mit den benachbarten Behrens-Bauten herzustellen? „Wir sind nicht immer der Meinung unserer Autoren“, sagt Burkoff. Er selbst zieht den Kaufhof dem Alexa vor. Aber genau darum geht es ja: leidenschaftliches Reden über Architektur zu provozieren.

Bei vielen „Atlas“-Kandidaten will man sich spontan schützend vor die Abrissbirne werfen. Die Wohnhäuser von Hinrich Baller etwa mögen aussehen wie „Gaudi auf Acid“ – na und? Immerhin geht hier jemand kreativ mit Beton um, das ist selten genug. Bei anderen stimmt man herzhaft zu: die Verdi-Zentrale am Spreeufer etwa (wie visionär konnten Gewerkschaften früher bauen!), das Aufbau-Haus am Moritzplatz (das zwar den Blockrand schließt, aber die Kreativszene in eine Art Luftschutzbunker verbannt). Oder das Spreedreieck: eine geisttötende Rasterfassade, die an der Friedrichstraße dräut wie ein bohrender Kopfschmerz, in seiner Hässlichkeit zu groß und doch in seinen Proportionen zu klein geraten ist.

Kann man dem Unheil der Investorenarchitektur etwas entgegensetzen? Stephan Burkoff findet viel Positives in früheren Epochen. Verantwortungsbewusstsein, regionale Identität, Verbundenheit zum Ort, der Wunsch, der Nachwelt etwas Dauerndes zu hinterlassen: Die Werte prägten das Bauen einmal – auch in Berlin. Beispiel: Deutscher Werkbund. Der ließt sich zwar später mit dem Nationalsozialismus ein, aber in den 20er Jahren gingen seine Mitglieder in die Schulen, klärten auf über Form und Design, über gutes und günstiges Material. „Der gebildete Konsument, meint Burkoff, sei immer noch der Einzige, der den Kapitalismus zähmen könne.

Inzwischen sind wir am Fuß des Fernsehturms angelangt. Hier war mal die Altstadt, gewöhnlich in Städten der beliebteste Treffpunkt. In Berlin: eine halbherzig genutzte Freifläche mit Planschbrunnen und hoher Kriminalitätsrate. Eine Ödnis, für die nicht der Krieg sorgte, sondern die Stadtplanung der Nachkriegszeit. Kann man in einer disparaten urbanen Landschaft, deren einzige architektonische Konstante im Grunde der Abriss ist, wirklich noch den Abriss predigen? Sollte Berlin nicht erst mal zur Ruhe kommen, das Bestehende um- und weiterbauen, ein bauliches Gewebe, ein Rückgrat ausbilden? Und so laufen wir weiter, reden über Materialität und Feingliedrigkeit von Fassaden, über Architektur als Wunden-Heiler. Nicht die schlechteste Wirkung, die ein Buch haben kann.

Stephan Becker, Stephan Burkoff, Jeanette Kunsmann: Abriss-Atlas Berlin, Verlag Designpress, Berlin 2014, 24,90 €

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