Kultur: Architektur: Der weite Weg ins Paradies
Seit Jahrzehnten zaubert Hinrich Baller kleine architektonische Sahnehäubchen zwischen die großen grauen Kästen der dunklen Stadt. Man erkennt seine Handschrift schon von weitem: an den schlanken weißen Betonstützen und den gläsernen Fassaden, an den schwingenden Balkonen, an den lindgrün gestrichenen Metallbrüstungen.
Seit Jahrzehnten zaubert Hinrich Baller kleine architektonische Sahnehäubchen zwischen die großen grauen Kästen der dunklen Stadt. Man erkennt seine Handschrift schon von weitem: an den schlanken weißen Betonstützen und den gläsernen Fassaden, an den schwingenden Balkonen, an den lindgrün gestrichenen Metallbrüstungen. Wenn man auf Ballers Häuser schaut, dann meint man, ein leises Klingeln zu hören, ein sanftes Singen und Tönen und dann, ja, dann beginnt seine Architektur manchmal regelrecht zu tanzen. Sie schwebt empor und gleitet nieder, sie schlängelt sich umher und öffnet Einblicke.
Wie staunte man, als dieser Erbe des Expressionismus einst seine ersten Häuser in Berlin verwirklichte! Begeistert stand man vor dem Wohn- und Geschäftshaus in der Lietzenburger Straße 86, das 1977/78 entstand. Da war ein Architekturbüro am Werk, das es auf spielerische Art verstand, Ornament und Moderne miteinander zu versöhnen, ohne dass es deshalb seiner Architektur an Klarheit gebrach. Und dann war da noch die legendäre Turnhalle in der Charlottenburger Schlossstraße (1988) mit ihrem herrlich weit gespannten Holzdach, das zu einer Zeit entstand, als die meisten Architekten noch so absurd wenig Holz verwendeten, als meinten sie, damit das Waldsterben abwenden zu müssen.
Natürlich war Baller nie unumstritten. Und er war auch für eine unendliche Geschichte gut, wie die Turnhalle am Winterfeldtplatz beweist. Während die frühen Bauten noch mit seiner ersten Frau Inken entstanden, so baut Hinrich Baller heute mit seiner zweiten Frau Doris. Zum Beispiel das "Castello" zwischen Judith-Auer- und Otto-Marquardt-Straße an der Landsberger Allee in Lichtenberg.
Das ist ein lustiges Kastell, das sich nicht für die Verteidigung eignet - im Gegenteil. Das Haus will erobert werden. Denn das "Castello" ist ein Einkaufszentrum. Doch damit das mit dem Kastell auch ein bisschen stimmt, hat das "Castello" an seinen Ecken jeweils eine Art Turm - eher eine Turmattrappe, die sich mit lindgrünem Metallgestänge in den Himmel über Berlin reckt. Und während man unten im Haus einkaufen kann, wächst darüber eine heimelig verwunschene Wohnlandschaft empor. Sie umschließt zwei Dachhöfe, die in Wirklichkeit zwei Zaubergärten sind, in denen es üppig wuchert und tröpfelt. Wie Kristallpilze wachsen die großen und kleinen Glashäuschen und -hauben, die das Einkaufscenter darunter mit reichlich natürlichem Licht versorgen, aus dem moosigen Grund. Dazwischen mäandert ein verschlungenes Wegesystem.
Doch es verschlägt einem schlicht den Atem, wenn man versucht, einen Überblick über die Baumaterialien zu erlangen, die an den Fassaden des "Castello" Verwendung fanden. Da finden sich weiße Betonpfeiler, strukturierte Ziegelflächen, graue Zementfaserplatten als Wandverkleidung, Fensterrahmen in türkis, dunkelbraune Holzvorlagen an den Schaufenstern, lindgrüne, filigran geschwungene Balkonbrüstungen mit großen (Zauber?)-Kugeln, blau gestrichene Wandbereiche, tonnenförmig gebogene Aluminiumverblechungen über den lichten Dachwohnungen, helle hölzerne Verkleidungen der Stürze und zudem viel, viel Glas. Nicht zu vergessen die geschweiften Regenrinnen, die meterweit aus der Fassade hervorspringen und in einer Art zeitgenössischer Interpretation der gotischen Kathedralwasserspeier das Bachsystem der beiden Dachhöfe speisen.
Hängende Gärten
Links und rechts vom "Castello" stehen derweil die großen Kuben der DDR-Plattenbauten und lächeln mit stoischer Ruhe auf diesen Wildfang herab, der sich da zwischen ihnen eingenistet hat. Auch mit dem "Castello" versuchen die Ballers den Maßstab ihrer Bauten auf ein menschliches Maß zu bringen. Ihre Architektur will bewohnbare Oasen schaffen, deren Formenvielfalt das Auge anregt. Die Bauten werden umwuchert von üppigem Grün, das zugleich für ein günstiges Mikroklima sorgen soll. Mit seinem Traum von den hängenden Gärten der Semiramis sieht sich Hinrich Baller ganz in der expressionistischen Tradition eines Hans Poelzig. Doch es ist fraglich, ob die angestrebte Kleinmaßstäblichkeit wirklich nur durch eine derart erschlagende Materialvielfalt zu erzielen ist. Während das "Castello" eine ganz große Bauaufgabe war, ist das Wohn- und Geschäftshaus in der Krausnickstraße eine eher kleine. Und doch ähneln sich beide Bauten: Auch in Berlin-Mitte nehmen die Geschäftsräume die Wohnungen huckepack, die sich um einen offenen Innenhof gruppieren. Verglaste Wintergärten schirmen den Hof von der Straße ab. Die Krausnickstraße bietet letztlich ein Konzept für gemeinschaftliches Wohnen. Grenzen sind hier schwer zu ziehen. Die Grundrisse fließen ineinander, ebenso wie innen und außen durch die großen französischen Fenster miteinander verschmelzen. Es entsteht nicht nur ein Mikroklima, es entsteht ein Mikrokosmos, eine unkonventionelle Gegenwelt, die man in ihrer Kleinteiligkeit mögen muss, um sie als Bereicherung zu empfinden.
Weitaus staatsmännischer müssen sich die Ballers dagegen am Preußenpark präsentieren, wo sie an der Württembergischen Straße Wohnbauten für Bundesbedienstete errichtet haben. Zwischen den beiden L-förmigen Baukörpern öffnet sich ein Durchgang zum großzügigen Innenhof. Leicht und luftig gebärdet sich auch hier die Architektur, sie bereichert und belebt das oft allzu monotone Stadtbild und kämpft doch zugleich einen donquichottesk anmutenden Kampf gegen den rechten Winkel. Waren die Grundrisse bei den großen Vorläufern der organischen Baukunst, bei Hugo Häring oder gar bei Hans Scharoun trotz ihrer Kanten und Kurven stets konsequent entwickelt, so erschließt sich diese Zwangsläufigkeit bei den neuen Projekten der Ballers nicht unbedingt. Etwa, wenn die großzügig verglasten Treppenhäuser als raumgreifende Skulpturen ausgeführt sind, doch die eigentliche Betontreppe nur schmal daher kommt und von einer Maschendrahtbrüstung eingefasst wird.
Die große Menge an einfallsloser Architektur, die in den letzten Jahren in Berlin entstanden ist, gibt den Visionen der Ballers dennoch Recht. Sie versuchen, die Stadt zumindest an einigen wenigen Orten zu verzaubern. Langweilige Architektur gibt es schließlich genug. Doch je mehr die Dekorationen ihrer Häuser aus dem Ruder laufen, ihre verspielte Nebenwelt zur beliebigen Masche zu werden droht, desto unklarer werden die Qualitäten, die ihre Projekte im Kern besitzen.
Jürgen Tietz
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