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Glückwunsch! Die Komische Oper wird 70, Barrie Kosky lädt zum Musical.
© P.Zinken/dpa

Barrie Kosky im Interview: „Ich bin durch Zufall Intendant“

Vor der „Anatevka“-Premiere: Intendant Barrie Kosky über die Geister der Komischen Oper, Berlins Reichtum und seine berufliche Zukunft.

70 Jahre alt wird die Komische Oper Berlin – und so jung. Am Sonntag hat das Musical „Anatevka“ Premiere, in einer Inszenierung von Barrie Kosky, der das Haus seit 2012 mit großem Erfolg leitet. Das Gespräch mit dem 1967 in Melbourne geborenen Intendanten fand unter acht Augen in seinem Büro in der „Komischen“ statt: Mit von der Partie war Koskys neuer Hund Sammy, ein bildhübscher rothaariger Mischling in der Pubertät, der auf seine Weise auf sich aufmerksam machte.

Mister Kosky, das Spektrum Ihrer Inszenierungen ist gewaltig. Nach den „Meistersingern“ in Bayreuth machen Sie nun „Anatevka“ an der Komischen Oper. Antisemitismus und Schtetl …
Sie wissen ja, in der Oper wird langfristig geplant, und da gibt es solche Zufälle. In beiden Fällen geht es im Grunde um die Frage von Tradition. Wie verhält sich das Individuum in einer Community? Die „Meistersinger“ sind eine narzisstische Party deutscher Kultur – „Heil Wagner!“ Bei „Anatevka“ ist es das Gegenteil: Da haben wir eine Exilgeschichte.

Musiktheater als Heimatsuche?
Die „Meistersinger“ funktionieren als Utopie deutscher Kultur und Heimat, all das wird bei Richard Wagner ins Mittelalter projiziert. Das Heikle bei „Anatevka“ von Jerry Bock und Joseph Stein ist die Sehnsucht nach früher. Das jüdische Leben im Schtetl war hart, ich habe es einmal als kulturelles Gefängnis bezeichnet. In der Never-ending-Story des jüdischen Exils ist das Schtetl nur eine Station.

Was haben Sie als Nachfahre von osteuropäischen Schtetl-Juden denn in Ihrer Familie davon mitbekommen?
In Amerika oder Australien bist du viele tausend Kilometer von dieser Welt entfernt, dabei entsteht eben Nostalgie. Die Wahrheit sah anders aus. Es war keine freie Entscheidung der Juden, in einem Schtetl zu wohnen, es war kein Ghetto, aber gewiss auch kein Kibbuz. Mein Urgroßvater war Hausmeister in einer Schtetl-Synagoge. Da gab es viel Armut und immer die Angst vor Pogromen, dass man von den Russen, den Polen, von wem auch immer angegriffen wird. Meine Familie war froh, als sie da raus war.

„Anatevka“ erfüllte in der Bundesrepublik ein kitschiges Klischee. Die Darstellung des traurigen, zugleich lebensfrohen Juden hatte für das deutsche Publikum eine entlastende Funktion nach dem Holocaust.
Ähnlich war es mit den Bildern von Marc Chagall vom jüdischen Leben. Ich kenne viele Juden, die „Anatevka“ („Fiddler on the Roof“) hassen. Bei der Uraufführung 1964 in New York durch Jerome Robbins gab es viel Kritik an der Verklärung. Man solle doch lieber Scholem Alejchem oder Isaac B. Singer lesen, dann würde man wissen, wie es im Schtetl wirklich aussah. In der jüdischen Kultur gibt es drei geschlossene Communities: Ghetto, Schtetl, Kibbuz. Auf diesen Biotopen gedeiht jüdische Erfahrung. Aber bei aller Härte gab es im Schtetl natürlich tatsächlich auch Humor, Leidenschaft und Gemeinschaftsgefühl. Das muss eine Inszenierung schon zeigen.

Was erzählt uns „Anatevka“ heute?
Ich liebe dieses Musical seit meiner Kindheit. Später wurde mir klar, dass es, wie die „West Side Story“, ein ernstes Thema mit Entertainment verbindet. Es gibt nicht viele solcher Stücke. „Anatevka“ wird überall auf der Welt gespielt, in Japan, in Indien, in Afrika, in Südamerika. Das hat mit den Juden nichts zu tun. Das Musical beschäftigt sich mit grundsätzlichen Fragen. Was bedeutet es und wie fühlt es sich an, nicht in seiner Heimat zu leben, vertrieben zu sein? Wie flexibel soll unser Verhältnis zur Tradition sein? Und dann wird die Geschichte von einem Mann und seinen fünf Töchtern erzählt. Egal, ob das Katholiken, Juden, Hindi oder Muslime sind. Es geht um Archetypen in einem Mikrokosmos. Jemand ist verliebt, jemand will seine Familie verlassen. Sechs Millionen ermordete Juden, eine Million Flüchtlinge – der Mensch wird so schnell zur Nummer. Wir vergessen leicht das individuelle Schicksal.

Sie verstehen „Anatevka“ auch als Stück über die Flüchtlinge heute und hier?
Es ist auf seine Weise viel stärker, als wenn man in einem pädagogisch-dokumentarisch-politischen Stück direkt an das Thema herangeht. Sollen die Leute nur denken, es sei ein etwas staubiges Broadway-Musical. Sie werden schon sehen.

In Ihrer neuen Inszenierung von Debussys „Pelléas et Mélisande“ zeigen Sie eine hermetische, gewaltbestimmte Männerwelt. Man kann gar nicht anders, als an die Harvey Weinsteins und ihre Opfer zu denken. Sie sehen Stücke immer im Licht von heute. Macht das die Komische Oper aus?
Auf eine Art ist die ganze Operngeschichte eine Serie von Frauenfeindlichkeit. Frauen müssen leiden, verrückt werden oder sterben. Wenn eine Inszenierung gelingt, ist es immer eine Mischung aus Glück und Zeitgeist. Die Themen sind da. Das ist der Grund, warum wir Kunst machen. Entweder kommst du von der Straße ins Theater und siehst, wie das Draußen und das Drinnen zusammenhängen, oder du tauchst drei Stunden in eine Traumwelt ein und vergisst alles.

Theater als bürgerliche Ablenkung?
Ich bin froh, ein Haus zu leiten, an dem beides möglich ist. Ich kann nicht immer nur schwere Sachen machen, ich muss mich auch unterhalten. Nur Wagner, Puccini, Strauss, das würde ich nicht ertragen. Schon bei den antiken Griechen gab es die Tragödie, und es gab die Satyrspiele und Komödien. Man kann das nicht voneinander trennen. Mozarts „Don Giovanni“ heißt im Untertitel „dramma giocoso“ – ein lustiges Drama!

Das sieht man in Deutschland oft anders.
Ich bin aufgewachsen mit Pop und Film, Pina Bausch, Fernsehen, Kino, Tadeusz Kantor, große Oper, Comedy, whatever. Meine Eltern haben mich überallhin mitgenommen, auch schon früh in die Komische Oper. Das war in der DDR-Zeit, der kleine Barrie von vielleicht zwölf Jahren sah eine „Zauberflöte“. Es war halb leer, ein eiskalter Winter, und es roch komisch. Wenn man jung ist, saugt man wie ein Schwamm alles auf. Und Berlin erlebt jetzt, wie ich diesen Schwamm ausdrücke. Ich denke nicht über Vielfalt und Diversity nach, das ist kein Marketingkonzept. Ich bin es durch meine persönliche Geschichte.

Wann ist das alles so scharf getrennt worden, das Ernste und das Heitere?
Das entstand im 19. Jahrhundert. Es hat mit dem aufkommenden Nationalismus zu tun und mit dem erstarkenden Bürgertum. In den 1920er Jahren gab es zumal in Berlin eine Gegenbewegung. Operette, Musical, der Film, der Jazz: Die Kunst war offen für populäre Einflüsse. Ich frage mich immer, was aus der deutschen Kultur geworden wäre, wären die Nazis nicht gekommen. Weill, Zemlinsky, Schreker, Korngold – wenn all diese Komponisten in Berlin weitergearbeitet hätten? Operette und Musical ist seit den Zeiten von Jacques Offenbach in Paris immer eine Form des jüdischen Exils gewesen, das gilt auch für Leonard Bernstein und den Broadway und das Musical. Das sind Kunstformen der Diaspora.

Ist die Komische Oper deshalb so erfolgreich, weil Sie diese Tradition begreifen? Kann man in Berlin also nur reüssieren, wenn man der Geschichte Rechnung trägt, siehe den Streit um die Volksbühne?
In Berlin spürst du die Vergangenheit überall, sie ist lebendig, Max Reinhardt, Erwin Piscator und Bertolt Brecht sind präsent. Skandale und Probleme hin oder her, wir haben in Berlin einen unglaublichen kulturellen Reichtum, was für ein Privileg! Es ist the Glory of the staatliche Kulturfinanzierung in Deutschland! Den Enthusiasmus der Zuschauer in dieser Stadt nicht zu vergessen. Sie sind stolz, loyal und neugierig.

Barrie Kosky, Sie sind verliebt in Berlin?
Klinge ich wie die Tourismuszentrale? Keine Sorge, die zahlen mir nichts. Ich diene der DNA dieses Hauses. Walter Felsenstein hat nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 das alles hier begründet. Wir sind das einzige Opernhaus der Welt, das von einem Künstler mit einer spezifischen Vision aufgebaut wurde. Und ich glaube an die Geister im Theater. Die machen sich bemerkbar in einer Stadt wie Berlin. In Paris oder New York hat man das nicht. Und wenn einer kommt und sagt, ich mache alles neu, klappt das selten. Man kann es anders machen als die Vorgänger, wenn man dem Spirit treu bleibt. Ein Haus hat eine Seele, das gilt besonders für die Komische Oper. Ich spüre Fritzi Massary und Richard Tauber, ich spüre Kálmán und Felsenstein in diesen Wänden. Es ist hier ein bisschen schäbig, aber ich will kein sauberes Schickimicki-Theater.

So wie die restaurierte Staatsoper?
Die Komische Oper Berlin ist nicht die Staatsoper Unter den Linden, sie ist auch nicht die Bayerische Staatsoper. Auch diese Häuser sind ihrer Tradition treu. Die Komische Oper und ich, wir sind eine „perfect marriage“.

Für immer? Sie bleiben über das Jahr 2022 hinaus?
Ich kann Ihnen dazu sagen: Momentan sind zehn Jahre Intendanz genug für mich. Ich werde sicher nicht der neue Intendant der Bayerischen Staatsoper, auch wenn mich solche Angebote ehren, sie kommen nicht nur aus München, sondern auch aus London, aus Wien und Amsterdam. Ende der Spekulation! Ich bin Intendant durch Zufall. Eigentlich bin ich Regisseur, deshalb bin ich auf der Welt. Das Inszenieren, die Arbeit mit Sängern, der Proberaum, das ist meine Heimat. Und für eine gewisse Zeit bin ich zudem Intendant dieses Hauses, der Komischen Oper Berlin. Sie ist groß genug, internationales Niveau zu haben, und klein genug, um so flexibel zu sein, wie ich es brauche. Es ist nicht mein Lebensplan, immer ein Haus zu leiten.

Dann werden Sie wieder als freier Regisseur arbeiten?
Jetzt habe ich erst mal noch vier Jahre vor mir, in denen ich mein Bestes geben werde. Ich bin dieses Jahr 50 geworden und nicht mehr so jung wie früher. Was ich in fünf Jahren machen werde, das will ich nicht heute entscheiden.

Keine Intendanz kann Sie verlocken?
Ich bin ein Teamplayer, ich kann ein Haus leiten, es ist toll, Intendant zu sein. Aber es ist fatal, wenn Intendanten denken, dass ohne sie alles zusammenbricht. Jeder ist zu ersetzen. Im Juli 2022 endet mein Vertrag, und im Juni 2022 werden wir eine Operette auf Jiddisch machen. Eine alte Showbiz-Regel lautet: Leave the audience wanting more. Ich gebe Vollgas, oder gar nicht.

Gibt es jetzt einen Zeitplan für die Renovierung der Komischen Oper?
Wir können bis 2022 hier spielen.

Und dann?
Niemand weiß, was es genau kosten und wie lange es dauern wird. Im Moment liegen viele Optionen auf dem Tisch. Die Politiker sind inzwischen megavorsichtig. Es gibt so viele unbeantwortete Fragen. Egal, was passiert: Die Komische Oper Berlin kann nicht wie die Staatsoper fünf Jahre im Schillertheater spielen. Das wäre für uns Selbstmord. Wenn wir im Exil spielen müssen, dann ziehen wir durch die Stadt und gehen auf Tournee in Berlin. Das ist unser Stil. Entscheidend ist, dass bei Umbauten und Renovierungsgeschichten auf die Künstler gehört wird. Bitte nehmt uns ernst!

Das Gespräch führten Christiane Peitz und Rüdiger Schaper.

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