Philip Glass an der Komischen Oper: Gott der Wiederholung
Gandhis Kampf und das musikalische Mantra: „Satyagraha“ von Philip Glass an der Komischen Oper, großartig inszeniert von dem Choreografen Sidi Larbi Chercaoui.
Reichtum ist relativ. Eine Oper von Philip Glass, der in diesem Jahr 80 geworden ist, gab es an einem Berliner Opernhaus noch nicht. In einer einzigartigen Anstrengung zeigten die Berliner Festspiele 2014 „Einstein on the Beach“ in der Inszenierung von Robert Wilson – ein Wunderwerk auf Welttournee, die hier endete. „Einstein on the Beach“ ist der erste Teil einer Trilogie, „Satyagraha“ (uraufgeführt 1980 in Rotterdam) der zweite, gefolgt von „Akhnaten“ (1984). Der amerikanische Komponist hat einen Ring großer Weltbilder und Persönlichkeiten geschaffen – mit dem Wissenschaftler der Relativitätstheorie, dem ägyptischen Gottmenschen des Monotheismus und dem Freiheitskämpfer und Politiker Mahatma Gandhi. Um dessen frühen Jahre dreht sich „Satyagraha“.
Es ist keine Oper wie andere. Wie man es auch beschreiben will: Die bei Philip Glass übliche Bezeichnung Minimal Music führt in die Irre. Denn trotz der kleinen Orchesterbesetzung mit Streichern, Holzbläsern und elektronischer Orgel – keine Blechbläser, kein Schlagwerk – setzt das Werk auf Überwältigung. Sanft, aber entschieden, nachdrücklich; damit kommt es Gandhis pazifistischer Strategie schon sehr nahe. Dirigent Jonathan Stockhammer und das Orchester der Komischen Oper dringen tief in ein in die Mysterien dieses musikalischen Mantras. Ihr Spiel hebt die gewohnten Gegensätze intellektueller und emotionaler Wahrnehmung auf. Und was der Chor der Komischen Oper – einstudiert von David Cavelius – in diesen dreieinhalb Stunden vollbringt, ist bewundernswert in seiner Leichtigkeit, seiner Teilhabe am Bewegungsfluss, im Zusammenwirken mit den Tänzern.
Chor und Solisten greifen Rollen auf, wie sie einmal in der antiken Tragödie entstanden. Hier rührt die Oper an etwas Ursprüngliches. Chor und Choreografie haben ja nicht nur denselben Wortstamm. Eine Hierarchie zwischen dem Volk und seinen Helden existiert nicht. Auch das unterscheidet „Satyagraha“ vom italienischen oder deutschen Opernrepertoire: keine Zuspitzung, keine Klimax. Keine Erzählung, die in der Oper häufig abrupt einsetzt und auf ein erlösendes oder empörendes Ende zusteuert, wie erst kürzlich in der Debussy-Inszenierung von Hausherr Barrie Kosky, als die junge Melisande im Sterben vom klaustrophobischen Bühnenbild verschluckt wird.
Chercaouis Choreografien: Alles fließt, passend zur Minimal Music
Um es vordergründig noch etwas komplizierter zu machen: Das Libretto hat Glass zusammen mit der Schriftstellerin Constance DeJong entwickelt, auf Sanskrit. Keine Dialoge, vielmehr Sinnsprüche aus der Bhagavad Gita, den heiligen hinduistischen Schriften. Kampf, Tod, Verharren, Strategie: Das fließt ein in einen meditativen Essay, ein Kontinuum von Denken und Bewegung. Leben verläuft nicht linear, vielmehr in Kreisen.
„Satyagraha“ entstand in einer Koproduktion mit dem Theater Basel und der Vlaamse Opera Antwerpen, wo der Choreograf und Regisseur Sidi Larbi Cherkaoui zu Hause ist. Die Berliner Premiere wurde zum Triumph für Cherkaoui – auch ihn sieht man so gut wie nie in Berlin – und für seine Eastman-Tanzcompagnie. Die Tänzer schaffen, stets präsent, einen Zustand prekärer Körperlichkeit. Sie sind eine kritische Masse, im Wirbeln, im Gewimmel – wann kippt die Lage in Gewalttätigkeit um, wie formiert sich friedlicher Protest, wann ist die Zeit gekommen, massenhaft zu demonstrieren?
Der Gandhi, wie man ihn kennt, wird in "Satygraha" nicht gezeigt
Gandhis Gedanken und Ideen materialisieren sich weniger in Worten (da helfen auch die Übersetzungstitel wenig) als im stockenden, reißenden Fluss der Choreografie. Manchmal ist es, als wollte die Musik die Tänzer-Demonstranten besänftigen, dann wieder werden sie angetrieben, angehoben von der hymnischen Repetition, die Glass’ Musik ausmacht. Sie ist permanent hoch gestimmt, sie wirkt wie eine Droge, die nach und nach Energie ausschüttet. Ohne je zum explosiven Höhepunkt zu kommen. Man bleibt erregt auf einem ausgedehnten Niveau.
Schwer zu durchschauen wirkt die ja doch vorhandene inhaltliche Struktur, das Libretto. Es geht um die Suche nach neuen Lebensweisen, da spielt der russische Schriftstellerfürst und Gutsherr Leo Tolstoi eine Rolle, um 1910. Dann zurück nach Südafrika. Gandhi in Lebensgefahr, politischer Widerstand, die Satyagraha-Idee entwickelt sich: die Umarmung des Gegners, psychologisch-pazifistische Kriegsführung. Schließlich im dritten Akt der große Protestmarsch von 1913.
Der Gandhi, wie man ihn kennt, die indische Ikone, wird nicht gezeigt. Es geht um das Davor, um die spirituelle Vorbereitung. Das hat großes Kitschpotenzial – im heutigen Indien herrscht ein durchaus brutaler, intoleranter Hinduismus.
Tenor Stefan Cifolelli als Ghandi hält den Trance-Ton
Aber das schmälert dieses politisch-historische Mysterienspiel nicht. Es stellt Möglichkeiten vor, öffnet Wege zum Frieden, die auch ein zweites oder drittes Mal begangen werden können. Lösungen werden nicht angeboten, vielmehr Haltung. Und da ist vom unglaublichen Schluss dieses Abends zu sprechen. Der Tenor Stefan Cifolelli sitzt auf einer Plattform, die, nach vorn gekippt, über der Bühne schwebt, eine helle Figur auf tiefem Blau. Jetzt ist er allein. Sie haben aufgehört zu tanzen, halten inne. Cifolelli hält den Trance-Ton. Ein Mensch, ein Mönch, ein Gott lauscht dem Gesang, der ihm entströmt, getragen vom Orchestergleichklang, der in der konstanten Wiederholung vibriert. Es ist zugleich Musik und Stille. Wiederholung und Variation.
Jetzt sieht es so aus, als dirigiere der Sänger sich selbst, seinen Atem. So fein, so mächtig. Warum hört das auf? Denn auch ein Stück von Philip Glass hört auf, auch wenn es kein Ende hat. Dann bricht nach einem Moment, in dem das Publikum sich fasst, der Jubel los.
Wieder am 31. Oktober, 2., 5. und 10. November. Restkarten.