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Radikales Kammerspiel. Dominik Köninger als Pelléas, Nadja Mchantaf als Mélisande.
©  dpa/Britta Pedersen

"Pelléas et Mélisande" an der Komischen Oper: Körper können schreien

Landschaft mit Ewigkeitscharakter: Barrie Kosky eröffnet die Saison an der Komischen Oper mit einer starken Inszenierung von Debussys „Pelléas et Mélisande“.

Wenn die Komische Oper zum Auftakt ihrer Jubiläumsspielzeit lädt und Hausherr Barrie Kosky selbst inszeniert, glaubt man schon zu wissen, dass an der Gaudi nicht gespart werden wird. Doch Kosky kennt sich nicht nur in der 70-jährigen Geschichte seines Hauses gut genug aus, um knallige Kurzschlüsse zu vermeiden. Neben dem Pailletten-und-Revue-Alter-Ego steht auch immer der konsequent schnörkellose, zutiefst ernsthafte Interpret von Musikdramen. Zusammen werden sie jede Kritik in die Schranken weisen, keine Flanke mehr zum Angriff bieten. Nach seinem quirlig-geistreichen Bayreuth–Abenteuer mit den „Meistersingern“ will sich Kosky als Regisseur in dieser Saison ausschließlich auf die Komische Oper konzentrieren und nach Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein weiteres lyrisches Herzensstück auf die Bühne bringen.

Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ ist eine Oper von zerbrechlichem Zauber, eines jener Werke, die es nicht verzeihen, wenn man sie falsch anpackt. Denn Allemonde, so unbestimmt universell heißt das düstere, vom Meer umtoste Königreich, in dem Mélisande eines Tages plötzlich auftaucht, gibt seine Geheimnisse nicht einfach preis. Was die Figuren erlitten haben, warum ein feines Gespinst von undurchdringlicher Traurigkeit alles umfängt, das bleibt bestenfalls halb gesagt. Die andere Hälfte aber liegt im Dunkeln, verborgen im undurchdringlichen Wald, in Brunnen ohne Grund oder in finsteren Grotten, die nicht mehr Meer, aber auch nicht Land sind. Eine Landschaft mit Ewigkeitscharakter, erfüllt von Schritten und Seufzern, unerklärlichem Leid und einer unerfüllbaren Sehnsucht nach Licht.

Mechanik des Grauens

Man kann in Maurice Maeterlincks Drama, das Debussy seiner einzigen vollendeten Oper zugrundelegte, den Gipfel eines überfeinerten Symbolismus erkennen – und dann keinen Weg mehr heraus- finden aus seiner nächtlichen Bilderwelt. Der Versuchung verfallen, koste was es wolle, poetische Entsprechungen zu schaffen, wie an der Deutschen Oper, die für „Pelléas et Mélisande“ einst die Bühne in eine riesige Wasserfläche verwandelte, samt Frau im Kahn. Was aber besitzt auf der Bühne Ewigkeitscharakter, aller Immersion zum Trotz? Es sind die Gassen, das Portal, die Drehbühne. Das gebannt nach Vorneblicken und dabei immer nur einen Ausschnitt erkennen können. Kosky hat sich von seinem Bühnenbildner Klaus Grünberg ein klaustrophobisches Allemonde zimmern lassen. Ein dunkles Theaterchen, das niemand verlassen kann, mit Akteuren, die auf festen Bahnen bewegt werden, unfrei von Anfang an. Dass Debussy sich auch daran versucht hat, Edgar Allen Poes Erzählungen in Musiktheater zu verwandeln, erscheint im Angesicht von Koskys Mechanik des Grauens absolut zwingend.

Hier werden keine Folterinstrumente gezeigt, hier werden, abgesehen von einem verirrten dürren Ast, überhaupt keine Requisiten bemüht. Es ist die Physis der Darsteller, die aus dem Dunkel leuchtet – und ihr Recht fordert, selbst wenn die Lautstärke des Gesangs meist gesenkt bleibt. Körper können schreien, auch wenn die Stimme flüstert. Ein radikales Kammerspiel beginnt, wie es Kosky in Zürich mit „Macbeth“ gezeigt hat. Dafür wird Mélisande erst einmal aus der Ecke des blässlichen Fin-de-siècle-Geschöpfs geholt. Sie ist es, die Golaud im Wald von hinten umfasst und zugleich „Fass mich nicht an!“ ruft. Nadja Mchantaf gelingt es, sich aus der Passivität ihrer Figur herauszuspielen, eine Mélisande zu verkörpern, die gegen das Getriebe des Unglücks aufbegehrt. Und berührend artikulieren kann, was den Bewohnern von Allemonde unmöglich scheint: Ich bin nicht glücklich, ich bin unglücklich, ich bin traurig.

Welche Familiengeheimnisse die Halbbrüder Pelléas und Golaud auch immer umgeben: Sie führen zu grausam verzerrten Physiognomien und schweißgebadeten Albträumen. Mit Dominik Köninger und Günter Papendell hat Barrie Kosky zwei großartige Sänger im Ensemble ausgemacht, die seinem Körpertheater flammende Intensität verleihen können und zugleich souverän der französischen Sprachmelodie folgen. Wie Pelléas und Golaud aneinander hängen, zwischen Liebe, Betrug und Unaussprechlichem taumelnd, das bleibt die von Kosky am tiefsten ausgeleuchtete Beziehung auf der Bühne. Mélisande dagegen, der Fremdkörper, wird ohne größeres Erbarmen aufgespreizt und blutend weggedreht. Arkel, der uralte König von Allemonde, näselt in Jens Larsens Interpretation so aufdringlich, dass man seine salbungsvollen Sätze mit großer Vorsicht hört: „Wäre ich Gott, hätte ich Mitleid mit den Herzen der Menschen.“ Aber was, wenn nicht? Aus allem lässt sich eine Drohung formulieren. „Die Tragik des Alltags“, schrieb Maeterlinck, „ist leicht zu empfinden, aber schwer darzustellen.“ Kosky landet dennoch eine Reihe wirkungsvoller Körpertreffer.

Hypnotisches Pendeln der Klänge

Das gelingt ihm auch deshalb, weil die Größe des Hauses wunderbar zu „Pelléas et Mélisande“ passt, die Sängerinnen und Sänger ohne stärkeres Forcieren ihrer Stimmspur folgen können. Und weil der Komischen Oper mit der Verpflichtung von Jordan de Souza als Kapellmeister ein wahrer Coup gelungen ist. Der 1988 in Toronto geborene Dirigent weiß, wie viel Delikatesse er dem Orchester abverlangen kann, er atmet mit dieser irrlichternden Musik, die – faszinierender Gegensatz – mit größter Klarheit einen feinen Bedeutungsnebel aufziehen lässt. Wie die Herbstfeuchtigkeit abendliche Autoscheiben überzieht und die Lichter bricht, so legt sich mit Debussys Musik ein Gefühl von unausweichlicher Traurigkeit aufs Gemüt. De Souza verkauft es nicht für kurze Showmomente, er hält die Spannung aufrecht, das beinah hypnotische Pendeln der Klänge. Denn er weiß, dass die letzte Note wieder dieselbe sein wird wie die erste.

Auch Kosky hört genau hin und inszeniert letztlich die Partitur, wenn ganz am Ende alle Personenkonstellationen ihren Spuren auf der Drehbühne gefolgt sind und Mélisandes toter Körper in einer dunklen Gasse verschwunden ist. Dann steht dort wieder Golaud, allein im Wald, wie vor drei Stunden, drei Monaten, drei Jahren. Und es gibt keine Hoffnung darauf, dass das tödliche Muster beim nächsten Durchgang durchbrochen werden kann. Kosky, der auch ein paar Buhs kassieren muss, stellt sich nach dem Schlussapplaus dann aber doch dem Schicksal in den Weg: Er erinnert an den Regisseur Kirill Serebrennikow, der in Russland unter Hausarrest steht und 2020 wieder an der Komischen Oper inszenieren soll. Für Kosky geht die Arbeit nahtlos weiter: Im Dezember wird er in Walter Felsensteins Fußstapfen „Anatevka“ inszenieren.

wieder am 21. und 28.10., 17.11. und 2., 14. und 23.12. Digitale Ausstellung zu 70 Jahre Komische Oper: www.komische-oper-berlin.de/70_startseite/

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