Israel gewinnt - Deutschland wird Vierter: Eurovision Songcontest feiert die Vielfalt
Mut zum Pathos: Die Israelin Netta gewinnt beim ESC mit ihrem wuchtigen Song "Toy" – und der Deutsche Michael Schulte wird Vierter. Das beste Ergebnis seit Lena Meyer-Landrut.
Man kann dem Eurovision Song Contest vieles vorwerfen, aber eines gelingt ihm immer wieder: große Momente zu erschaffen. Ein solcher Moment ist erreicht, als ziemlich genau um 1 Uhr in der Nacht von Samstag auf Sonntag die israelische Sängerin Netta Barzilai auf die Bühne geht, um noch einmal ihren Siegersong „Toy“ zu singen. Großer Jubel, Glitzerkonfetti regnet herab, schluchzend vor Freude sagt sie: „Der Sieg bedeutet, dass wir die Unterschiede zwischen uns akzeptieren und Diversität zelebrieren.“
Dann stellt sie sich hinter ihr seltsames, retrofuturistisch blinkendes Synthesizerpult, hebt dramatisch die Arme und beginnt gackernd zu scatten: „La – Ritsch – Autsch“. Rasender Rap, der in ein sanfte Strophe übergeht, in der Netta sich als „beautiful creature“ beschreibt und über Männer lästert, die genauso dumm wie ihr Smartphone seien. Schließlich entlädt sich die ganze rhythmische Wucht in einem Refrain, der großraumdiskothekentauglich losbollert: „I’m not your toy / You stupid boy.“ Der Song, der schon vor dem Festival als Favorit galt, ist als Beitrag zur Me-Too-Debatte interpretiert worden. Er ist aber auch das Dokument einer Befreiung.
Die 25-jährige Sängerin aus Tel Aviv, deren Energie an Beth Ditto erinnert, feiert ihre Kraft und ihre Schönheit. Es ist Israels vierter Sieg beim Gesangswettbewerb und genau zwanzig Jahre nach dem Triumph von Dana International ein erneuter Erfolg der Andersartigkeit. Netta, die ihre Karriere als Sängerin und DJane bei Hochzeiten begann, bezeichnet sich selbst als „fettes Mädchen“. Eines ihrer Lieder heißt „Kzat meschugaat“, was auf Hebräisch ein wenig wahnsinnig oder verrückt bedeutet. Schönheit liegt in der Vielfalt, das beweist „Toy“, das Gewinnerstück von Lissabon, auch auf musikalischer Ebene. Es ist aus Elementen von Hip-Hop, asiatischem Pop und orientalischen Melodiebögen zusammengeschraubt und klingt trotzdem wie aus einem Guss. In der ARD verfolgen 7,71 Millionen Zuschauer live das Finale, ein beachtlicher Marktanteil von 33 Prozent.
Netta siegt vor der griechischen Disco-Diva Eleni Foureira, die mit dem Balkanpopknaller „Fuego“ für Zypern angetreten ist, und dem österreichischen R-’n’-B-Sänger Cesár Sampson und seiner schwelgerischen Gospelhymne „Nobody But You“. Für die Überraschung des Abends sorgt aber Michael Schulte.
Der 28-jährige Singer-Songwriter aus Buxtehude schafft es mit der Klavier- und-Streicher-Ballade „You Let Me Walk Alone“ auf Rang 4, die beste Platzierung für Deutschland seit Lena Meyer-Landruts Nummer-1-Hit „Satellite“ von 2010. Der Schmach der letzten Jahre, als Künstlerinnen mit Vornamen wie Ann Sophie, Jamie-Lee und Levina Letzte oder Vorletzte wurden, scheint plötzlich weggeblasen. Das Trauma ist überwunden, Deutschland kann Pop.
Michael Schulte hat den Mut zum Pathos, und sein Song besitzt etwas, was fast allen anderen Liedern in dieser Nacht fehlt: einen Refrain mit Hookline. Er lautet „I was born / From one love of two hearts“, spreizt sich majestätisch auf und bleibt sofort im Ohr hängen. „You Let Me Walk Alone“ besteht aus Erinnerungen und Beschwörungen, die dem verstorbenen Vater des Sängers gelten. Schulte steht am Mikrofonständer, ein Denkmal der Innerlichkeit, während Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Familienalbum hinter ihm vorbeiziehen und Schlagworte aus dem Text aufploppen: „One Life“, „True“, „Loving“, „Alone“.
Das Sentiment ist nicht wegzudenken aus dem Pop, es gehörte bereits zum Wettbewerb, als er noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß. Michael Schulte steht in dieser Tradition, während Netta Barzilai den Gegenpol verkörpert, die Exzentrik. Beide Auftritte sind großartig, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vier Stunden der Show diesmal besonders lang wirken.
Das Nachgemachte dominiert
Neben herausragenden Stücken wie dem fingerschnipsenden House-Track „Dance You Off“ des Schweden Benjamin Ingrosso oder der Synthiepopfanfare „We Got Love“ von der frenetisch tanzenden Australierin Jessica Mauboy dominiert das Nachgebaute und Nachgemachte, gerne in der Geschmacksrichtung Eighties. Es gibt Annie-Lennox-Klone (Großbritannien), Kate-Bush- Klone (Finnland), Céline-Dion-Klone (Estland), Balkan-Esoterik mit Catweazle-Geflöte (Serbien) und Heavy Metal inklusive Stagediving und Kunstfeuer (Ungarn). Der Beitrag des Norwegers Alexander Rybak heißt „That’s How You Write A Song“ und versucht das Songwriten zu erklären. Leider ist er nicht lustig.
Das größte Rätsel war die Frage, warum das portugiesische Fernsehen gleich vier Moderatorinnen aufbot. Deutschland kam mit einem Kommentator aus. Peter Urban, seit 1997 am Mikro, bleibt ein Meister des Wort- und Herrenwitzes. „Das hat die Ohren richtig durchgepustet“, freut er sich nach dem ungarischen Hardrockgelärme, über die finnische Sängerin sagt er: „Kein Wunder, dass bei der Frauenpower sogar Lordi den Schwanz einzieht.“ Au weia.
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