Eurovision Song Contest (ESC): Israel geht mit Netta Barsilai an den Start - und einer MeToo-Botschaft
Netta Barsilai ist Israels große Hoffnung für den Eurovision Song Contest (ESC). Ihr Lied „Toy“ steht im Kontext der MeToo-Debatte. "Ich bin keine Puppe", singt sie.
Etwas erschöpft lässt sich Netta Barsilai in den Schreibtischstuhl fallen. Sie hat schon einige Interviews hinter sich, hier in den Räumen der Produktionsfirma in Ramat Hachayal, einem gediegenen Stadtteil im Norden Tel Avivs. An nächsten Tag geht es nach Lissabon für Videoaufnahmen, danach stehen zahlreiche Proben an. Glücklich ist sie, sagt sie, doch auch überwältigt von dem Wirbel, den ihr Song „Toy“ ausgelöst hat. Mit ihm wird sie im Mai beim Eurovision Song Contest (ESC) für Israel antreten. „Ich wusste, dass wir etwas Besonderes und Einzigartiges kreieren. Aber mit der Explosion, die dieser Song überall auf der Welt ausgelöst hat, habe ich nicht gerechnet. Ständig taucht ein neues Video auf mit Menschen, mit Kindern, die zu dem Beat tanzen. Ich freue mich sehr, dass ich so viele Herzen und Tanzfüße erreicht habe“, sagt die 25-Jährige. Sie trägt an diesem Nachmittag auffallenden, dunklen Kajal und Lidschatten, eine zerrissene Jeansjacke, Leggins und einen kurzen Rock.
Wettanbieter rechnen damit, dass Israel dieses Jahr gewinnen könnte: Bei den Onlinewetten zum ESC schoss Nettas Song nach Veröffentlichung Mitte März auf Platz eins, vor Estland, Tschechien und Belgien. Deutschland liegt derzeit auf Platz 18. Doch an die Prognosen will Netta derzeit gar nicht denken. Sie will sich nicht verrückt machen lassen.
Pop und K-Pop
„Toy“ ist eine Mischung aus Pop und K-Pop, also buntem, koreanischen Pop, und hat nahöstliche Einflüsse, so beschreibt die Nachwuchskünstlerin ihren Song mit dem flotten Beat und den außergewöhnlichen Geräuschen, die sie darin von sich gibt. „Ree, ouch, hey, hm, la“ – so fängt es an, „Bucka-mhmbuck-buck-buck“ gackert Netta später. Passend dazu: der schrille, sehr bunte Videoclip, in dem Netta riesige Ohrringe trägt, mal violetten Lidschatten, mal ein rotes, blumiges Jackett, mal ein kimonoartiges Oberteil und mal ein hautfarbenes Prinzessinnenkleid mit Rüschen.
Der Song ist außergewöhnlich, klingt fröhlich und frech. Doch noch etwas könnte der Grund sein, warum ausgerechnet „Toy“ schon jetzt so beliebt ist: Er steht im Kontext der MeToo-Debatte. Auch wenn der Text an vielen Stellen simpel daherkommt („I’m not your toy, you stupid boy“ und „My teddy bear’s running away, The Barbie got something to say, hey“) – dahinter stecken Botschaften an chauvinistische Männer, deren Zeit nun abgelaufen ist – und an Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen, sondern stolz auf sich sein sollen: „Wonder Woman, vergiss niemals, du bist göttlich und er wird es bald bereuen“, singt Netta – eine Anspielung auf die israelische Schauspielerin Gal Gadot, die im gleichnamigen Film die Rolle der Wonder Woman spielt. „Ani lo buba“, heißt es an einer anderen Stelle auf Hebräisch, „Ich bin keine Puppe“. Buba ist im Hebräischen ein Kosename für Mädchen und Frauen.
Das Stück sei auf ihre Persönlichkeit zugeschnitten, sagt Netta: „Doron Medalie, der den Text geschrieben hat, hat meinen Vibe, meine Stärken und Fähigkeiten eingefangen. Es ist ein Song, der weibliche Stärke ausdrückt und ich bin superstolz darauf, ihn singen zu dürfen, denn ich weiß, wieviele Frauen sich unter Druck gesetzt fühlen, so zu sein, wie es die Gesellschaft vorschreibt.“
Sie selbst habe das auch immer wieder zu spüren bekommen, erzählt Netta. „Ich war nicht das beliebte kleine Mädchen. Ich sah anders aus, dachte anders, und war sehr dramatisch und emotional. Ich war eine kleine Künstlerin.“ Immer wieder wird Netta Barsilai mit Beth Ditto verglichen, Sängerin der mittlerweile aufgelösten Band „The Gossip“. Für Netta ist klar: „Beth ist großartig, aber ich sehe da keine Verbindung. Wir haben nicht dieselbe Musik. Das einzige Ähnliche ist, dass wir beide kräftige Mädchen sind.“
Israel gewann drei Mal den Eurovision Song Contest
Doch wie Beth Ditto hat es das kräftige Mädchen Netta Barsilai aus Hod HaSharon, einer Stadt nördlich von Tel Aviv, geschafft, auf der Bühne zu stehen und Musik zu machen – und zwar so, wie sie ist, entgegen aller gesellschaftlicher Vorstellungen eines weiblichen Traumkörpers. Einige Schulkameraden von früher hätten sich nun, da sie bekannt geworden ist, bei ihr gemeldet, ihr gratuliert. Groll hege sie nicht gegen diejenigen, die ihr einst das Leben schwer machten: „Ich danke all diesen Menschen, weil sie mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Das alles ist nun Vergangenheit, jetzt versuche ich, nach vorne zu schauen.“ Dass ausgerechnet sie nun beim ESC Israel vertritt, bedeute sehr viel: „Mein Image, meine Präsenz, das ist revolutionär. Ich hatte keine Vorbilder, jemand, der sich, pardon, einen Scheiß darum kümmert, was andere denken.“
Obwohl Israel kein europäisches Land ist, nimmt es seit 45 Jahren am ESC teil – und gewann bisher drei Mal: 1978 mit „A-Ba-Ni-Bi“ von Izhar Cohen & The Alpha-Beta, ein Jahr später mit „Halleluja“ von Gali Atari und Milk & Honey, und zuletzt 1998 mit „Diva“ von der transsexuellen Sängerin Dana International. Wie so oft richtet sich Israels Blick bei Wettbewerben Richtung Europa, auch im Sport, beim Basketball und Fußball. Im feindlich gesinnten Nahen Osten wären Teilnahmen nicht möglich – viele arabische Staaten boykottieren Israel und erlauben es ihren Sportlern nicht, gegen Spieler des jüdischen Staates anzutreten.
Lissy Kaufmann