Eurovision Song Contest in Lissabon: Toastbrot und Trauma
Seit Jahren schneidet Deutschland beim ESC nicht gut ab. In Lissabon am Samstagabend dürfte sich das kaum ändern. Eine Ursachenforschung.
Ganz in Schwarz gekleidet tritt Michael Schulte in der Altice-Arena in Lissabon aus dem Dunkel vor eine Leinwand, auf die Worte und Textzeilen seiner Ballade „You Let Me Walk Alone“ projiziert werden. Er singt von seinem Vater, der vor 13 Jahren gestorben ist, von Vermissen und Vermächtnis. Beim Refrain tauchen hinter ihm Fotografien von Vätern und Söhnen auf.
ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber überschlägt sich fast vor Lob, wenn er über den deutschen Beitrag zum diesjährigen Eurovision Song Contest spricht. Michael Schulte sei „sehr authentisch“, sein Song „sehr persönlich“ und insgesamt sei der Gewinn des 28-Jährigen beim deutschen Vorentscheid natürlich ein „sehr positives Zeichen“, sagte der Programmverantwortliche vor vier Wochen, knapp einen Monat vor dem Finale in Lissabon an diesem Sonnabend. Die Botschaft dahinter: Deutschland hat in diesem Jahr etwas ganz Spezielles ausgegraben, ein richtiges Original, ein Unikat, einen, der hoffentlich gewinnen kann.
Um so einen zu finden, hatte die ARD den Auswahlprozess in diesem Jahr grundlegend überarbeitet. Gleich drei Jurys gab es im Vorentscheid für Lissabon: Neben dem deutschen Fernsehpublikum und einer 100-köpfigen Fokusgruppe, die das europäische Publikum repräsentierte, entschied auch eine 20-köpfige, laut Schreiber „sehr hochrangig besetzte“ internationale Jury mit „sehr guten Juroren“ darüber, wer zum Finale nach Portugal fahren darf. In einem ausgereiften, fast technisierten Prozess suchte Deutschland den Kandidaten – und fand Michael Schulte. Der sympathische Wuschelkopf von nebenan aus Buxtehude drückte alle Emotions- und Authentizitätsbuttons und alle drei Jurys entschieden sich für ihn. Hit-Vorhersage mit der Präzision einer dreifachen Endkontrolle, so könnte man das nennen. Letzte Hoffnung, deutsche Wertarbeit.
Der neue Auswahlprozess war die Folge einer langen Pleitenserie. Deutschlands Eurovision-Bilanz der letzten Jahre ist unterirdisch. Nach dem Sieg von Lena Meyer-Landrut 2010 und ihrem zehnten Platz 2011 ging es für Deutschland immer weiter bergab. Vor sieben Jahren schaffte es nur noch Roman Lob mit „Standing Still“ in die Top Ten. Die Geschichte seitdem: Cascada landete 2013 mit „Glorious“ auf Platz 21, Elaiza mit „Is it right“ auf Rang 18. Nachdem Andreas Kümmert 2015 sich noch auf der Bühne des Vorentscheids gegen eine Teilnahme entschied, wurde die zweitplatzierte Ann Sophie mit „Black Smoke“ und null Punkten Letzte. Jamie-Lee holte vor zwei Jahren mit „Ghost“ zwar elf Punkte, wurde aber trotzdem erneut Letzte. In der Ukraine reichte es für Levina mit „Perfect Life“ für den vorletzten Platz, immerhin.
Lieblos hingeschustert und flach
Das lag vor allem an den Songs. Während das Trauma Niederlagen, der "Seuchenjahre" - so eine Schlagzeile - sich in die Erinnerung der deutschen ESC-Fans eingebrannt hat, fällt es schwer, sich an die Lieder selbst zu erinnern. Lieblos hingeschusterte Pop-Rhythmen mit Texten, die so flach waren, dass sie statt bis ins Herz nur bis zu den Knöcheln reichten. Leicht vergessbares, musikalisches Fast Food, alles irgendwie schon besser dagewesen.
Das ist doch nichts Neues, könnte man darauf jetzt antworten – und man hätte auch recht. Für keinen Kulturwettbewerb gilt wohl die Aussage, dass Kunst Diebstahl ist, so sehr wie für den ESC. Wirklich innovativ klingt kaum einer der Songs auf der Eurovisionsbühne, immer hört man Referenzen, kleine Imitationen anderer, wirklicher Hits.
Trotzdem sind es immer die Acts, die das Vorhandene ein wenig kreativer, ein wenig mutiger klauen, oder eine beeindruckende Bühnenshow abliefern, die am Ende gewinnen. Und obwohl er besser ist als seine Vorgänger, ist auch Michael Schulte kein solcher.
Musikalisch liegt „You let me walk alone“ irgendwo zwischen den tieftraurigen Balladen von Adele und der schmachtenden Kopfstimme von James Blunt – und verpufft im Vergleich zu beiden. Schulte selbst ist ein gefälliger Remix der überschwänglich präsentierten Bescheidenheit eines Ed Sheeran, hat aber nur einen Bruchteil von dessen musikalischer Begabung. Und auch ob die ja wirklich emotionale Geschichte vom Tod des Vaters beim internationalen Publikum ankommt, ist zweifelhaft. Die im Rollstuhl sitzende russische Kandidatin Julia Samoylova schaffte es mit ihrem Song „I Won’t Break“ nicht einmal bis ins Finale.
Heißt das, dass Deutschland auch in diesem Jahr wieder letzter wird?
Nein. Für eine Position im bequemen Mittelfeld ist der Song gut genug. Aber gewinnen wird Schulte auch nicht. Weil Deutschlands Beitrag zum Song Contest 2018 – und fokusgruppengetestete Kunst tut das selten – zwar nirgends aneckt, aber auch niemanden wirklich entzündet. „You let me walk alone“ ist musikgewordenes Toastbrot: für sich allein genommen ein wenig fad.
Der ESC beginnt am Sonnabend um 21 Uhr. Liveblog unter www.tagesspiegel.de/queerspiegel