Lena Meyer-Landrut: Mit klarem Kopf
Am Montag schrieb sie ihre Klausur in Biologie. Das Abi ist ihr sehr wichtig. Doch trotz ihrer Abiturvorbereitung absolviert Lena einen Marathon öffentlicher Auftritte.
Manchmal lauert der Irrsinn da, wo man ihn gar nicht vermutet. Im Büro von Bernd Steinkamp zum Beispiel, dem Schuldirektor der IGS Roderbruch in Hannover. Ganz ernsthaft erkundigten sich aufgeregte Medienvertreter per Telefon vor ein paar Tagen beim Schulleiter von Lena Meyer-Landrut, ob man die 18-Jährige vielleicht dabei fotografieren dürfe, wie sie ihr Abitur schreibt. Das wäre doch ein nettes Foto: Deutschlands Grand-Prix-Hoffnung auf der Schulbank. Erst Opiumkriege, dann Oslo.
Steinkamp lehnte ab. Nein, mit normalen Maßstäben ist nicht zu messen, was sich derzeit abspielt: In Europa ist die Lenamania ausgebrochen. Die Hannoveranerin gilt inzwischen als Favoritin für den Eurovision Song Contest (ESC) am 29. Mai in Oslo. Ihr Video ist bei YouTube der mit Abstand meistgeklickte Eurovision-Song. Die Mehrheit der Buchmacher – seit 2000 ziemlich verlässlich mit ihren Vorhersagen – sieht sie mit „Satellite“ auf Platz 1 knapp vor der Sängerin Safura aus Aserbaidschan („Drip drop“). „Das letzte Mal, dass Deutschland mit derart guten Gefühlen zum ESC schauen konnte, war 1982, und da traf eine Saarländerin mit ,Ein bisschen Frieden’ den europäischen Nerv“, orakelt gar ESC-Experte Jan Feddersen in seinem NDR-Blog. Irrationale Siegesphantasien gehören von jeher zum Grand Prix dazu, aber für Lena bedeuten sie vor allem: Der Druck auf ihre doch eher schmalen Schultern wächst.
Paparazzi schleichen um Lenas Elternhaus. In diesen Tagen erscheint gar ein erstes Buch über sie, ein billiger Schnellschuss mit 64 Seiten. Und da soll man nebenbei sein Abitur schreiben? Mit klarem Kopf? Und, bitteschön, frisch und fröhlich bleiben wie der junge Morgen? Letzte Woche Dienstag brütete Lena über ihrer ersten Klausur, Sport, es folgte am Donnerstag Geschichte, und am gestrigen Montag schrieb sie ihre Biologie-Klausur.
Der Lena-Hype ist kaum noch steigerbar. Trotzdem scheuchen PRO7, die ARD, die Produktionsfirma Brainpool und die Plattenfirma Universal ihren Schützling seit Wochen durch eine erbarmungslose Medienmühle: die „Wok-WM“, „tv total“, Frühstücksfernsehen, „MTV Home“, „Viva Live“, „Wetten, dass...?“ und „60 Jahre ARD“ liegen hinter ihr, es folgen die „NDR Talk Show“ ( 7. Mai ), die ARD-Quizshow „Frag doch mal die Maus“ (8. Mai, Aufzeichnung), „Schlag den Raab“ (auch 8. Mai, live) – kaum ein Studio, in dem Lena nicht säße. Dazu kommen diverse Verpflichtungen wie Interviews und ein Live-Auftritt bei der von Brainpool produzierten „SKL-Show des Glücks“ am 4. Mai im Berliner Tempodrom.
Sie müsste das nicht tun. Deutschland muss nicht mehr überzeugt werden. Und die anderen Länder, die am Ende abstimmen werden, kriegen deutsche TV-Shows gar nicht mit. Fast hat man den Eindruck, sie erfüllt einen vorgestanzten Plan und absolviert einen schon vor Monaten festgezurrten PR-Marathon. Da war noch gar nicht abzusehen, dass Lena ein Selbstläufer werden würde. Dass man sie gar nicht aggressiv in die Köpfe hämmern muss, weil das Publikum sie ganz von selbst mit offenen Armen empfängt.
Sie ist tapfer bei ihren Fernsehauftritten, sie sagt „Dankeschööön!“, sie nimmt das Spontangeschenk einer kleinen Zuschauerin namens Stefanie entgegen und gibt auf dem Sofa eine Runde Schokolade aus. Sie plaudert munter mit Cantz („Lernst du fleißig fürs Abi?“ – „Wann denn?“), lässt sich von ihm als Assistentin für eine kleine Gedankenzauberei missbrauchen und staunt artig über das Ergebnis („Es ist der Waaahnsinn!“). Sie ist die forsche, fröhliche Lena, aber man kann sehen und hören, dass ihr das Abitur Bauchschmerzen bereitet. „Oslo – da verlasse ich mich drauf, dass das schon gutgehen wird“, sagt sie. „Beim Abitur geht das nicht so automatisch.“ Lieber Vierte in Oslo und ein Top-Abi als Erste in Oslo und kein Abi, sagt sie noch. Es ist schon ohne Abiturstress schwer genug, im Vorfeld eines ESC die Nerven im Zaum zu halten. Das sagt eine, die das kennt. „Alles um einen herum ist überdreht und hysterisch“, sagt Jane Comerford, die 2006 mit Texas Lightning („No, no never“) in Athen 15. wurde. „Davon lässt man sich leicht anstecken und aus der inneren Ruhe bringen. Man darf sich an seinem Song nicht satthören. Man muss einen Schlüssel finden, um die innere Schatzkammer wieder aufzuschließen.“
Schon scharren die Werbetreibenden mit den Füßen. Das „Fräuleinwunder 2.0“ eigne sich als „Testimonial“ für alle Produkte, die „Lebensfreude“ ausstrahlen sollten, sagt Frank Dopheide von der Agentur Grey dem Branchenblatt „W&V“ - „etwa Vespa, ein neues Getränk von Bionade oder Ahoj-Brause“.
Alle lieben Lena. Aber gibt es einen, der sie vor dem ganzen Irrsinn beschützt?
Imre Grimm
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