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Gewitter über Athen
© dpa

EU in der Griechenland-Krise: "Es geht nicht darum, dass alles zurückgezahlt werden muss"

Griechenland steht vor der Staatspleite, Europa am Scheideweg: Der Soziologe Heinz Bude im Gespräch über die Euro-Krise, den Schuldenschnitt und die große Furcht der Deutschen.

Herr Bude, Griechenland steht vor dem Bankrott, vielleicht auch vor dem Ausstieg aus dem Euro. Ist die Idee eines friedlich vereinten Europas damit gescheitert?
Nein. Man kann diese Krise auch als Krise der Klärung begreifen. Weil zum ersten Mal deutlich werden wird, wie die Wirtschaftsunion aussehen kann, die die Währungsunion so unbedingt begleiten soll. Man muss ernsthaft darüber diskutieren, welche Industriepolitik, welche Art von Restrukturierungspolitik für Griechenland im Kontext von Europa richtig ist. Wir Deutschen können nicht nur fordern, wir müssen auch fördern. Von Deutschland als dem wirtschaftlich stärksten und möglicherweise auch politisch mächtigsten Land in Europa wird erwartet, dass es sich Ideen erlaubt, wie Europa sich mit Griechenland in den nächsten 20 Jahren entwickeln soll. Solidarität heißt nicht nur, Geld zur Verfügung zu stellen. Sondern sich gemeinsam zu überlegen, wie Europa wirtschaftlich und sozial gestaltet werden soll. Das Gute an der gegenwärtigen Situation ist, dass das Zeitalter der Automatismen in der EU vorbei ist.

Was wäre Ihre Idee von Griechenland und Europa in 20 Jahren?
Klar ist: Auch mit dem Neoliberalismus ist es vorbei. An eine wirtschaftliche Weiterentwicklung durch eine Intensivierung von Anreizen können wir nicht mehr glauben. Das war die mikroökonomische Wende, die eine große Rolle gespielt hat in den letzten 25 bis 30 Jahren. Wofür aber jemand wie Mario Draghi steht: Wir brauchen wieder einen makroökonomischen Rahmen. Darin steckt die Frage, welche Institutionen dabei eine Rolle spielen sollen, und die Frage, was die wirtschaftlichen Stärken und ökonomischem Talente eines Landes sind. Bei Griechenland sagen viele: Die haben doch nichts anderes als die Sonne und Olivenöl. Falsch. Es gibt den tourismusindustriellen Komplex, an den sich ein Gesundheitscluster anschließen könnte. Dazu gehören Entspannungsoasen und Kliniken, hochwertige Dienstleistungen an Körper und Seele. Das gehört in den Zusammenhang der Umstellung von einem Modell extensiven auf eins des intensiven wirtschaftlichen Wachstums.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen Europa und Griechenland operieren beide Seiten mit Schuldzuweisungen. Gibt es überhaupt klar zu benennende Schuldige?
Die Kommunikationsforschung spricht vom „Interpunktionsproblem“. Wer hat angefangen, wer hat den Punkt gesetzt, an dem es nicht mehr weiterging? Aus Familienaufstellungen wissen wir, dass der, der so fragt, sich am Ende nicht mehr bewegen kann. Aus der Sackgasse der Schuldzuweisungen kommt man nicht heraus. Wichtig ist, dass beide Parteien erkennen müssen, dass sie gleichermaßen beteiligt waren an der Konstruktion der Sackgasse. Und dass man nur in der Bereitschaft von beiden Seiten, einen neuen Willen zu mobilisieren, aus der Krise herausfinden kann. Auch die griechische Seite muss eine Zukunftsbereitschaft an den Tag legen, sie darf nicht nur von Überlegungen beherrscht sein, wie sie die nächste Schuldentranche bedienen kann. Das hat allerdings nichts mit einem Schuldenschnitt zu tun, den ich für falsch halte.

Soziologe Heinz Bude
"Wir Deutschen können nicht nur fordern, wir müssen auch fördern." Soziologe Heinz Bude im Gespräch über die Griechenland-Krise.
© Nina Pauer/ Hamburger Institut

Was haben Sie gegen einen Schuldenschnitt?
Argentinien ist ein abschreckendes Beispiel. Die Argentinier hatten sehr lange Zeit große Probleme, Staatspapiere am Markt zu platzieren. Denn keiner hat ihnen geglaubt, dass sie ihre Rückzahlungsversprechen einhalten können. Klar ist auch, dass die Idee von Leuten, die nur ein Konzept für Griechenland hatten, nämlich die Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung, zu nichts geführt hat. Das wurde 10 Jahre versucht. Man dachte vielleicht: Wir machen aus Griechenland so etwas wie Schweden. Das war ein Holzweg.

Angela Merkel hat gerade ihre Formel von 2010 wiederholt: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Ist das ein aufrechter Appell oder der Ausweis von Ratlosigkeit?
Das ist natürlich ins Land hinein gesagt. Ich glaube, die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist der Meinung: Jetzt ist mal Schluss mit den Griechen. Nun eine Volksbefragung durchzuführen, würde desaströs sein. Weil die Deutschen nicht länger in der Situation der Zukunftslosigkeit bleiben wollen. Nicht mehr dieses Gefühl haben wollen: Es gibt nur diesen dunklen Horizont, wir schieben da noch mehr Geld rein, und nirgendwo öffnet sich eine Tür. Auch für die Legitimitätsbeschaffung in Deutschland und in Europa brauchen wir eine Politik des Türenöffnens. Das heißt, dass ein belastbare Idee von Zukunft für Europa existiert. In zehn Jahren wird Europa noch 3,8 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Die Frage, wie der Kontinent sich in dieser geänderten globalen Lage behaupten will, stellt sich jedem, der nachdenkt.

Die Schuldenlast, die Griechenland angehäuft hat, ist so groß, dass es die Schulden niemals zurückzahlen kann, egal ob in Euro oder in Drachmen. Warum traut sich Merkel nicht, das ihren Bürgern zu sagen?
Das Problem gibt es in Spanien und Japan genauso. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann man das Rückzahlungsversprechen eines Landes erneuern? Es geht nicht darum, dass alles zurückgezahlt werden muss, das ist eine falsche Perspektive. Die Finanzmärkte wollen den Eindruck haben, dass Rückzahlungsversprechen eingehalten werden, dann sind sie auch bereit, frisches Geld zu geben.

Jürgen Habermas hat die EU-Politiker „Zombies“ genannt, weil sie nicht als Politiker, sondern als Fondsmanager auftreten würden. Hat er recht?
Nein. In seinem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ hat Habermas einige bemerkenswerte Dinge gesagt, die ich richtig finde. Über Mario Draghi, der als ehemaliger Manager bei der Investmentbank Goldman Sachs eine verantwortliche Politik für Europa macht. Aber eine globale Politikerschelte hilft überhaupt nicht weiter. Wir müssen uns klar darüber sein, wenn etwa die Franzosen den Eindruck haben, dass die „faulen Griechen“ ihnen das Geld wegnehmen würden, was da reingesteckt wurde, dann ist das die sperrangelweit geöffnete Tür für Marie Le Pen. Eine politische Ökonomie für Europa ist möglich.

Die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds agieren, ohne sich gegenüber Wählern legitimieren zu müssen. Ist ihre Macht zu groß?
Ich glaube, dass die Legitimation von Geldpolitik sich im Augenblick in einem ganz neuen Rahmen bewegt. Die Europäische Zentralbank betreibt seit fünf Jahren eine Politik der so genannten „unkonventionellen Maßnahmen“. Und ich kenne keinen ernstzunehmenden Ökonomen, der mir sagen könnte, wann diese Periode vorbei sein wird. Daran zeigt sich, dass eine einfache Legitimationslogik, die sagt: Für diesen oder jenen Plan bitten wir jetzt um das Einverständnis des Volkes, angesichts der ökonomischen Lage nur Sand in die Augen streuen würde. Worüber soll das Volk denn abstimmen? Darüber, dass die Sparanlagen in der privaten Rentenversicherung nicht geschmälert werden sollen durch Draghis Politik? Da würden natürlich alle sagen: Nein, wollen wir nicht. Aber die öffnende Politik der Europäischen Zentralbank wäre damit kaputt.

Habermas fordert die politische Stärkung Europas gegenüber den nationalen Einzelinteressen. Sie auch?
Die politische Stärkung Europas geht von der Europäischen Zentralbank aus. Dieser Gedanke wird noch kommen bei Jürgen Habermas. Der wichtigste politische Satz der letzten Jahre stammt von Mario Draghi: „Wir beschützen den Euro, was immer es dafür auch braucht.“ Diesen Satz zu sagen, natürlich mit Deckung der deutschen Kanzlerin, war 2012 ein eminenter politischer Akt. Die Zentralbank garantierte die Staatspapiere ihrer Mitgliedsstaaten. Daraufhin haben sich die Zahlen auf dem Finanzmarkt innerhalb von 40 Minuten gedreht.

Sie haben Merkel für ihr umsichtiges Verhalten in der Finanzkrise von 2008 gelobt. Loben Sie sie jetzt immer noch?
Sie führt ein Regime der ewigen Gegenwart und sagt: Ich löse die Probleme, wenn sie sich stellen. Mit Blick auf Europa funktioniert das nicht mehr. Es braucht jetzt Sätze, wenn nicht aus der Politik, dann aus der intellektuellen Klasse, die lauten: Hier öffnen wir Türen, hier glauben wir, dass Zukunft möglich ist.

Also Visionen?
Ich mag das Wort „Vision“ nicht. Ich meine eine makroökonomische Fantasie, die weiß, dass Zukunft sich nicht von selbst ergibt, sondern dass wir sie machen müssen.

Großbritannien will 2016 darüber abstimmen, ob es in der EU bleibt. Wenn es aussteigt – wäre dann Europa-Dämmerung?
Nein. Der Abbau von erwartbaren Veto-Positionen könnte Europa sogar nützen. Ich fände es nicht schlimm, wenn die Briten eine Zeit lang nicht mehr mitmachen wollten. In Dänemark, dem glücklichsten Land der Welt, hat eine rechtspopulistische Partei die Wahlen gewonnen. Wenn so eine Entwicklung Raum greift, wenn die Spanier eine Regierung bekommen, die der griechischen gleicht, und wenn in Frankreich Le Pen an die Macht kommt – dann muss man in einer ganz anderen Kulisse kühlen Kopf bewahren.

Ihr letztes Buch heißt „Gesellschaft der Angst“. Wovor fürchten sich die Deutschen am meisten: dem Eurocrash, dem IS oder einem Krieg mit Russland?
Die Deutschen haben die meiste Angst vor sich selber. Weil sie den Eindruck haben, wir sind plötzlich das mächtigste Land in Europa und es werden Dinge von uns erwartet, von denen wir nicht wissen, ob wir ihnen gerecht werden können. Man nennt das auch „Einflussangst“.

Heinz Bude, 61, ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen. Er lehrt an der Universität Kassel und hat Bücher über die 68er, Marx und die Bildungspanik veröffentlicht.

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