EU-Referendum in Großbritannien: Very well alone
Im kommenden Jahr sollen die Briten über ihre EU-Mitgliedschaft abstimmen. Eine Gruppe von Historikern sieht die Einheit Europas als Bedrohung - die Insel habe mit dem Kontinent ohnehin nie viel zu tun gehabt.
To be, or not to be – with them? Das ist die Frage, die auf der dem Kontinent vorgelagerten Insel nun von Monat zu Monat heftiger debattiert werden wird, bis irgendwann 2016 das EU-Referendum über die Bühne geht. Premier David Cameron hat im Wahlkampf versprochen, seine Briten über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen zu lassen. Es wird eine Art Kulturkampf werden zwischen den erklärten Insulanern („very well alone“) und denen, die ihr Land stärker europäisch definieren. In dem Meinungsstreit wird die Geschichte eine nicht unwesentliche Rolle spielen, wie das ist in einem Land, in dem historische Lektüre einen hohen Stellenwert hat, in dem Historiker eine ganz andere Aufmerksamkeit genießen als bei uns.
Zum Gedankengut der politischen Rechten in England gehört seit einiger Zeit, dass man separat stehe von Europa. Dass man eigentlich nicht dazugehöre, auch wenn man irgendwie damit zu tun habe. Widerwillig natürlich. Auch auch wenn es konservative Premiers von Macmillan und Heath über Thatcher bis Major waren, die für die wesentlichen Schritte der britischen Europa-Integration verantwortlich zeichneten. Wie in Deutschland im 19. Jahrhundert hat sich eine Sonderwegs-Idee herausgebildet, deren Anhänger davon überzeugt sind, dass der britische Weg durch die Geschichte erstens einzigartig und zweitens besser sei. Es ist eine Vorstellung, die der historischen Entwicklung Englands eine Art Vorbildcharakter zuweist – die im Übrigen auf dem Kontinent viele Freunde gefunden hat, links wie rechts. Parlamentarismus, Demokratie, politischer Kompromiss, Fairness im Meinungsstreit sind die Stichworte. „Schattenseiten“ werden aus diesem Geschichtsbild gern ausgeblendet - und dazu gehört bei manchen offenbar die enge Bindung an Europa, die, wenn man ehrlich ist, die britische Geschichte durchzieht wie ein roter Faden.
Sonderwegsthese im Meinungsstreit
Mit der Sonderwegsthese gehen im Referendumsstreit nun auch einige Historiker hausieren, die meinen, dass sich Großbritannien aus dem europäischen Geschäft zurückziehen sollte. Es sind vor all konservative Stimmen, darunter David Starkey und Andrew Roberts, dank Schreibeifer und TV-Auftritten prominent und einflussreich. Diese „Historians for Britain“ fürchten die „ever closer union“, die stärkere europäische Integration. Die einzigartige Kontinuität der britischen Geschichte werde dadurch gefährdet. Man sei zwar immer ein Partner in europäischen Dingen gewesen, aber niemals „full participant“, also integraler Teil. Der durchaus anerkannte Mittelmeer-Historiker David Abulafia, der Sprecher der Gruppe, sieht gar einen Versuch, eine künstliche europäische Identität zu erzeugen, durch eine „erfundene gemeinsame Geschichte“, die zu einem europäischen Bürgerschaftsgefühl führen solle. Schulbücher würden deswegen umgeschrieben. Die Wahrheit ist Abulafia zufolge aber, dass die Geschichte Europas „im großen Ausmaß eine Geschichte der Teilung, keine Geschichte der Einheit“ sei, wie er vor einiger Zeit dem "Daily Telegraph" sagte. Und wenn es eine Geschichte der Einheit gewesen sei, „wie wir sie unter Napoleon und Hitler oder unter den Sowjets in Osteuropa gesehen haben“, dann sei sie schrecklich fehlgegangen. Die EU ist nach dieser Lesart der nächste solche Irrweg. Doch von wem inszeniert?
Widerspruch gegen "little Englanders"
Andere Historiker widersprechen den Sonderwegs-Historikern freilich vehement (der in Deutschland bekannteste in dieser Gruppe ist Christopher Clark, dessen Buch "Die Schlafwandler" zum Ursprung des Ersten Weltkriegs in Deutschland auf großes Interesse stieß). Sie halten den „little Englanders“ vor, dass ihre etwas romantische Vorstellung von der Einzigartigkeit des britischen Herkommens nicht mehr ganz zum historischen Erkenntnisstand der letzten Jahrzehnte passe, der sich von der rein nationalen Sichtweise wegbewegt hat und nach europäischen und globalen Zusammenhänge sucht. Auch die britische Geschichte ist demnach europäischer, als man es auf der anderen Seite gerne hätte. Britanniens Vergangenheit, und damit auch die Zukunft, müsse verstanden werden „im Zusammenhang einer komplexen, chaotischen, aufregenden und vor allem kontinuierlichen Interaktion mit den europäischen Nachbarn“. Das ist es auch, was Cameron nun vor sich hat, wenn er die Bedingungen der britischen Mitgliedschaft in der EU neu verhandeln will.
Trotz allem eng verbandelt
Großbritannien war immer mit den kontinentalen Dingen in einem europäischen Zusammenhang eng verbandelt, und zwar nicht nur der häufigen Kriege wegen, die man sich in diesem Teil der Welt geliefert hat. Es war, im Sozialen, im Ökonomischen, im Politischen, im Ideologischen stets ein Geben und Nehmen - "give and take" zwischen den Nationen und Regionen ist ein Grundprinzip der Geschichte Europas und der Welt. Die europäische Aufklärung zum Beispiel ist ohne den britischen Beitrag gar nicht darzustellen, wie überhaupt das 18. Jahrhundert noch sehr europäisch gedacht hat. Die englische Revolution und der Dreißigjährige Krieg waren Auswüchse einer Europa gemeinsamen Krise im 17. Jahrhundert, beide Konflikte waren letztlich große politische Verfassungskonflikte mit weitreichenden Folgen. Schaut man sich die britische und deutsche Verfassungsentwicklung an, dann sieht man nicht nur einige Parallelen, sondern auch, dass historische Kontinuität keineswegs auf die Insel beschränkt ist – dort ist die Entwicklung des Parlaments ein roter Faden, ist bei uns die Entwicklung des Föderalen. Um ein aktuelles, wenn auch zeitlich fernes Jubiläumsbeispiel zu nehmen: Die Magna Charta von 1215 ist nicht nur ein Meilenstein der englischen Verfassungsgeschichte, sondern auch der europäischen. Parallel dazu gab es aber ganz ähnliche Streitereien zwischen Monarchen und Hochadel auch im mittelalterlichen deutschen Reich, zwischen den Wegmarken der Gelnhäuser Urkunde von 1180 und dem Mainzer Reichslandfrieden von 1235. Das Ergebnis: Hier wie dort setzte die Aristokratie der Monarchie Grenzen. Der Unterschied ist: In Großbritannien sieht man das bis heute als politischen Fortschritt, in Deutschland galt das lange als Defizit.