Euro-Sondergipfel zu Griechenland: Angela Merkel - Europas Entscheiderin
Im Griechenland-Drama ist wieder einmal Endspiel. Trotzdem ist diesmal etwas anders als bisher: Der Grexit ist möglich. Und am Ende wird es einzig an der deutschen Kanzlerin liegen, ob sie ihn zulässt oder nicht.
Die spannende Frage, sagt einer aus dem inneren Kreis der Hölle, die spannende Frage in diesen Tagen ist, ob die Griechen wirklich Poker spielen. Die Chefin ist sich da auch nicht sicher. Angela Merkel hat sich ein halbes Dutzend Mal mit Alexis Tsipras getroffen, inzwischen duzen die beiden sich. Und Merkel ist ja eigentlich jemand, die spätestens nach zehn Minuten ungefähr weiß, wen sie vor sich hat und wie sie ihn nehmen muss.
Aber diese Syriza-Griechen sind ein schwieriger Fall. Pokern sie? Glauben sie ihrer eigenen Ideologie? Oder sind sie schlicht überfordert? Von der Antwort hängt einiges ab, wenn das Griechenland-Drama jetzt ins Endspiel geht. Wieder mal Endspiel, muss man ja sagen, sicher nicht das letzte Mal, der antike Sisyphos lässt grüßen mit seinem Stein – trotzdem ist diesmal etwas anders als bisher. Der Grexit ist möglich. Und am Ende wird es einzig an der deutschen Kanzlerin liegen, ob sie ihn zulässt oder nicht.
Sie droht sanft, und sie kann pokern
Ende letzter Woche steht Merkel am Rednerpult im Reichstag und erklärt den Abgeordneten pflichtgemäß den kommenden EU-Gipfel. Das ist Routine immer hart an der Grenze zur Langeweile, obwohl es ja an sich durchaus interessant ist zu hören, dass die Bundeskanzlerin den Briten verspricht, man werde sich „ernsthaft und gewissenhaft“ mit ihren Forderungen auseinandersetzen, aber bei den „Grundprinzipien“ der Union, also etwa der Freizügigkeit, sei Schluss. Die Briten drohen mit Austritt aus der Gemeinschaft. Für die EU wäre das ein noch üblerer Schlag als der Ausstieg eines bankrotten Kleinstaats aus der gemeinsamen Währung.
Aber die Briten-Gefahr ist weit weg. Die andere ist nah. Ganz am Ende kommt Merkel darauf zu sprechen, „nur ein paar grundsätzliche Sätze“, weil, auf der Tagesordnung des Europäischen Rats stehe das Thema nicht. Genau genommen sind es nur vier Sätze. Sie gehen so: Europa ist heute sehr viel robuster als zu Beginn der Euro-Krise. Griechenland hat bisher ein beispielloses Maß an Solidarität erfahren. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und: „Wenn die Verantwortlichen in Griechenland diesen Willen aufbringen, ist eine Einigung mit den Institutionen immer noch möglich.“
Zusammengenommen ist das eine sanfte Drohung: Glaubt in Athen bitte nicht, wir halten euch um jeden Preis! Die Drohung wird verstärkt durch einen Satz, der fehlt. Der Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ist das sofort aufgefallen: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ – dies Mantra hat Merkel diesmal nicht vorgetragen. „Geht es nur noch um Haltungsnoten?“, empört sich Göring-Eckardt. Nicht mehr um ein Projekt Europa, nicht mal mehr um Schulden, sondern bloß noch darum, wer Schuld haben soll an einem Scheitern?
Im inneren Kreis der Hölle seufzen sie immer ein bisschen bei solchen Sätzen. Er ist klein, dieser Kreis, einige Leute im Kanzleramt, ein paar in der Fraktion, ein paar im Finanzministerium. Opposition müsste man manchmal sein, sagt das Seufzen. Natürlich geht es in diesem Endspiel auch um Gesichtswahrung und um Schuldzuschreibungen. Merkel will nicht als die Frau in die Geschichtsbücher eingehen, die mit all ihrer Macht nichts besseres anzufangen wusste als den Euro zu sprengen. Ein Grexit darf kein deutsches Gesicht tragen. Aber eigentlich darf es gar nicht so weit kommen, und das hat mit den Geschichtsbücher nur am Rande zu tun. Ohnehin haben alle, die Merkel gelegentlich aus der Nähe erleben, den klaren Eindruck, dass sich das deutsche Leitartiklertum weit mehr für ihren historischen Fußabdruck interessiert als sie selbst.
Lesen Sie, warum die Kanzlerin so vorsichtig ist
Ihre Sorgen liegen näher. Zum Beispiel die, dass niemand wirklich weiß, was eine Pleite Griechenlands bedeuten würde. Wer die Einschätzungen der Ökonomenzunft in Funk und Fernsehen verfolgt, kann zwischen „da passiert praktisch gar nichts“ und „das könnte auf andere Krisenstaaten übergreifen“ wählen. Merkel traut keiner von diesen Prognosen, und um so weniger, je selbstgewisser sie vorgetragen werden. Sie hat nicht vergessen, wie nach dem Lehman-Crash ein Wirtschaftweiser nach dem anderen ins Kanzleramt marschierte, jeder verschiedene Theorien über Gründe für das Beben vortrug, aber keiner eine einzige Idee, was als Nächstes zu tun sei.
Die Lage heute ist sicher anders. Das Bankensystem ist gegen einen Grexit ungleich besser abgefedert als vor ein paar Jahren. Die deutschen Banken haben ihre Depots von verdächtigen Papieren gereinigt, die griechischen Banken sind vom Weltsystem heute schon ziemlich weit abgeschottet. Aber die Physikerin scheut Versuchsanordnungen, die letztlich nicht kontrollierbar sind. Es könnte knallen.
Viele Zitate aus Athen lassen auch die Gutwilligen ratlos
Und da sind die vielfältigen großpolitischen und geostrategischen Risiken noch gar nicht eingerechnet. Was wäre das noch für ein Europa, das mit den Problemen eines seiner kleinsten Mitglieder nicht fertig wird? Welche Kräfte verschieben sich, wenn an der Nato-Südostflanke ein Mitglied als „failing state“ ums Überleben kämpfen muß? Aber Merkel spürt natürlich auch, dass diese Gründe schwächer werden, je länger sich das alles hinzieht. Gegen den Grexit zu sein wird gerade in hohem Tempo zur Minderheitenposition. Die Griechen haben daran einen dicken Anteil. Nahezu täglich kommen Zitate aus Athen, die auch Gutwillige hierzulande verzweifeln lassen. „Wieso sollen wir jemanden noch weiter helfen, der uns bespuckt und beschimpft?“ fragt ein Unionsabgeordneter, der bisher jedem Griechen-Paket zugestimmt hat. Vom Finanzminister Giannis Varoufakis erwartet keiner mehr anderes; selbst deutsche Regierungsleute fragen sich ja inzwischen, ob der Mann an Kompromissen überhaupt interessiert ist – die könnten schließlich seinen Ruf als unbeugsamer Popstar der Linksökonomie ankratzen. IWF-Chefin Christine Lagarde ätzte nach dem letzten gescheiterten Finanzministertreffen denn auch, notwendig sei ein Dialog „mit Erwachsenen im Raum“. Da hatte Varoufakis gerade wieder nichts weiter mitgebracht als einen längeren Vortrag darüber, warum praktisch alle außer ihm die Welt falsch sehen.
Aber auch sein Ministerpräsident lässt mittlerweile grenzwertige Sprüche los. Bis zu einem gewissen Grad konnte er damit bei deutschen Polit-Profis auf stilles Verständnis stoßen – der Mann habe es halt mit einem Haufen Spinner in der eigenen Partei zu tun, denen müsse er gelegentlich nach dem Mund reden. Als Tsipras aber vor kurzem Lagardes Internationalen Währungsfonds (IWF) als „kriminell“ bezeichnete, reichte es den Spitzen der Koalitionsfraktion in Berlin. „Die Bereitschaft zur Solidarität in Deutschland sinkt“, warnte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Unionskollege Volker Kauder ließ seinen Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer sogar verhalten drohen, „notfalls“ müsse man einen Grexit hinnehmen. Das galt freilich mehr den eigenen Leuten als den Griechen: Seht her, hieß die versteckte Botschaft bei Oppermann wie bei Grosse-Brömer, wir verstehen euren Unmut. Der ist groß, wenngleich nicht laut. In der letzten Sitzung der Unionsfraktion blieb er sogar völlig stumm, nachdem Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble knapp mitgeteilt hatten, in der Griechen-Sache gebe es nichts Neues mitzuteilen. Niemand meldete sich zu Wort. Nicht mal eine Anmerkung gab es.
Die CDU-Fraktion kann nicht wirklich Nein zur Kanzlerin sagen
Man könnte das Schweigen der Parlamentarier für die Ruhe vor dem Sturm halten; schließlich hatte es den bei der letzten Verlängerung des Griechenland-Pakets gegeben: mehr als 30 Nein-Stimmen und eine Hundertschaft persönlicher Erklärungen, die sich kurz in die Botschaft zusammenfassen ließen, das sei jetzt aber das letzte Mal. Plausibler ist trotzdem eine andere Deutung. In den Regierungsfraktionen gehen Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit um. Sie ahnen, dass sie gar nicht wirklich Nein sagen könnten zu ihrer Kanzlerin. Man muss sich nur mal Wolfgang Bosbach anschauen, um diesen Zwiespalt zu verstehen. Bosbach wird keinem neuen Griechen-Paket mehr zustimmen. Er<TH>wird nach dem Nein sein Mandat als Abgeordneter niederlegen. Aber der Christdemokrat will das um Himmels Willen nicht als Affront gegen die Chefin verstanden wissen, eher fast im Gegenteil. „Ich will nicht weiter die Kuh sein, die quer im Stall steht“, sagt er. Bosbach würde für seine Kanzlerin und Parteichefin in jede Schlacht ziehen, nur in diese eben nicht mehr. Und da geht er dann lieber gleich ganz.
Lesen Sie, warum Merkel vor allem in Tsipras Hoffnung setzt
Auch bei den anderen ist der Druck im Kessel groß. Und der Pott wird von außen nachgeheizt. Die „Bild“-Zeitung lässt die Flamme seit Wochen auflodern. Vorige Woche gipfelte die Kampagne gegen die „Pleite-Griechen“ in einer fiktiven Regierungserklärung, wie Merkel sie gefälligst halten solle, weil es jetzt reiche: Keine weiteren Hilfen mehr! Der Redenschreiber soll übrigens der Politikchef Bela Anda gewesen sein, im früheren Leben Gerhard Schröders Regierungssprecher. Schon deshalb hielt sich Merkel zwei Tage später im Bundestag nicht an den Text. Aber jeder ihrer Abgeordneten muss damit rechnen, dass sie ihm den zuhause im Wahlkreis unter die Nase reiben: Ja warum macht sie denn nicht einfach Schluss, deine Merkel?
Ein Grexit wäre ein langwieriges Verfahren mit unklarem Ausgang
Dahinter steckt eine tiefe Sehnsucht. Sie ist für Angela Merkel gefährlich, weil es genau diese Sehnsucht ist, die ihr vor zwei Jahren den Wahlsieg gesichert hat: die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden und Nicht-behelligt-werden mit den Problemen dieser Welt. Im deutschen Neo- Biedermeier will keiner hören, dass Krisen zäh und kompliziert sind. Sind sie aber. Nur begreift das kaum jemand. Es sei ja schon keinem zu erklären, stöhnt einer aus dem inneren Zirkel, „dass dieser wunderbare ’Grexit’ gar nicht ohne die Griechen geht“. Tatsächlich ist der Rauswurf aus dem Euro nirgendwo vorgesehen, die Athener Regierung müsste ihm zustimmen, wenn nicht sogar ihn selbst betreiben – da sind sich die Deuter der Verträge nicht ganz einig. Die populäre Vorstellung lautet ja, dass die anderen Euro-Länder den bockigen Griechen einfach den Stuhl vor die Tür stellen, und dann ist das Problem erledigt – abgesehen von ein paar Hilfslieferungen gegen die Hungersnot und dem bedauerlichen Umstand, dass wir unsere Milliardenbürgschaften in den Kaminrauch schreiben können.
Die populäre Vorstellung ist aber leider falsch. Ein Grexit wäre ein langwieriges Verfahren mit unklarem Ablauf und ungewissem Ende. Am Tag, an dem das Verhandeln abgebrochen würde, müsste es gleich wieder anfangen. Wer die ewig nervösen Börsen kennt, kann sich die Fieberkurven grob ausmalen, wenn sich der bisherige Glaube der Broker als falsch erwiese, dass es irgendwie wieder gut geht. Man wird bald wissen, ob es wieder irgendwie gegangen ist. Eher noch nicht am Montag, eher erst am Ende der Woche – gut möglich, dass dem ersten Euro-Sondergipfel ein zweiter folgen muss. Wenn die Griechen pokern, wäre das logisch: Man deckt die Karten erst zuletzt auf. Mit den geistesverwandten Zyprern war es genauso. „Die haben auch erst eingelenkt, als ihnen klar wurde, dass wir ihnen keinen Millimeter und keinen Tag mehr entgegenkommen“, sagt einer, der dabei war.
Wenn Alexis Tsipras vor seine Partei und sein Volk treten muss und sagen, dass er einiges erreicht hat, aber längst nicht das, was die Linkspopulisten im Wahlkampf versprochen haben – dann ist es rational, einen Showdown zu inszenieren. Merkel ist die letzte, die das nicht versteht. Die Kanzlerin der Nachtsitzungen nutzt den Mechanismus oft selbst. Aber das alles setzt eins voraus: dass die Griechen wirklich pokern, dass es also mit Vernunft zugeht. Sicher ist sich keiner ihrer Gegenüber. Jean-Claude Juncker ist es nicht mehr. Der EU-Kommissionschef war lange Tsipras’ Schutzengel. Inzwischen wirft er dem Premier vor, dass er zu Hause Lügen verbreite über die Angebote der Europäer. Martin Schulz ist auch nicht mehr sicher. Der EU-Parlamentspräsident versuchte sich als Vermittler – zwischendurch verzweifelte der Sozialdemokrat an „ideologischer Verbohrtheit“ in Athen. Die amtlichen Unterhändler sind erst recht nicht sicher. Anfangs, berichtet einer aus diesem Kreis, hatten die griechischen Abgesandten einfach keine Ahnung. Das habe sich geändert. „Die haben jetzt Zahlen“, sagt der Mann. „Aber sie wollen nicht.“
Scheitert der Euro, scheitert Merkel
Merkel hat die Hoffnung trotzdem nicht aufgegeben. Sie mag nicht glauben, dass dieser Alexis Tsipras ein Ideologe ist, der um linker Prinzipien Willen sein Land in den Notstand führt. In den Gesprächen der beiden hat der 41-Jährige auf sie jedenfalls nicht so gewirkt. Der junge Mann, hat sie einem Parteifreund erläutert, könne mit seiner Truppe vielleicht sogar das schlampige Klientelsystem seiner Vorgänger aufbrechen, das noch aus osmanischen Zeiten stammt.
Am Sonntagmorgen, am Tag vor dem Sondergipfel, telefonierte Tsipras nochmals mit Merkel. Man wird nun sehen, ob die Hoffnung der Kanzlerin berechtigt ist. Denn mehr als eine Hoffnung ist das nicht. Mehr als Hoffnung bleibt auch nicht. Merkel weiß, dass sie alles versuchen muss, aber nicht um jeden Preis. Der Grexit kann das Ende des Euro einleiten, ihn mit falschen Mitteln zu vermeiden auch. Nur eins ist gewiss: Scheitert der Euro, scheitert Merkel.
Der Autor ist Reporter im Tagesspiegel-Ressort Hauptstadtbüro/Agenda. Der Text erscheint auf der Seite Drei, der Reportageseite der Zeitung.