Comicszene: Ein Spitzenjahrgang
25.000 Besucher, hochkarätige Neuerscheinungen - und Verlage, die sich nicht mehr bekämpfen, sondern kooperieren: Der Comicsalon, die wichtigste deutschsprachige Veranstaltung für grafische Literatur, schließt mit einer positiven Bilanz. Und wir verschenken exklusive Comiczeitungen an unsere Leser.
Eine Verlagsvertreterin aus Berlin hatte am Schluss des Comicsalons Erlangen ein Problem: In der Podiumsdiskussion zum Ende des alle zwei Jahre stattfindenden Festivals wollte sie als geladene Rednerin neben den üblichen freundlichen Worten auch mal etwas Negatives sagen. Allein, ihr fiel nichts ein.
So ging es am Ende des größten Festivals der deutsprachigen Comicliteratur vielen Teilnehmern: Erschöpft, aber zufrieden zogen auch die Veranstalter vom Kulturbüro Erlangen Bilanz. Danach kamen rund 25.000 Besucher, etwas mehr als vor zwei Jahren. „Dabei ist auffällig, dass das Publikum sich nicht nur stark verjüngt hat, sondern dass auch zunehmend neue Zielgruppen für die grafische Literatur erschlossen werden konnten“, haben die Organisatoren festgestellt: „So lebendig und vielfältig sich die deutsche Comic-Szene derzeit präsentiert, so bunt gemischt stellte sich das Publikum in diesem Jahr dar: klassische Comic-Sammler, Manga-Fans in Cosplay-Kostümen, junge Literatur-interessierte Leserinnen und Leser von Graphic-Novels, Kunst-Interessierte in den Ausstellungen ... und - auch das ist eine bemerkenswerte Entwicklung - zunehmend weibliche Besucherinnen, Kinder und Jugendliche.“
Nach 20 Jahren Pause meldet sich Szene-Star Matthias Schultheiss zurück
Hunderte Zeichner aus Deutschland, dem europäischen Ausland und den USA erfreuten die Fans mit Originalwerken und Signaturen, es gab an Dutzenden Verlagsständen viele Neuheiten zu entdecken, die wir nach und nach in den kommenden Wochen auch auf den Tagesspiegel-Comicseiten vorstellen werden. Auch werden wir in den nächsten Wochen nach und nach exklusive Interviews im Tagesspiegel mit Künstlern bringen, die in Erlangen ihre oft mit großer Spannung erwarteten neuen Werke vorstellen, so die deutsche Comic-Legende Matthias Schultheiss, der nach zwanzig Jahren Abstinenz vom deutschen Comic-Markt mit der neuen, erzählerisch und visuell beeindruckenden Graphic Novel „Die Reise mit Bill“ zurückgekehrt ist.
Aus Sicht der Veranstalter ist in diesem Jahr besonders das „neue Selbstbewusstsein“ der deutschen Szene auffällig. „Noch vor wenigen Jahren wäre ein erfolgreicher Comic-Salon mit wenigen internationalen Stars nicht denkbar gewesen. Inzwischen hat die deutschsprachige Szene ihre eigenen Stars, die beim Internationalen Comic-Salon in Erlangen gefeiert werden.“
Erdgeschichte, Religion und brillante Geschmacklosigkeit
Das wurde besonders bei der feierlichen Verleihung der wichtigsten deutschen Comic-Auszeichnung deutlich, dem Max-und-Moritz-Preis.
Für Literaturkritiker Denis Scheck ist es ein „titanisches Werk“, das am Freitagabend beim Comicsalon Erlangen den Max-und-Moritz-Preis für den besten deutschsprachigen Comic erhielt. Das kolossale Lob von Scheck, zusammen mit Hella von Sinnen Moderator der feierlichen Preisverleihung, galt dem Buch „Alpha –Directions“ von Jens Harder – einer mit knappen Texten angereicherten Bildergeschichte, die nach ihrem Debüt in Frankreich vor eineinhalb Jahren erst vor wenigen Tagen auf Deutsch erschienen ist und nun gleich den wichtigsten Preis für deutschsprachige Comics abräumte. Konzeptionell überzeugend und erzählerisch virtuos visualisiert der Berliner Zeicher in „Alpha“ die naturwissenschaftlichen Erklärungen der Entstehung unseres Planeten und kombiniert sie mit kulturgeschichtlichen und religiösen Exkursen. Mehr dazu unter diesem Link sowie hier.
Bei den übrigen Preisträgern wechselten sich alte Bekannte und erfrischende Neuentdeckungen ab. Den Preis für den besten Comicstrip erhielt Ralf König für seine zuerst in der F.A.Z. veröffentlichten und inzwischen als Bücher vorliegenden religionskritischen Serien „Prototyp“ und „Archetyp“. Es ist für König bereits der dritte Max-und-Moritz-Preis.
Ein herausragendes Beispiel für die Schaffenskraft von Grafikstudenten im Bereich Comics ist das an der Hochschule Ausgburg erscheinende Magazin „Strichnin“, das sequentielle Bildgeschichten von Nachwuchszeichnern vereint. Es wurde mit dem Preis für die beste studentische Comicpublikation ausgezeichnet.
Die Berliner Illustratorin und Grafikerin Nadia Budde bekam den Preis für den besten Comic für Kinder für ihre autobiografische Episodensammlung „Such dir was aus, aber beeil Dich“.
Den Preis für den besten internationalen Comic erhielt der französische Zeichner Winshluss für seine moderne Adaption des Kinderbuchklassikers „Pinocchio“, der nach Ansicht des Laudators Christian Gasser ein „atemloses und brillantes, oft geschmackloses und provokatives Abenteuer“ präsentiert.
Ulli Lust gewinnt gleich zwei Mal
Neu war in diesem Jahr der Publikumspreis, über den zuvor via Internet abgestimmt werden konnte. Hier landete die Berliner Zeichnerin Ulli Lust mit ihrer autobiographischen Erzählung „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ auf dem ersten Platz. Ihr Buch hatte am Abend zuvor bereits den Preis für den besten Independent-Comic des Jahres bekommen, mehr dazu weiter unten.
Der Spezialpreis der Jury ging an die neu aufgelegten Comic-Klassiker von Will Eisner, dem US-Zeichner, der als einer der Pioniere der literarischen Bilderzählung gilt. Seine Werke werden derzeit bei Salleck-Publications („The Spirit“) und Carlsen neu herausgegeben.
Für sein Lebenswerk wurde der Comic-Autor Pierre Christin mit einem Max-und-Moritz-Preis geehrt. Er hat mehr als 80 Alben und Bücher geschrieben, darunter viele mit gesellschaftskritischen Themen. Für Moderator Denis Scheck ist Christin „der Mann, der die Comics politisierte“.
Einen Preis ermittelte die aus Journalisten und anderen Comic-Experten bestehende Jury am Abend spontan durch eine Kampfabstimmung. Der Preis für den besten deutschen Comickünstler geht an den Wiener Zeichner Nicolas Mahler, der kürzlich unter anderem die minimalistisch-absurde Superhelden-Persiflage „Engelmann“ vorgelegt hat.
Eine weitere neue Auszeichnung trägt den Titel „Francomics“. Sie wird fortan an französische Comics vergeben, von denen sich eine aus Schülern bestehende Jury eine deutsche Übersetzung wünscht. Am Freitag wurde sie den Franzosen Sti und Pahé für ihr Buch „Dipoula“ verliehen, eine humoristische Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus.
Berliner Zeichner räumen ab
Am Abend zuvor waren bereits andere wichtige Ehrungen vergeben worden. Der vom Interessenverband Comic (Icom) verliehene Preis für den besten Independent-Comic 2010 ging wie erwähnt an die Berliner Zeichnerin und Autorin Ulli Lust, die in ihrem autobiografischen Coming-of-Age-Comic „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ in ausdrucksstarken Bildern die Geschichte einer alptraumhaft missglückten Urlaubsreise und mittelbar auch ihrer Selbstfindung erzählt.
Weitere Auszeichnungen vergab die Icom-Jury an Simon Schwarz aus Hamburg, der für die Aufarbeitung seiner deutsch-deutschen Familiengeschichte in dem Buch „Drüben“ den Preis für das herausragende Szenario erhielt, sowie an die Berlinerin Katharina Greve (Preis für herausragendes Artwork für ihre im Berliner Fernsehturm spielende Erzählung „Ein Mann geht an die Decke“). Einen Sonderpreis für die bemerkenswerteste Comicpublikation erhielten die Herausgeberinnen der Anthologie „Spring“ für ihr sechstes Heft.
Als bester Kurz-Comic wurde eine Arbeit des Herausgebers der in Berlin produzierten Zeitschrift „Epidermophytie“, Andreas „Aha“ Hartung, in einer dem Zeichner Levin Kurio gewidmeten Anthologie seines Magazins geehrt. Und der Sonderpreis für besondere Leistungen ging an Vicky Danko, Beatrice Beckmann und Olivia Vieweg für ihren Einsatz für die unabhängige Manga-Szene. Sie geben unter anderem die Manga-Anthologien „Paper Theatre“ und „Blütenträume“ heraus.
„Erlanger Comic-Blätter“ und neue Comic-Zeitschrift gratis abzugeben!
Erfreuliche Besucherzahlen melden die Veranstalter nicht nur für die Preisverleihungen und die Messe im Kongresszentrum in der Innenstadt, den Kern des Salons. Auch die rund 30 Ausstellungen in der ganzen Erlanger Innenstadt zogen viele Neugierige an, darunter auch eine Ausstellung zum Thema Comics in Zeitungen, bei der der Tagesspiegel und die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Zentrum standen. Dort waren unter anderem die Tagesspiegel-Strips der Zeichner Mawil, Flix, Arne Bellstorf und Tim Dinter zu sehen, dazu seltene Vorzeichnungen und Originale.
Als Begleitung der Ausstellung erscheint eine einmalige Ausgabe der „Erlanger Comic-Blätter“, eine Sonderausgabe mit Nachdrucken von Tagesspiegel-Strips sowie anderen Zeitungs-Comics von Ralf König oder der Reihe „Im Museum“ von Sascha Hommer und Jan-Frederik Bandel. Wir vergeben unter unseren Lesern gratis druckfrische Exemplare dieser einmaligen Comic-Zeitung. Ebenso verteilen wir Exemplare der ersten Ausgabe einer neuen Comiczeitschrift namens Comix, die von jetzt an regelmäßig neue Strips vielversprechender Zeichner publizieren will und über den Fachhandel erhältlich sein wird. Dahinter steht einer der wichtigsten Strippenzieher der deutschen Comiclandschaft, Martin Jurgeit, der unter anderem auch Chefredakteur des Fachblattes „Comixene“ ist.
Wer je ein Exemplar dieser beiden Comic-Zeitungen bekommen möchte, sende einen ausreichend frankierten und an sich selbst adressierten Rückumschlag (DIN A 4) per Post an den Tagesspiegel, z. Hd. Lars von Törne, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin.
Jetzt vormerken: Der nächste Comicsalon läuft vom 7. bis 10. Juni 2012
„Offensichtlich wächst das Bedürfnis des Publikums, sich vertiefend mit dem Medium Comic auseinander zu setzen“, resümieren die Veranstalter. „So waren alle angebotenen Führungen durch Ausstellungen gut besucht und das Comic-Podium, das sich in Vorträgen, Gesprächsrunden und Podiumsdiskussionen mit vielen Aspekten der Comic-Kunst und des Comic-Markts auseinander setzte – unter anderem mit einer Vortragsreihe über Comic und Politik – hatte alleine weit über 2000 Besucher.“ Auf einer dieser Veranstaltungen, der so genannten Elefantenrunde, tauschten sich die Chefs der wichtigsten deutschen Comicverlage über die Perspektiven der Branche aus. Bemerkenswert war dabei, wie sehr sie auf Kooperation statt wie früher Konfrontation setzen. So bekräftigten alle ihre Entschlossenheit, den Anfang Mai erstmals gemeinsam veranstalteten Gratis-Comic-Tag auch in den kommenden Jahren fortzusetzen und zu erweitern, um mehr neue Leser jenseits der eingefleischten Fankreis zu erreichen.
Der nächste Internationale Comic-Salon findet turnusmäßig wieder in zwei Jahren statt, vom 7. bis 10. Juni 2012.
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