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Mordmaschine. Der Comic kommt fast völlig ohne Worte aus.
© Avant

Modernisierter Klassiker: Spielland ist abgebrannt

Brutal, gnadenlos und voller Überraschungen: Winshluss' Neuinterpretation des Kinderbuchklassikers „Pinocchio“ gewann den Max-und-Moritz-Preis für den besten internationalen Comic beim Comicsalon Erlangen.

Ein Comic wie eine Kneipenkeilerei: Schamlos, bösartig, frei von Regeln und Beschränkungen. Von der literarischen Vorlage blieben nur Bruchstücke erhalten und selbst diese werden mit großem Genuss überzeichnet und entstellt. Winshluss' Adaption von „Pinocchio“, der jetzt mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet wurde (mehr dazu hier), ist eine Reise ans Ende einer Regennacht, ein rasanter Abstieg in die unteren Höllenkreise. Gute Feen sucht man man hier vergebens, man findet höchstens ein paar überpotente Zwerge und selbst ihnen möchte man nicht wirklich begegnen. Der altbekannte italienische Kinderbuchklassiker wird einer Überarbeitung unterworfen, welche man nur noch als bitterböse Satire mit hämischer Sympathie fürs Zynische bezeichnen kann, keiner der Beteiligten bleibt heil.

Meister Geppetto ist kein großherziger, ältlicher Gutmensch mehr, sondern ein geldgieriger, hochgradig amoralischer Waffenentwickler, der seinen hölzernen Kriegsautomaten gerne schnellstmöglich und gewinnbringend an den nächsten General verschachern möchte. Winshluss, der in Deutschland durch seine Mitarbeit an der filmischen Adaption von Marjane Satrapis Comic „Persepolis“ zu Bekanntheit kam, der eine elegante, subtile und formvollendeten Trickfilmumsetzung schuf, ist in diesem Falle kein Freund der leisen Töne. Der Comic ist schrill, grausam, stellenweise abstoßend und oszilliert visuell so stark zwischen verschiedenen Vorbildern und Schulen, dass es schwer fällt ihn zu fassen.

Vom Sexspielzeug zum Mörder

Die Zeichnungen bewegen sich zwischen Spiegelman und Crumb, parodieren hier und da sehr bösartig den Strich der bekannten Disneyadaption und bestechen durch ihren unberechenbaren Wandel in Bild- und Seitengestaltung. Dieser Sachverhalt kommt in der nahezu luxuriöse Aufmachung des großformatigen Comics sehr gut zur Geltung, mit den Maßen 29 x 21,4 cm wirkt er ohnehin eher wie ein antiker Foliant.

Abstieg in die unteren Höllenkreise. Eine Seite aus dem besprochenen Band.
Abstieg in die unteren Höllenkreise. Eine Seite aus dem besprochenen Band.
© Avant

Das Titelbild wiederum ist auch eine grandiose Hinterhältigkeit, denn die opulente, nostalgische Codes aufrufende Covergestaltung täuscht, die Harmlosigkeit entweicht dem Comic bereits nach wenigen Seiten, wenn Pinocchio, in seiner kindlichen Naivität zum Sexspielzeug missbraucht, einen unbeabsichtigten Mord begeht. Und nun beginnt der Reigen, welcher hinab führt in die Dunkel des 21. Jahrhunderts, welcher flankiert wird von ökologischen Irrsinnstaaten, Kinderarbeit und -ausbeutung, sexueller Gewalt und noch unzerbrochenen Träumen.

In dieser modernen Variante des Märchens ist der Automat, der so gerne lebendig wäre, ein Verstoßener, ein Herumirrender und dieser Suchende wird im Gegensatz zur pädagogisch argumentierenden Vorlage ihres ursprünglichen Autors Carlo Collodi nicht von helfenden Feen unterstützt, welche ihn zurückführen auf den rechten Weg, sondern ist völlig auf sich alleine gestellt, ein Straßenjunge aus Holz eben.

Enttäuschte Träume, brutale Konsequenzen

Als er später auf Kerzendocht trifft, bilden diese beiden ungleichen Figuren ein Duo, welches sich - ganz vorlagenkonform - aufmacht, um das Spielland (hier die Zauberinsel) zu suchen. Kerzendocht ist jedoch kein idealtypisch gesetzter Tunichtgut, sondern ein Opfer seines Schicksals. Seine abwärtsgerichtete Spirale begann mit einem gewalttätigem Vater, es folgten das Ausreißen, der Jugendarrest, in welchem er von Mitgefangenen malträtiert und misshandelt wurde, erneute Flucht, Hunger, Entbehrung und die Notwehrtötung eines Sexualtäters. All dies schildert er dem Puppenjunge in einer Nacht, in 32 Bildern auf dreieinhalb Seiten - ganz ohne Worte.

Wohlfeile Verpackung, bösartiger Inhalt. Das Cover des Buches.
Wohlfeile Verpackung, bösartiger Inhalt. Das Cover des Buches.
© Avant

Denn dies ist die unbestreitbare Finesse des Comics, er kommt - sieht man von den collagierten Einschüben einer Nebenhandlung rund um Jiminy Cricket ab - vollkommen ohne Worte aus. Dies macht ihn möglicherweise auch so beispiellos brutal, hier dient die Schriftlichkeit nicht als distanzierendes Element, alles ist unmittelbar, direkt und selbst angeschnittene Themenfelder, wie Kerzendochts Fastvergewaltigung verstören. Ebenso gnadenlos werden die Träume der beiden enttäuscht, Spielland ist ein herunter gekommener Ort, voller hungernder Kinder, ohne Perspektive und Zuversicht. Dass ein solcher Zustand der Nährboden für Radikalismus ist, muss nicht mehr dargelegt werden.

Aber eben hier gelingt Winshluss ein besonderer thematischer Kniff. Der Autor der literarischen Vorlage war Italiener, daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Tribun, welcher im Zirkus die Kinder becirct, Züge einer prominenten historischen Figur trägt, seine Gestik verdächtig vertraut erscheint und sein Ziel altbekannt ist.

Ein Hieb in die Magengrube

Anders als in der Vorlage werden die Kinder nicht in Esel verwandelt, sondern vielmehr in aufgehetzte Werwölfe, welche waffenstarrend die nächste Festung schleifen. Einzig der Holzkopf bleibt immun und so widerfährt ihm ein Schicksal, von welchem auch das Buch berichtet, er wird an einen Baum gebunden, hier jedoch wird er aufgeknüpft, da er nutzlos war für die Armee der Wölfe. Diese sehr freie Adaption des Kinderbuchklassikers bringt einige unerwartete Saiten zum Klingen und ist in ihrer wohlfeilen Verpackung überraschend bösartig. An dunklen Tagen ist der finstere, unverschnitten bösartige Humor eine Wohltat, an anderen ein weckender Hieb in die Magengrube.

Winshluss: Pinocchio, 192 Seiten, 29,95 Euro, Avant-Verlag.

Mehr von unserem Autor Markus Dewes finden Sie auf seinem Blog derdigitaleflaneur.blogspot.com, mehr seiner Beiträge für den Tagesspiegel gibt es unter diesem Link.

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