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Er lehrt die Menschen neu sehen.
© Alberto Cristofari/A3/contrasto/

Laudatio auf Neil MacGregor: Ein Haus voller Welt für die Welt

Aufklärungsarbeiter, Museumspionier, Sprachenliebhaber: Klaus-Dieter Lehmanns Laudatio auf den Gründungsintendanten des Berliner Humboldtforums Neil MacGregor.

Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts und früherer Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gilt als Erfinder der Humboldtforum-Idee. Umso schöner, dass ausgerechnet er vergangene Woche die Laudatio auf Neil McGregor gehalten hat. Der Gründungsintendant des Humboldtforums im Schloss erhielt den Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Die Auszeichnung für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland wurde bei der Frühjahrstagung der Akademie in London verliehen. Wir drucken eine geringfügig gekürzte Version der Preisrede.

Neil MacGregor ist ein idealer Preisträger. Selten gibt es eine solche Übereinstimmung aller Facetten von Person, Institution, Zeitgeschehen, Expertise und vitalem öffentlichen Interesse. Bis Ende Januar zeigte das British Museum die Ausstellung „Germany. Memories of a Nation“. Zweihundert Objekte – und plötzlich ist Deutschland ganz anders!

MacGregor bringt diese Objekte zum Sprechen, sie werden zum Mittelpunkt von Geschichten, sie legen assoziative Verknüpfungen, die vorher so nicht wahrgenommen wurden. Es entsteht ein differenziertes Bild von Deutschland, einerseits das Land in der europäischen Mitte, das viele Einflüsse aufnimmt und eine reichhaltige, vielfältige Kultur- und Geistesgeschichte besitzt, andererseits der absolute zivilisatorische Bruch der jüngeren Geschichte, der zur Tabuisierung der Deutschen mit der eigenen Geschichte und Erinnerung führte und durch den die Lebenswelten kontaminiert wurden.

Die Neuerfindung des British Museum

Für die Briten, für die Deutschland weitgehend ein unbekanntes Land ist, die ein Deutschlandbild von vor 70 Jahren konserviert haben, schafft Neil MacGregor Zugänge zur Vergangenheit und leistet die Übersetzung in unsere heutige Zeit. Diese Aufklärungsarbeit sieht er als Aufgabe von Museen. Und er trifft die Erwartung der Besucher. Wieder schrieb das British Museum Rekordzahlen!

Kaum waren die Begeisterungsstürme vorbei, kam die neue Sensation. Neil MacGregor wechselt von London nach Berlin und wird dort Gründungsintendant des Humboldtforums, als primus inter pares mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp und dem derzeitigen Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, zunächst mit einem Auftrag für zwei Jahre.

Das Richtfest des wieder aufzubauenden Schlosses als Ort des Humboldtforums wird im Juni 2015 sein, die Eröffnung 2019. Keine Frage, er ist der richtige Mann am richtigen Ort, und die Zeit drängt. So wie er die Wiedererweckung oder Neuerfindung des British Museum geleistet hat, so erhofft man sich in Berlin von ihm eine Klärung der Aufgabenstellung und der Strukturen, eine Aufbruchsstimmung für das größte europäische Kulturprojekt, das weltumspannend über die umfangreichsten Sammlungen zu den außereuropäischen Kulturen verfügt.

Sein Ansatz der Aufklärung und der Emanzipation sind der Grundgedanke des Humboldtforums. Seine Weltneugier und seine Wissbegierde, seine Fähigkeit, Fragen an und aus den Sammlungen zu stellen und so die Objekte zum Sprechen zu bringen, seine internationale Vernetzung, seine Einstellung, Kulturen nicht hierarchisch vermessend und bewertend sondern vergleichend zu sehen, das alles zeigt eine große Nähe zu Wilhelm und Alexander von Humboldt, die letztlich die Namensgeber sind.

Glaubwürdigkeit und Legitimation

Er definierte einmal das British Museum als ein Museum der Welt für die Welt. Genau das bezeichnet die Verantwortung, die für die Weltkulturen übernommen werden muss. Diese Verantwortung muss auch die Leitlinie des Humboldtforums sein. Aus dieser Glaubwürdigkeit erwächst die Legitimation, den Besuchern die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen, selbst zu entscheiden, womit sie einverstanden sind oder nicht, zu verstehen, was uns verbindet und was uns trennt. Der Besuch des Humboldtforums soll eine Expedition in die Moderne ermöglichen, mit dem Wissen der Vergangenheit. Es geht um Antworten für das 21. Jahrhundert.

Ich hatte die Gelegenheit, die Idee des Humboldtforums erstmals im Jahr 2000 öffentlich zu formulieren. Der Deutsche Bundestag hat sie sich anschließend zu eigen gemacht. Es hat einige Jahre gedauert, bis alle Entscheidungen getroffen waren. Jetzt werden die Weltkulturen den vornehmsten Platz in der Mitte Berlins bestimmen, nicht wie früher die Politik. Das ist ein großartiges Signal an die Welt.

Einflussreiches Konzept der Aufklärung

Das Humboldtforum liegt gegenüber der Museumsinsel, entstanden von 1830 bis 1930, die als kulturelles Ensemble das Werden Europas erzählt, 6000 Jahre Menschheitsgeschichte. Damit ergibt sich die einzigartige Chance eines direkten Dialogs aller Kulturen. Wie viel Aufklärung die außereuropäischen Sammlungen der Berliner Museen angesichts der Debatten über Migration, Integration und einem bevorzugt auf Ökonomie basierenden Verständnis stiften könnten, macht Neil MacGregors Einstellung deutlich.

Er sagt: „Museen sind keine Einrichtungen für historische Archäologie, Kunstgeschichte oder Botanik. Sie sind natürlich auch all das, aber vor allem sind sie ein Mittel, wodurch wir unsere Welt besser verstehen können. Dahinter steckt die Idee, sich auf eine Reise durch die Exponate zu begeben, um die Welt, und vor allem uns selbst, mit anderen Augen zu sehen.“ Er nutzt den Reichtum der Sammlungen, setzt Material zu Material in Beziehung, entdeckt, interpretiert, formuliert und überträgt in anschauliche Geschichten.

Konzept der Aufklärung

Als ich 1998 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wurde, war meine vornehmste Aufgabe die Wiederherstellung der Museumsinsel. Die Gebäude waren im Zweiten Weltkrieg stark zerstört worden und noch immer teilweise Ruinen oder notdürftig hergerichtet. Die Wiedervereinigung gab uns die Chance, daraus wieder das Herz Berlins zu gestalten, nicht als nationales Monument, sondern als persönliche Entdeckung und Erfahrung.

Neil MacGregor hat das intellektuelle Modell der Museumsinsel als das einflussreichste Konzept der Aufklärung bezeichnet und als Vorbild der Museen in London, Paris, New York und St. Petersburg herausgestellt. Er hat es sich nicht nehmen lassen, immer wieder über die laufende Restaurierung zu schreiben und zu sprechen, an Kolloquien in Berlin aktiv teilzunehmen.

Besonders eindrucksvoll war für mich die Zusammenarbeit mit ihm bei einer Ausstellung in der National Gallery London im Jahr 2001. Er war damals ihr Direktor. Die Alte Nationalgalerie in Berlin musste wegen der Sanierung geschlossen werden und wir hatten uns entschieden, die Meisterwerke des 19. Jahrhunderts auf Welttournee zu schicken. Unter dem Titel „Spirit of an Age“ waren knapp hundert Gemälde zu sehen.

Die Ausstellung eröffneten Königin Elisabeth II. und Bundespräsident Rau am 7. März. Caspar David Friedrich, Adolph Menzel, Carl Blechen, Eduard Gärtner – eine großartige Präsentation. Nur in England war das 19. Jahrhundert der deutschen Kunst gänzlich unbekannt. Der Erste Weltkrieg hatte die Rezeption in England unterbunden, sie wurde auch in den folgenden Jahren nicht wieder belebt. Es war Neil MacGregor, der in Interviews und Artikeln, in Fernsehauftritten und Radiosendungen dieses Jahrhundert für das Publikum erstmals wieder erschloss.

Neil MacGregor und die Sprachen

Damals begriff ich, dass Neil MacGregor es nicht nur versteht, die Menschen immer wieder neu sehen zu lehren, die Aura und Faszination der Bilder herauszuarbeiten. Sondern auch, dass die Sprache und das Wort für ihn ein ungemein wichtiges und kunstvolles Werkzeug darstellen, das Wissen, Denken und Fühlen miteinander verbindet. Peter-Klaus Schuster, früher Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, hat mir vom Geheimnis der besonderen Beziehung Neil MacGregors zu Sprachen erzählt.

Mit sieben Jahren hat Neil im British Museum den berühmten Rosetta-Stein berührt. Es war wie ein Initiationsakt zur Sprachliebe. Der Stein, der um 200 vor Christus ein Dekret des ägyptischen Königs Ptolemaeus V. in drei Schriftsystemen darstellt, in Hieroglyphen, in demotischem Ägyptisch und in Griechisch, war dank seiner Synopsis zum Schlüssel der Entzifferung der Hieroglyphen durch den Franzosen Champollion geworden, kurz nach 1820. Die Welt des Alten Ägypten war plötzlich lesbar durch ein Objekt im British Museum.

Inspiriert vom Rosetta-Stein, studierte Neil MacGregor Deutsch und Französisch in Oxford, Philosophie in Paris und schließlich Jura in Edinburgh. Erst 1972 wechselte er zu den Kunstwissenschaften. 1987 wurde er dann aus dem Stand heraus Direktor der National Gallery in London, der er bis 2002 vorstand. Sie entwickelte sich zu einer Kulteinrichtung mit exponenziell wachsenden Besucherzahlen, besonders durch das Interesse der jungen Leute an den Alten Meistern.

Beim British Museum gelang ihm abermals ein einzigartiger Aufschwung. Er vertraut auf die Sprachmacht und Bildkraft der Objekte. Nicht kunsthistorische Korrektheit allein, sondern die Vielfalt möglicher Deutungen dem Publikum zu eröffnen, das ist der spannende Umgang. Und er vertraut auf die Bildungsmacht der Kunst. Damit ist er ganz nah bei den Idealen der Weimarer Klassik.

Herkunft und Zukunft

Die Briten hätten ihn gern ganz und gar und für immer auf der Insel behalten. So schrieb der „Guardian“ im Januar: Er solle, geschützt vom britischen Treasure Act, zum nationalen Schatz erklärt werden. Der gilt jedoch nicht für Personen – zum Glück für uns in Deutschland. Aber letztlich war Neil MacGregor nie ein Inselbewohner in autonomer Abgeschiedenheit. Er hat immer die Idee einer gemeinsamen Welt verhandelt, in der Verschiedenheit, aber auch in der Koexistenz. Sein BBC-Hörfunk-Projekt „A History of the World in 100 Objects“, bei dem er in 20 Wochen täglich 15 Minuten lang ein in seiner Biografie wichtiges Objekt darstellte, fesselte weltweit ein Millionenpublikum. Das Buch ist ein Bestseller geworden.

Er wird auch als Schlossherr in Berlin weiter in diesem Format die Welt der Kultur und Kunst und der menschlichen Zivilisation vermitteln. Eine Kostprobe wird es beim Weimarer Kunstfest in diesem Sommer geben. Dort wird Neil MacGregor eine Performance mit einer Auswahl von Sammlungsgegenständen gestalten, die aus dem Weimarer Umfeld stammen, vielleicht Goethe, Bauhaus, Buchenwald. Dieses deutsche Dilemma hat er bereits in der Deutschland-Ausstellung im British Museum zum Thema gemacht.

Es ist erstaunlich zu erleben, welche Faszination reale Objekte in unserer digitalen Welt ausüben und wie packend mit ihnen Geschichten erzählt werden können, die Herkunft und Zukunft verbinden. Darin liegt auch die Stärke des Humboldtforums, das den Reichtum der Berliner Sammlungen mit ihren Objekten nutzen wird. Durch ein internationales Netzwerk von Partnern wird es aber auch einen ständigen Zufluss von Wissen und Erfahrung erfahren und damit die Zeitgenossenschaft akzentuieren.

Klaus-Dieter Lehmann

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