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Abzeichnung. In der Londonder National Gallery lässt sich von den Größten lernen.
© koolfilm

Museumsdoku "National Gallery" von Fred Wiseman: Das delikate Leben der Bilder

Regisseur Frederick Wiseman hat mit seiner Dokumentation „National Gallery“ sein erstes Museumsstück abgeliefert - und führt klug durch Londons Schatzhaus.

Museen sind populär, auch als Sujet filmdokumentarischer Arbeiten. So wurden in den letzten Jahren der Louvre, das Kunsthistorische Museum Wien und das Grassi-Museum von Filmemachern wie James Benning, Johannes Holzhausen, Nicolas Philibert oder Tamara Wyss besucht. Die Konzepte reichen vom fast Abstrakten bis zur kritischen Analyse völkerkundlicher Ausstellungskonzepte. Nun hat auch der US-amerikanische Direct-Cinema-Altmeister Frederick Wiseman sein erstes Museumsstück abgeliefert – und dafür eine altehrwürdige (und mit ihrem freien Eintritt vorbildliche) britische Institution ins Visier genommen: die National Gallery.

Im Londoner Zentrum versammelt sie das Prächtigste und Delikateste, was in den letzten Jahrhunderten in der Malerei geschaffen wurde. Ein nur auf den ersten Blick gefälliges Sujet für einen Mann, der sich die filmische Untersuchung der Welt durch ihre Institutionen zur Aufgabe gemacht hat und dafür in bisher über vierzig Arbeiten schon bei der US-Army, in psychiatrischen Anstalten und auf einer Primaten-Versuchsstation zu Besuch war. Aber eben auch im Ballett und im Theater, für das der Filmregisseur neben seiner dokumentarischen Tätigkeit übrigens kontinuierlich arbeitet.

Die Idee trug Wisemann schon dreißig Jahre mit sich rum

Die Idee für das Museumsprojekt trug Wiseman schon dreißig Jahre mit sich herum, bis es im Winter 2012 endlich soweit war und auch die Genehmigungen vorlagen. Zwölf Wochen lang haben Wiseman und sein Kameramann John Davey fast täglich zwölf Stunden in und um die Ausstellungsräume am Trafalgar Square und in den Werkstätten gedreht. Ein Dreivierteljahr brauchte es, 170 Stunden Material zu ebenso vielen prall gefüllten Minuten Film zu verdichten, die ihre Argumentation ohne externen Kommentar nur aus der Montage der einzelnen Einstellungen und Szenen schöpfen: einer klugen Montage, die den Reichtum des gedrehten Materials durch Spiegelungen und Assoziationsräume vergrößert und das Museum als Ort kulturellen Gedächtnisses und ästhetischer Bildung feiert.

Im Zentrum stehen dabei Bilder von Leonardo, Holbein oder Tizian, die im klugen Arrangement von Ausschnitten und Totalen auf der großen Leinwand zu scheinbar autonomen lebendigen Akteuren werden. Gedeutet werden sie daneben schon. Doch die dazu im Film versammelten Kunsthistoriker und Bilderklärer haben ihr eigenes Zielpublikum von der Schulklasse bis zur edel gewandeten Sponsorenschaft vor der Nase, wenn sie uns Caravaggio oder Turner näher bringen. So können wir zugleich etwas über den institutionellen Umgang mit der Kunst erfahren. Gleiches gilt für die Einblicke hinter die Kulissen, wo Kuratoren, Restauratoren und Verwaltungsfachleute über Bilddetails, Budget oder Marketing fachsimpeln. Dass Wiseman auf die fernsehüblichen Einblendungen zur Einführung von Orten und Personen verzichtet, regt an, selbst darüber nachzudenken, in welchen Beziehungen und Hierarchien die auftretenden Personen stehen.

"National Gallery" krönt Wisemans Lebenswerk

Dabei macht Wisemans genaues und geduldiges Hinschauen auch die weniger schönen Seiten der Institution sichtbar. Den Zwang zur anbiedernden Vermarktung. Das Elitäre der Boys in den höheren Positionen. Oder das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, das sich auch schon einmal in einem gediegenen Altherrenwitz ausdrückt. Dabei ist Wisemans Film selbst nie auf Pointe, sondern auf das umfassende Panorama angelegt.

So erfahren wir fast nebenbei auch etwas über die Verquickung der Geschichte der Galerie mit der Französischen Revolution und dem transatlantischen Sklavenhandel. Und am Ende ist der Blick auf die Kunst bei einem so erfahrenen Regisseur fast selbstverständlich auch ein selbstreflexiver Blick auf das eigene filmische Gewerbe. Damit hätte „National Gallery“ durchaus das Zeug zur gelungenen Krönung eines Lebenswerks, für das Wiseman im Herbst in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Doch zum Glück wissen wir, dass der 84-Jährige noch einige Projekte im Kopf hat.

Im Delphi, FT am Friedrichshain, fsk und Odeon (alle OmU)

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