Europa - Idee und Ideal: Ein Band, das alle eint
Von Britannien bis zum Balkan, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer: Der Kulturraum Europa war schon immer eine Einheit in Vielfalt
Populistische und nationalistische Parteien in vielen Ländern der Europäischen Union geben sich alle Mühe, diesen Kontinent zu spalten und die einzelnen Nationen wieder auf einen isolationistischen, alles Fremde abstoßenden Kern zu reduzieren. Ihr jüngster Versuch, aus dem vereinten Europa ein getrenntes zu machen, liegt erst wenige Tage zurück – und sie waren in einigen Ländern durchaus erfolgreich mit ihrem Werk der Zerstörung. In Frankreich wurden sie zur stärksten Kraft, in Italien teilen sich die Populisten von links und rechts die Macht. In Deutschland wurde ihr relativer Erfolg überstrahlt vom Siegeszug der Grünen, der wohl proeuropäischsten der kandidierenden Parteien.
Die Europäer haben begriffen, dass sie aktiv werden müssen
Es ist also – wenn Parteien überzeugendes Personal anbieten und sich erkennbar um die brennenden Fragen der Zeit kümmern – nicht verloren, dieses Europa, in das seine Gründer vor 70 Jahren so viele Hoffnungen gesetzt hatten. Vor allem die junge Generation, also die etwa bis 35-Jährigen, die die Segnungen eines Europas ohne Grenzen erlebt haben, tragen diese volonté générale, diese dem Gemeinwohl dienende Überzeugung. Das ist das große, positive Signal der Wahlen zum Europäischen Parlament, und die überall gestiegene Wahlbeteiligung. Die Europäer haben begriffen, dass sie aktiv werden müssen, wenn sie nicht Radikalen und Populisten die Macht auf dem Kontinent überlassen wollen.
Im Wahlkampf zeigte sich, dass die größten Kritiker der Europäischen Union jene sind, die am meisten zu ihrer Zerstörung beitragen. Wenn in Deutschland ein führender AfD-Politiker den Vorwurf, er kandidiere doch nur für ein Parlament, das er zerstören wolle, mit dem Hinweis kontert, man habe ja in der DDR auch für die Volkskammer kandidieren müssen, um sie zu verändern, ist klar, wes Un-Geistes Kinder die Anhänger der extremen Gruppierungen sind. Tatsächlich aber werden sie die gemeinsamen Wurzeln der Geschichte dieses Kontinentes nie ausreißen können. Die sind zu stark, auch wenn das den Menschen nur selten bewusst wird.
Der frühere Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat einmal von einer „großen europäischen Kulturnation“ gesprochen, als die Deutschland in Europa auftreten solle, und diese Beschreibung lässt sich auf jedes Land der Union anwenden. Das Römische Reich umfasste mit seiner kulturprägenden Kraft nicht nur den gesamten Mittelmeerraum, sondern das heutige Frankreich, Deutschland, Britannien und den Balkan. Griechische Philosophie prägte das Denken an den Hochschulen Europas, deren älteste in Prag und Krakau liegen – in jenem Teil Europas, der sich vehement dagegen sträubt, als Osteuropa bezeichnet zu werden, weil sich die Menschen dort dem mitteleuropäischen, abendländisch geprägten Kulturraum zugehörig wissen und fühlen.
Das Alte und das Neue Testament, der mosaische Glaube und das Christentum haben das Wertgefüge des Kontinents geprägt; das wirkt fort bis heute. Auf dem Balkan spüren wir auch im Jahre 2019 noch, wie sehr der Islam und das einstige Osmanische Reich das Lebensgefühl etwa in Bulgarien oder Mazedonien bestimmen. In den mittelalterlichen Kirchen zwischen Atlantik und Schwarzem Meer, zwischen der Südspitze Italiens und dem Norden der Britischen Inseln entdecken wir als Touristen übereinstimmende gestalterische Elemente. Die erhaltenen Reste der Pilgerwege nach Santiago di Compostela betreten wir in der Nähe Brandenburgs genauso ehrfürchtig wie in der Ostschweiz.
Dass Menschen heute diesen Weg nach Santiago wieder gehen – ob in der ganzen Länge von bis zu 1000 Kilometern allein auf der Apenninhalbinsel oder schon von Frankfurt an der Oder –, spielt in einem entscheidenden Punkt überhaupt keine Rolle: Wer sich den Regeln dieses Weges unterwirft, steht in einer abendländischen Tradition, deren Wirkungskraft auch Menschen erfasst, die überhaupt nicht religiös sind.
Gleich ist es mit der Musik Purcells, Monteverdis und Bachs, die sich schon vor Jahrhunderten grenzenlos ausgebreitet hat. Welcher Nationalität die Komponisten waren, interessiert allenfalls Musikwissenschaftler. Musikliebhaber nicht nur in Europa, sondern in der ganzen westlich beeinflussten Welt, sind ergriffen von ihren Noten. Anders ist es auch nicht mit der Malerei. Wenn in Berlin, Paris, London oder Madrid Ausstellungen europäischer Malerei Hunderttausende anziehen, steht dahinter weniger das Must-have-Gefühl der Zeitgeister, als die Ergriffenheit angesichts eines Kunstwerkes. Es ist ja kein Zufall, dass Menschen in Museen oft stiller werden.
Und da ist schließlich die Architektur, die gestaltende Kraft, die die alten Städte Europas geprägt hat und sie wie ein einigendes Band zusammenschließt. Wenn wir von europäischen Kulturhauptstädten reden, macht sich der Begriff ja in erster Linie an der Stein gewordenen Geschichte fest. Die Staffelgiebel der Renaissance, die runden Bögen der romanischen Kirchen, die zum Himmel strebenden der gotischen Kathedralen, das Fachwerk, das zwischen der Normandie und dem Süden Deutschlands so anders ist und doch den gleichen bauphysikalischen Überlegungen unterworfen, die Gestaltung der Brunnen und Brücken: All das bewirkt, dass wir uns geborgen fühlen – auch in Städten, die wir nie zuvor gesehen haben. Und nie empfinden wir Verluste an Bauwerken durch Kriege oder Brände schmerzlicher als angesichts der Leerstellen im Zentrum einer seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden bestehenden Ansiedlung. Dass deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg die gotische Kathedrale von Reims beschossen, ist mehr als ein Jahrhundert her. Die im Unterbewusstsein dennoch immer präsente Erinnerung an diesen Kulturfrevel aber wurde wach, als wir die Kathedrale Notre Dame in Paris brennen sahen.
Dass wir Kulturhauptstädte Europas wählen, Goethe-Institute so schätzen wie die Spanier etwa ein Instituto Cervantes, von einem Deutschen Akademischen Austauschdienst profitieren und die „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ neben der klassischen Diplomatie und der Pflege der Außenwirtschaftsbeziehungen als dritte Säule der Außenpolitik betrachten und unterstützen, ist vor diesem Hintergrund so selbstverständlich, dass wir nicht mehr darüber nachdenken.
Doch Kulturpolitik kann – ähnlich wie Werbung – vorhandene Qualitäten zwar verstärken, nicht aber erfinden, nicht vorgaukeln. Tatsächlich hängt der globale Ruf eines Landes nicht nur von seiner politischen, wirtschaftlichen und militärischen Potenz ab, sondern sehr stark vom Ansehen seiner zivilgesellschaftlichen Toleranz, der Bereitschaft, einander beizustehen, und von seiner kulturellen Ausstrahlung. Im internationalen „Nation Branding Index“ (NBI), der seit 2008 in 20 Ländern weltweit erhoben wird, lag Deutschland 2017 erstmals auf Rang eins vor Frankreich, Großbritannien, Kanada, Japan und den USA. Nicht nur im Auswärtigen Amt schätzt man diesen Imagegewinn hoch ein. Der NBI kann sich auf die Attraktivität eines Landes als Arbeits- und Lebensort, etwa für ausländische Wissenschaftler, sehr positiv auswirken – so wie sich Fremdenfeindlichkeit und politische Radikalisierung negativ auswirken. Und er ist eine Ermutigung, in seinen demokratischen und humanen Überzeugungen fest zu bleiben.
Das einigende Band der europäischen Kultur wird durch die jährliche Nominierung der Europäischen Kulturhauptstädte immer wieder neu betont. Wenn in diesem Jahr neben dem italienischen Matera auch das bulgarische Plowdiw zur Kulturhauptstadt ernannt wurde und 2020 das kroatische Rijeka dabei sein wird, zusammen mit dem irischen Galway, spannt sich endlich einmal der Bogen wirklich über ganz Europa. Wie geradezu kleinkariert muss es da wirken, dass die EU-Kommission bereits im November 2017 den Engländern erklärte, dass mit dem Brexit künftig keine Europäischen Kulturhauptstädte von Großbritannien mehr nominiert würden. Für diesen Status kämen nur EU-Mitglieder und Beitrittskandidaten sowie Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraumes infrage. Man schüttelt fassungslos den Kopf angesichts der Reduktion des europäischen Kulturraumes auf geradezu buchhalterische Kriterien.
Da macht ein Tag wie der 6. Juni wieder Mut, der unter dem Motto „Menschen bewegen“ die Bandbreite der Auswärtigen Kulturpolitik durch viele Veranstaltungen deutlich machen will. Von 18 bis 24 Uhr kann man am kommenden Sonnabend in der Langen Nacht der Ideen durch die Berliner Kulturlandschaft wandern und ins Staunen kommen – im Herzen einer Stadt, die zu den internationalsten unseres Kontinents gehört.