Sharing Heritage - Europäisches Kulturerbejahr 2018: Bin ich eine Europäerin?
Die Schriftstellerin Janne Teller über familiäre Wurzeln, mehrere Wohnorte, die Kraft der Sprache und die Suche nach einer Identität
Ich bin eine dänische Schriftstellerin. Ich bin keine dänische Schriftstellerin. Zwei Aussagen, die beide wahr sind. Wie kann das sein? Ich bin in Dänemark geboren und aufgewachsen, habe einen dänischen Pass und habe bisher auch meine Bücher auf Dänisch geschrieben. Rein national definiert bin ich eine dänische Schriftstellerin. Und doch fühle ich mich nicht Dänisch. Meine Mutter ist Österreicherin, mein Vater zur Hälfte Deutscher, eine meiner Urgroßmütter war Italienerin. Sprache entsteht aus der jeweiligen Kultur, weshalb mein eher dramatisches slawisches Temperament mit den entspannten, simplen Formulierungen des Dänischen nie gut zurechtkam. Und seit ich 23 bin, habe ich zum Großteil außerhalb von Dänemark gelebt.
Bei uns zu Hause wurde kein Deutsch gesprochen, also bin ich nicht zweisprachig aufgewachsen. Meine erste Fremdsprache war Englisch. Durch Bücher, die ich schon als Teenager im Original las, durch Filme und durch Musik wurde Englisch meine emotionale Sprache. Die mangelnde Sinnlichkeit der dänischen Sprache hat mich zum Englischen gebracht. Und obwohl ich meine Bücher bis vor Kurzem auf Dänisch schrieb, fühlte sich dieses Idiom wie ein sperriges Hindernis im Vergleich zur Heißblütigkeit meines Herzens an.
Von meinen ersten literarischen Bemühungen an hörte ich von meinen Lektoren, dass meine Bücher „so undänisch“ seien. Sollte ich das als Kompliment verstehen? Wahrscheinlich nicht, aber ich nahm es trotzdem als solches hin. Nicht nur schrieb ich in einem grammatikalisch vielschichtigen Stil und mit einer Leidenschaft, die den meisten Dänen fremd ist. Auch meine Themen waren meist weit vom dänischen Mainstream entfernt (etwa der Genozid auf dem Balkan oder Ethik in moderner Kunst und im Leben).
Meine Figuren haben ihre Wurzeln meist in Ländern, die exotisch und weit entfernt sind. Als ich begriff, dass dieses „Un-Dänische“ immer jeden Versuch, eine „dänische Schriftstellerin“ zu sein, untergraben würde, habe ich mich, ungefähr nach meinem vierten Roman, in mein Schicksal gefügt.
Welches Label sollte ich nun verwenden?
Aber welches Label sollte ich nun für mich verwenden? Österreich mag zwar in meinem Blut fließen, aber so sehr ich auch von den Bergen und Flüssen verzaubert bin, ganz zu schweigen von der „Hochkultur“, den Mozarts und Schuberts, den Kristallgläsern und dem kaiserlichen Porzellan, den Schlössern und Sachertorten, so sehr ich sie auch liebe, gehören sie nicht zu mir. Die Landkarte meiner Erinnerung ist willkürlich: Sommer am Wörthersee, meine Oma, die Suppen und Eintöpfe kocht, die versucht mich dazu zu bringen, Leberkäse und „Balaschinkenwurst“ zu essen; meine Schwester und ich, wie wir versuchen, Kaulquappen zu fangen, die in dem winzigen Fluss durch die Nachbargärten schwimmen, Familienstreitigkeiten und ebenso warmherziges Zusammensein in emotionalen Oktaven, wie man sie bei den ruhigen nordischen Ablegern meiner Familie nicht kennt.
Weil ich hier nicht aufgewachsen bin, ist Österreich kein integraler Teil meiner inneren Kultur, aber ein Teil meines angeeigneten Bewusstseins.
Noch mehr trifft das auf Deutschland zu, mit all seinen Philosophen, Komponisten, Malern, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Doch in meiner Kindheit nahm ich nur eine nie enden wollende Autobahn von Dänemark zum „echten“ Europa wahr.
Bevor ich Vollzeit-Schriftstellerin wurde, hatte ich bereits weltweit für die EU und die Vereinten Nationen gearbeitet, von Dar-es-Salaam über Maputo und Dhaka bis Brüssel, Mailand und New York. Seitdem ich als Autorin an ebenso vielen Orten gelebt habe, würde ich mich lieber einfach als „menschliches Wesen“ bezeichnen, wobei „Weltbürger“ natürlich inbegriffen ist. Dieses Wort reflektiert auch meine Sicht auf das Multikulturelle. Wir alle sind Bewohner dieser Erde, nur eben an unterschiedlichen Orten. Aber für all jene, die mich oder meine Bücher regional einordnen wollen, fühlt sich europäisch zumindest weniger falsch an als dänisch. Letzten Endes besteht das Konglomerat dessen, was wir heute Europa nennen, aus einer endlosen Anzahl an Facetten.
Die Literatur, die mich geformt hat, ist genauso wenig dänisch wie ich es bin: Meine Inspiration bezog ich von Faulkner bis Gogol, Achebe bis Laxness, Cortazar bis Hamsun, von Cervantes bis Camus, von Mahfouz bis Woolf. Ich nutzte das Privileg, das wir Schriftsteller haben, uns unsere eigenen Lehrer auszusuchen: Shakespeare, Dante und Dickinson, Thomas Mann, Thomas Bernhard, Tania Blixen oder Günter Grass ...
New York ist meine Lieblingsstadt
Auf die Frage „Wo ist meine Heimat?“ kann ich nicht antworten. New York ist meine Lieblingsstadt, dieser bunteste multikulturellste aller Orte, wo jeder seinen Platz findet. Und doch, da der Atlantik zu breit ist, um bequem über ihn zu pendeln, bin ich vor Kurzem zurück nach Europa gezogen. Dieses Mal habe ich mir einen ganz neuen Ankerplatz erwählt, Elsinore, wo die Nordsee auf den Sund trifft, der Richtung Ostsee fließt. Eine Ecke von Dänemark, die vor langer Zeit Zentrum des Landes gewesen ist, damals, als Dänemark eine Großmacht war. Von Schloss Kronborg aus, das vor meinen Fenstern liegt, wurden in die Ostsee einfahrende Schiffe kontrolliert. Es ist eine Ecke Dänemarks, die mich daran erinnert, dass die Zusammenarbeit zwischen Ländern so viel vorteilhafter und fröhlicher ist, als wenn eine Seite die Zügel in der Hand hält und die andere beherrscht. Eine Ecke Dänemarks, die trotz des im ganzen Land grassierenden Fremdenhasses nicht anders kann, als der Welt gegenüber offen zu bleiben und die sich anfühlt, als würde sie das Universum selbst atmen.
Mittlerweile sind wir Menschen, die mehr als eine Kultur haben, mehrere Millionen: Bi-, Tri-, Quatro- und Multikulturelle. Daher erscheint es sinnlos, das begrenzte nationale Konzept von Identität zu verwenden, um uns in Kategorien einzuteilen.
Vor allem in einem Bereich wie die Literatur, wo alle Schriftsteller zweifellos in ihrem Inneren zu einer Art universeller Menschheit gehören, bevor sie sich zu einer Nationalität bekennen. Und doch werden Bücher in Buchhandlungen nach diesem Kriterium in Regale sortiert, werden Preise und Auszeichnungen vergeben, werden Einladungen zu Buchfestivals und zu Gesprächsrunden klassifiziert. Nach Nationalität geordnet findet man uns in Listen, in Enzyklopädien, bei Wikipedia. So werden wir heute überall vorgestellt. Denn die Welt ist noch immer so organisiert: Menschen werden in Schubladen gesteckt, versehen mit einem Aufdruck, der den Namen des Landes trägt.
Dabei ist der Nationalstaat ein relativ neues Konzept, die meisten Länder sind nur wenige hundert Jahre alt. Unsere emotionale Verbindung zu diesem fast schon illusorischen Phänomen ist nicht gegeben. Wir können genauso gut eine Verbindung zu einer größeren Region herstellen, wenn wir der Idee gegenüber offen sind, dass wir zu ihr genauso gehören wie zu unserer Nation und unserer Stadt.
Die Wertschätzung der diskreten Qualität
Jeder Ort auf der Welt hat seine Besonderheiten, genau wie er Gemeinsamkeiten mit anderen Orten in seiner Region und auf seinem Kontinent hat. Da ich in vielen Teilen Europas gelebt habe, habe ich das eine Merkmal gefunden, das wir auf diesem Kontinent gemeinsam haben, das Europa eher als viele andere wunderbare Orte in der Welt kennzeichnet – und zwar eine besondere Form der Wertschätzung diskreter Qualität. Wir wollen nicht auffallen (zumindest idealerweise nicht), wir brauchen nicht das Größte, Schnellste oder Teuerste, und vor allem brauchen wir es nicht zu zeigen: Wir wählen nicht das Vergoldete, das am meisten verziert oder mit Blumen geschmückt ist, oder das Farbenfrohste. Wir lieben die Großartigkeit, die aus unaufgeregter Qualität geboren wird, aus der Liebe zum Detail, aus dem, was die Sinne erfahren anstelle dessen, was es vorgibt zu sein.
Dieses Streben nach diskreter Qualität hat sich über Jahrhunderte herausgebildet, zusammen mit der Entwicklung unserer europäischen Kulturen, unserer Architektur, dem Denken, der Kunst – mit den Reisen und dem Handel – sowohl mit anderen Kontinenten als auch innerhalb unseres eigenen. Man spürt es heute überall: in Einlegeböden, Möbeln, Skulpturen, Gemälden, Musik und Filmen, in Mode, Essen und Verhalten. Und doch ist es kein Zaun, sondern ein Ideal, dem sich alle zuwenden können. Alle Neuankömmlinge können ihren eigenen Weg finden, um etwas zu dem Stolz, den wir gegenüber unseren schönsten Schlössern und besten Philosophen, unseren Weinen und unserer Literatur – und nicht zu vergessen, der Stolz auf die immense Vielfalt – hegen, beizutragen: beispielsweise faszinierende afghanisch-europäische Musik, die interessantesten afrikanisch-europäischen Stühle und Tische, die exquisiteste arabisch-europäische Poesie, Architektur, Restaurants, Brot, Designs oder was auch immer.
Es besteht keine Bedrohung, wenn wir uns für nationale, regionale und lokale Differenzen öffnen. Ganz im Gegenteil: Es entsteht noch mehr Raum für die feinen Unterschiede auf allen drei Ebenen. In dem Moment, in dem wir uns nicht durch die Farbe unserer Haut (ja, Europäer waren einmal weiß, aber das ist nicht mehr der Fall!), unsere Ahnen oder Herkunft, Religion, Normen usw. definieren, sondern durch unsere Ideale und wie diese in die Essenz unseres Charakters und unserer Handlungen übersetzt werden – wird Europa aufhören, mit sich selbst und nicht zuletzt mit seinen Neuankömmlingen im Konflikt zu stehen und stattdessen zu einer wunderschönen Variation eines gemeinsamen, idealen Grundmotivs der „diskreten Qualität“ werden.
Kunst, wie jedes kulturelle Erbe, überschreitet allein schon durch ihre Natur Grenzen. Sie stammt nie nur von einer einzigen Nation.
"Gedanken gehören denen, die sie annehmen"
Kein Mensch existiert für sich allein. Dadurch entsteht keine Nation und keine Region. Es ist die Mischung aus dem Lokalen und dem Interdependenten, die jede Kunst, jedes Feld einzigartig und interessant macht. Wenn die Geschichte dieser Verbindungen erzählt wird, wird auch klar, dass für die Vergangenheit genau wie für die Zukunft gilt: Keine Nation kann in einem Vakuum existieren. Keine Nation kann sich von dem Einfluss anderer Nationen reinwaschen. Nichts von dem, auf das wir stolz sind, würde dann existieren. Das ist die Geschichte, die wir in Europa erzählen müssen. Dass wir zusammengehören, unabhängig von institutionellen Strukturen! Dass die Europäische Union uns hilft, uns die Werkzeuge dazu gibt, zusammenzuarbeiten, dass wir aber unabhängig von der Organisation selbst alle Europäer sind!
Ein karibischer Kriegschirurg aus meinem Roman „Alles, was dir fehlt“ stellt Fragen zur europäischen Identität: Was macht einen Europäer aus? Wie wird man einer? Gegen Ende des Buches fasst er zusammen: „Gedanken gehören denen, die sie annehmen.“
Jeder, den das kulturelle Erbe fasziniert und der mehr darüber erfahren will, hat Anteil daran.
Ich bin Schriftstellerin. Aber da das Dänischsein für mich persönlich ein Missverhältnis darstellt und fast so unmöglich erscheint, wie eine Deutsche und Österreicherin zu sein – so wuchs ich einfach nicht auf – nehme ich die Ebbe und Flut der diskreten Qualität an. In dieser allumfassenden Definition ist Platz für mich und alle anderen multikulturellen Menschen und Neuankömmlinge in Europa. Nach dieser Definition kann ich also sagen: Ich bin Europäerin.
Egal, was unsere individuelle Nation, unsere lokale Stadt oder unser Dorf ist, egal, woher wir kommen, wenn wir jetzt in Europa leben, ist Europa unser gemeinsames kulturelles Erbe. Also, lasst uns gut für Europa sorgen. Lasst uns Europa noch besser machen. Zusammen!
Janne Teller ist europäische Schriftstellerin aus Dänemark und nimmt am Europäischen Autorengipfel in Berlin teil. Aus dem Englischen von Annika Brockschmidt.
Janne Teller
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