zum Hauptinhalt
Ideen für Europa. Ist Schengen, das Symbol der europäischen Integration, bedroht? Welche Lösungsansätze gibt es, damit uns ein offenes Europa erhalten bleibt? Diese Fragen diskutierten Teilnehmende an der interaktiven Konferenz „Schengen: Begrenzt grenzenlos?“ von Polis180 vor einem Jahr in Berlin unter anderem mit dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin.
© Jens Schlueter/Vertretung der Eu

60 Jahre EU: Junge Lobby für Europa

Wo ist die Chance, politisch etwas zu bewegen? Der Graswurzel-Thinktank „Polis180“ will der jungen Generation eine Stimme geben.

Sie sind jung, und sie sind sich ihrer Sache ziemlich sicher. Sie brennen für Europa und sie verbringen viel Freizeit für Europa, im vergangenen Jahr alleine 20 000 Stunden ehrenamtlich. „Für uns ist Europa Freunde, Beziehungen, Werte, Interrail. Nach dem Brexit haben wir uns richtig verloren gefühlt. Und noch eins: Europa ist nicht Brüssel. Wir müssen mit den eigenen Fake-News aufhören“, sagt Julian Zuber, Mitglied des Präsidiums von Polis180. Das ist ein Grassroots-Thinktank für Außen- und Europapolitik, der parteiübergreifend neue Formen der Teilhabe für junge Leute entwickeln will und zum besten neuen Thinktank 2016 in Deutschland von der Universität Pennsylvania in ihrem internationalen Think-Tank-Index gewählt wurde.

„Wir müssen unserer Generation eine Stimme geben. Wir müssen uns alle qualifizieren, uns selber fortbilden, um dann unser Wissen und unsere Informationen mit anderen zu teilen und in die Politik einzubringen“, sagt Julian.

Julian Zuber ist 29 Jahre alt, hat in Frankreich und Großbritannien studiert und promoviert nun in Politikwissenschaften an der Hertie School of Governance. Mit Ana-Marija Cvitic, 26, die in Wien und Paris Europarecht studiert hat, arbeitet er im administrativen Kopf von Polis180 e.V. Der Mitmach-Thinktank ist als Verein konzipiert und zählt seit seiner Gründung 2015 mittlerweile 200 Mitglieder. „Unsere Generation ist vor allem in der Europa- und Außenpolitik unterrepräsentiert. Polis180 dient uns dazu, unserer Generation eine Stimme zu geben“, erzählt Julian.

Ana-Marija Cvitic und Julian Zuber von Polis180 im Gespräch mit Rita Süssmuth.
Ana-Marija Cvitic und Julian Zuber von Polis180 im Gespräch mit Rita Süssmuth.
© Jens Schlueter

An Selbstbewusstsein fehlt es den jungen Leuten nicht, die 2014 die Idee zu diesem Graswurzel-Projekt an der Hertie School of Governance entwickelt hatten. In ihrem Studium haben die zehn Gründer analysiert, wie gute Politikberatung organisiert ist. „Thinktanks liefern in der Regel Analysen, aber keine Ideen zur Lösung der Probleme“, sagt Michael Knoll vom Innovationskolleg der Hertie-Stiftung, bei der der Verein untergeschlüpft ist und bis Mai 2017 gefördert wird. Wenn Polis180 der Politik daher gute Ideen liefert, steigen die Chancen, gehört zu werden.

„Wir sind jung, das ist unser Momentum, wir ziehen junge Leute an, vielleicht mehr als Parteien. Das macht uns interessant. Wir müssen inklusiv sein, anziehende Inhalte präsentieren und interessant nach oben sein“, erklärt Marcel Hadeed, 27. Er hat in den Niederlanden und Spanien internationale Beziehungen studiert. Dabei geht es nicht nur um Akademiker, auch wenn viele Veranstaltungen und Publikationen auf Englisch sind. Polis180 ist offen für alle jungen Leute.

Alle Mitglieder von Polis 180 haben Europaerfahrungen, sind im Ausland gewesen und haben dort studiert und gelebt. „Wer noch nie im Ausland war, empfindet Europa vielleicht schon eher als Zumutung. Es wäre aber jetzt falsch, diese Menschen als Nationalisten zu bashen. Man muss sie dort abholen – Jesse Klaver hat in den Niederlanden mit seiner Partei Groenlinks gezeigt, wie man Jugend begeistern kann“, sagt Julian. Begeisterung für Europa – das hört sich immer an wie das Mantra der Generation 60+, die noch die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs mit Grenzen und Misstrauen erlebt hat und die Freude, als diese Grenzen und Vorurteile Stück für Stück abgebaut wurden.

„Genau diese Generation, die uns Schengen und den Euro beschert hat, will nun ganz genau von uns wissen, warum wir uns so verlassen fühlen.“ Die jungen Leute von Polis180 wie Ana-Marija haben diese Identität gelebt. „Wir sind damit aufgewachsen“, erzählt sie und man spürt, wie wichtig ihr Europa ist. Sie möchte, dass die Begeisterung für Europa andere ansteckt, weil junge Leute wie sie etwas zu verlieren haben. „Wir brauchen Leidenschaft und Identifikation. Wir müssen die europäische Identität wiederfinden. Wir müssen Europa erlebbar machen und zwar unabhängig vom Einkommen. Warum soll es keine europäische Fußballmannschaft geben? Man muss über Symbole und gemeinsame Kultur reden“, findet sie. So ist es auch kein Zufall, dass sie sich in dem Programmbereich „Europäische Identität“ engagiert.

Poster zur Konferenz "Schengen: Begrenzt grenzenlos?"
Poster zur Konferenz "Schengen: Begrenzt grenzenlos?"
© Polis180

„Wir haben es oft mit tradierten Erinnerungen zu tun“, sagt Ana-Marija und erzählt von Gesprächen bei der Familie in Kroatien über den Zerfall Jugoslawiens. Und von jungen Polen höre man immer wieder Geschichten über die Sowjetunion und die damalige Bedrohung. Und Identifikation dürfe nicht nur in Abgrenzung zu Russland erfolgen, die Sicherheitskultur alleine schaffe keine Identität.

Aber wie kommen nun die Politiker an die Informationen und Wünsche von Polis180? „Wir treffen uns sehr intensiv mit Politikern zu Hintergrundgesprächen. Wir haben einen guten Unterstützerkreis in der zweiten Reihe der Ministerien oder Parlamente, und wir wollen natürlich politisieren und so die Unterrepräsentation junger Leute in den politischen Parteien ausgleichen“, sagt Julian.

Dazu entwickelte Polis 180 neue Formate für junge Leute jenseits der üblichen Podiumsdiskussionen. Die Veranstaltungen sind partizipativ, komplexe Diskussionsveranstaltungen werden in 20-minütigen Podcasts zusammengefasst und online gestellt. Das kann auch über „Visual Story Telling“ geschehen“, sagt Marcel. Er profitiert von diesen Veranstaltungen noch auf eine ganz andere Art. „Bei uns lernt man, wie man einen Blog aufzieht, wie man eine Veranstaltung organisiert, wann man dazu die Einladungen rausschickt – das alles stärkt das Selbstbewusstsein, und man traut sich etwas zu.“

Informationen und Veranstaltungen sind für Polis180 wichtig. Die Schule habe da leider nicht viel zu bieten, meint Marcel. Er habe drei Monate EU im Leistungskurs Politische Wissenschaft gehabt, mehr nicht. „Die strukturelle Schwäche der EU liegt darin, dass sie keinen öffentlichen Raum hat, wo man gemeinsam über Europa sprechen kann. Man muss aber gemeinsam die Debatte führen.“

Und manchmal haben sie das Gefühl, die Dinge radikal ändern zu müssen. „Warum sollen nicht einmal ganz normale Menschen auf dem Podium sitzen, Arbeiter, Handwerker, Junge, Alte – und die Politiker sitzen im Publikum und hören zu. Warum nicht?“, meint Ana-Marija. Die Gelegenheit sei günstig. „Wir haben das Gefühl, dass sich etwas bewegt, und darum engagieren wir uns", sagt sie. Die Mitglieder von Polis engagieren sich auch bei anderen Bewegungen wie „Pulse of Europe“, die sonntags um 14 Uhr auf dem Gendarmenmarkt für Europa demonstrieren. Diese wachsende Bewegung belegt, dass es auch an den Bürgern liegt, sich einzubringen.

Aber wie erreichen sie die osteuropäischen Jugendlichen, die oft skeptischer sind als ihre westlichen Altersgenossen? „Wir haben eine Veranstaltung in Warschau organisiert oder kritische Journalisten aus Polen und Ungarn eingeladen“, erzählt Julian. Dabei werde man auch schon einmal verbal angegriffen. „Wenn uns einer angreift, sagen wir ,interessant, komm dazu, rede mit uns'. Wir müssen die Wut der Kritiker kanalisieren, nicht dämonisieren", ergänzt Julian.

Workshop zum Thema "Mediation in der OSZE".
Workshop zum Thema "Mediation in der OSZE".
© Jens Schlueter

Ana-Marija kann die Sorgen ihrer Generation teilweise verstehen. „Wir sind mit der Finanzkrise von 2008 und der damit einhergehenden Verunsicherung aufgewachsen. Daher verbinden viele junge Leute ihre Existenz mit dem Nationalstaat. Und daher ist es doch eine tolle Idee, jedem Jugendlichen in der EU zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket zu schenken. Dafür setzen wir uns ein.“

Wichtig ist den jungen Europäern vor allem das Soziale Europa. „Wir haben den Soli, und beim Thema Griechenland geht dann die Welt unter. Die Solidarität darf aber nicht an unserer Grenze aufhören“, sagt Marcel. „Das Soziale Europa ist zwar politisch gewollt, aber es geschieht viel zu wenig. Die Liberalisierung in Europa hat Verlierer produziert.“ Damit Europa nicht nur als neoliberales Eliteprojekt verstanden werde, müsse mehr gegen die Jugendarbeitslosigkeit getan werden.

Die jungen Europa-Denker wollen sich nicht nur in der „Berliner Blase“ aufhalten. Man arbeite an der Idee „Polis on Tour“ und auch über die Gründung von Regionalgruppen werde inzwischen nachgedacht. „Mich nervt es einfach, wie wenig Nachwuchs es in den Parteien gibt“, sagt Julian. Polis180 versucht, die jungen Leute anzusprechen und zur Mitarbeit einzuladen. Es werden auch viele Papiere geschrieben und veröffentlicht.

Die Themenbereiche sind vielfältig, Großbritannien nach dem Brexit, Migration, Identität, Frauen, Frieden und Sicherheit und Digitalisierung. Eingeladen werden kompetente Gesprächspartner, wie der irische Botschafter Michael Collins, der zur „Polis Tea-Time“ gebeten wird, um über das britisch-irische Verhältnis zu sprechen. Im Polis-Blog werden Artikel der Mitglieder veröffentlicht, eine Online-Umfrage regt Neugierige an, Ideen zu entwickeln und sich einzubringen.

Polis180 versteht sich als eine Stimme der jungen Generation und als eine Lobby für deren Interessen. Und daher ist mit 35 Jahren auch nur bei Stimmrecht und Wählbarkeit die Altersgrenze für die Mitglieder erreicht. Wer hier mitmachen möchte, kann ganz schnell Aufgaben in den Bereichen „Externe Kommunikation, Fundraising oder Programmkoordination“ übernehmen. Wer sich für dieses Ehrenamt neben der Arbeit oder dem Studium interessiert, wird auch geschult und bekommt Unterstützung.

Erfrischend an den drei Mitgliedern von Polis 180 ist, dass sie Europa als ihre Aufgabe für die Zukunft sehen und es verstehen, für die gute Sache überzeugend zu werben. Sie haben erkannt, dass sie es auch in der Hand haben, durch ihr Engagement für Polis180 zum einen etwas in die Politik hineinzutragen und zum anderen ihren Altersgenossen Mut zu machen, sich zu engagieren.

Inzwischen hat sich auch eine ähnliche Organisation in Paris gegründet, Argo, ebenfalls ein junger Thinktank, erzählt Kassandra Becker von Polis180. Und es kämen immer mehr Emails aus den Niederlanden, die wissen wollten, wie man solch eine Organisation gründet. Die Idee breitet sich aus in Europa...

Mehr dazu unter www.polis80.org

www.argothinktank.org

In welcher Atmosphäre die Römischen Verträge entstanden sind, können Sie in unserer Reportage über Zeitzeugen der Geschehnisse von 1957 lesen, die vor zehn Jahren im Tagesspiegel erschienen ist.

Zur Startseite