Brand von Notre-Dame: Europas Herz lässt sich nicht zerstören
Notre-Dame ist die Kirche, in der sich die religiöse und kulturelle Bindekraft Europas widerspiegelt. Diese unzerstörbaren Werte bleiben. Ein Kommentar.
Es gibt ein unsichtbares Netz, das Europa überzieht. Seine Knoten sind nicht überall gleich dicht verteilt, in Italien und in Frankreich gibt es mehrere davon, auch in England und in Deutschland. Das Netz des wechselseitigen Austausches, von dessen Existenz kaum jemand weiß, verbindet seit langer Zeit tatsächlich die großen Kathedralen dieses Kontinentes. In Frankreich gehören Paris, Amiens, Chartres und Reims dazu, in Deutschland Köln, in England York und Coventry. Zwischen den Knoten verlaufen Lebensadern, über die Informationen fließen. Etwa die, ob eine der Kirchen vom Verfall bedroht ist. Ob eines dieser viele Jahrhunderte alten Wunderwerke der Architektur und des Stein gewordenen Glaubens in seinem Fortbestand gefährdet, ob die Statik instabil geworden ist. Ob Ratschläge und Erfahrungen der anderen helfen können. Und natürlich ist es ein Netz, dessen Zusammenhalt über das Materielle weit hinausreicht, eben in die Welt des Immateriellen.
Am Montagabend aber ist das Unvorstellbare geschehen. Ein Feuer zerstörte innerhalb weniger Stunden fast die Pariser Kathedrale Notre-Dame. Das Dach über dem gewaltigen Kirchenschiff wurde ein Raub der Flammen, ein hölzerner Spitzturm stürzte ein. Die Feuerwehren bangten, ob sie die beiden wuchtigen, steinernen Ecktürme, auf deren Masse auch die Stabilität der ganzen Konstruktion gründet, würden retten können. Und mit den Feuerwehrleuten, mit den fassungslosen Anwohnern und Touristen, die an den Ufern der Seine entsetzt auf das Feuermeer starrten, verbanden sich in einem gemeinsamen Gefühl der Ohnmacht Menschen in aller Welt, die über das Fernsehen verfolgten, wie das Undenkbare geschah: Eine Kathedrale brannte. Es kann nicht sein, rebellierte das Gefühl, Kathedralen sind für die Ewigkeit gebaut.
Doch, es kann sein, sagte der Verstand, schon immer brannten Kathedralen. Wo in der Gotik diese scheinbar in den Himmel steigenden, atemberaubend filigranen Sakralbauten entstanden, waren zuvor, an gleicher Stelle, oft die hölzernen Decken in den Gotteshäusern der Romanik durch Blitzschlag oder Stadtbrände vernichtet worden. Und auch Menschenhand hatte, schamlos, kulturlos, immer wieder ganz bewusst, infam, diese Kirchen zerstört, in denen sich das kulturelle Erbe und der Stolz einer ganzen Nation verkörpern konnte. Hatten die Deutschen nicht im Ersten Weltkrieg die Kathedrale von Reims beschossen, im Zweiten Weltkrieg die von Coventry zerstört?
Mehr als ein Symbol Frankreichs
Notre-Dame in Paris aber, das fühlten Menschen auf der ganzen Welt, ist weit mehr als ein Symbol Frankreichs. Wenn es dort ein Gotteshaus gibt, das die nationale Identität und Kontinuität über die Jahrhunderte hinweg verkörpert, dann ist es die Kathedrale von Reims, die Krönungskirche der französischen Könige. Notre-Dame in Paris aber ist die Kirche, in der sich das Erbe eines Kontinentes widerspiegelt, die religiöse und kulturelle Bindekraft all des historischen Erbes, das wir unter dem Begriff des Abendlandes zusammenfassen. Notre-Dame, das ist, ja, Stein gewordene Kraft und Stärke des Glaubens.
Aber es ist eben auch ein Spiegelbild der Zivilisation und der Literatur, der Kunst, der Musik, der gemeinsamen Geschichte. Wer jemals vor der Kirche Notre-Dame stand, auf der kleinen Ile de la Cité, fühlte sich im Herzen Europas. Und man musste kein Europäer sein, um dieses Ergriffensein zu spüren. Wer hier stand, spürte ein Gefühl der Ehrfurcht, des Friedens und der inneren Ruhe. Vielleicht liegt darin auch die so einfache Erklärung dafür, warum den Menschen des gesamten Kulturkreises der Atem stockte beim Anblick dieser Flammen. Das wird bleiben.
Deshalb wäre es auch falsch, nun von unwiederbringlichen Verlusten zu sprechen. Notre-Dame wird wiedererstehen. Der Geist der Ile de la Cité wird bleiben. Und wir werden ihn weiter empfinden. Die Kraft des Glaubens an unzerstörbare Werte ist stärker als ein Feuer. Am besten sollten wir ganz schnell nach Paris fahren, um uns dieses Gefühls zu vergewissern und zu sagen: Auch dieses unsichtbare Netz hat gehalten.