Totalitarismus der Selbstoptimierung: Die gefährlichen Folgen der Achtsamkeitslehre
Ist „Mindfulness“ wirklich der Pfad zur Erleuchtung? Im Gegenteil, Achtsamkeit gaukelt Normalität vor, wo Empörung angebracht wäre. Ein Essay.
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit. Lassen Sie diesen Satz auf sich wirken. Nehmen. Sie. sich. Z-e-i-t. Denken Sie nicht darüber nach, ob Sie die Zeit dafür haben, nehmen Sie sie sich einfach.
Sie sind es sich schuldig, Sie sind es wert. Spüren Sie schon, wie sich das Durcheinander in Ihrem Kopf auflöst, wie Klarheit es ersetzt und ein Gefühl innerer Ruhe Sie überkommt? Dieses Gefühl ist ihre Achtsamkeit, dieses Gefühl, das sind Sie.
Vielleicht gehört dieses kleine meditative Experiment längst zu Ihrer täglichen Praxis, falls nicht, kennen Sie aber womöglich Menschen, die Ihnen schon mal mehr Achtsamkeit im Leben ans Herz gelegt haben. Es ist nämlich verdammt schwer geworden, die Achtsamkeitslehre, das Allheilmittel gegen die Leiden des modernen Lebens, zu ignorieren.
Schon 2014 rief das amerikanische „Time Magazine“ auf seinem Cover die „Mindful Revolution“ aus und pries Achtsamkeit als Weg aus dem Hamsterrad des Alltagsstress. Das Konzept geht auf den Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn zurück, der in den 1970er Jahren seine Stressreduktion durch Achtsamkeitsmeditation entwickelte und heute an der Spitze der Bewegung steht.
Achtsamkeit soll ein nicht-wertendes Gefühl des einfachen Seins vermitteln und durch Fokussierungsübungen, wie beispielsweise eine Rosine im Schneckentempo, aber sehr intensiv zu verzehren, eine mentale Hygiene herstellen, die es ermöglicht, dem Druck der Hochleistungsgesellschaft standzuhalten.
Ronald Purser warnt vor einem schnellen Konsum der Spiritualität
Großkonzerne wie Google, SAP, RWE oder Apple bieten ihren Mitarbeitern schon länger Achtsamkeitsseminare an, und auch im Kulturbetrieb setzt sich die Praxis vermehrt durch. Das Berliner Ausstellungshaus Me Collectors Room organisiert Achtsamkeitsworkshops, in denen Besucher ein intensiveres Kunsterlebnis erlernen sollen.
Allein in Deutschland gibt es heute über 1000 zertifizierte Achtsamkeitslehrer, die ihre Mitmenschen in Resilienz und Konzentration schulen. Viele Krankenkassen übernehmen sogar einen Teil der Kosten. Eigentlich ist das begrüßenswert, denn, ja, wir haben Stress, und, ja, wir sind abgelenkt, ständig und überall. Aber kann Achtsamkeit wirklich der Pfad zur Erleuchtung sein?
Für den Oberguru Kabat-Zinn steht fest: Achtsamkeit ist die einzige Chance der Menschheit, ihre „Denkkrankheit“ und ihr kollektives Aufmerksamkeitsdefizit zu überwinden und die nächsten Jahrzehnte zu überleben.
Achtsamkeit fördert den Stress
Zwei seiner schärfsten Kritiker haben ihre Zweifel daran nun in Buchform veröffentlicht. Ronald Purser prägte einst den Begriff „McMindfulness“ und warnt nun im gleichnamigen Buch vor einem schnellen Konsum der Spiritualität ohne höheren Erkenntnisgewinn.
Achtsamkeit soll uns von Stress und Leiden befreien, fördert aber diese, laut Purser, indem sie die Ursachen für das Unwohlsein in unseren Köpfen verankert. Demnach sind nicht die äußeren Bedingungen schuld an meinem Stress, sondern ich.
Die Ursachen für den Stress werden nicht infrage gestellt, sondern das Anpassungsvermögen des Individuums. Das Leiden wird dadurch dekontextualisiert oder als vollendete Tatsache anerkannt, was eine Scheuklappenmentalität verursacht, die die wahren Probleme außer Acht lässt. Das Ich wird gleichzeitig zum Sündenbock und zur eigenen Rettung.
Wie Purser kommt auch David Forbes in seinem Buch „Mindfulness and its discontents“ zu dem Fazit, dass Achtsamkeit in den meisten Fällen die vorherrschenden Zustände legitimiert, anstatt sie infrage zu stellen. Stress wird als genetisches Überbleibsel aus der Steinzeit charakterisiert, wie es Kabat-Zinn tut, das wir wegmeditieren können.
„Feel – don’t think“, ist das Mantra der Erleuchteten, die – wie Purser klarstellt, die gesellschaftlichen Schieflagen akzeptieren. Es ist ein Rückzug in private Lösungsansätze angesichts steigender kollektiver Probleme. Das eigene Wohlbefinden wird zu einer Aufgabe, die sich nur durch eiserne Selbstdisziplin meistern lässt.
David Gelles gibt Tipps, wie man besten achtsam mit dem Hund Gassi geht
Die Achtsamkeitslehre fügt sich dadurch perfekt in die heutige Ich-Fixiertheit ein, die den Lebenskodex vieler beherrscht. Das Ich ist ein work in progress, an dem man sich abarbeiten muss. Selbstoptimierungstrends wie das Quantified-Self, bei dem der eigene Körper zu einem komplett messbaren Organismus wird, oder das Biohacking, bei dem Physis und Psyche durch Zunahme von Ergänzungsmitteln oder Eingriffe in die DNA-Struktur verbessert werden sollen, liegen im Trend.
Genau wie bei diesen geht es auch bei der Achtsamkeit darum, Autonomie über den eigenen Körper (zurück) zu erlangen, um das Bewusstsein zu stärken und resistenter zu machen – in jedem Bereich des Lebens.
Der Journalist David Gelles gab in seiner wöchentlichen „New York Times“- Kolumne „Meditation for Real Life“ über Jahre hinweg Tipps, wie man den Alltag am achtsamsten bestreitet, „achtsam krank ist“, „achtsam mit dem Hund Gassi geht“ oder „achtsam saisonale Allergien übersteht“ – ganz simpel: Wenn die Nase zugeschwollen ist, einfach die Aufmerksamkeit auf einen anderen Körperteil lenken, ohne eine Wertung des eigenen physischen Zustands vorzunehmen.
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Gelles Texte verdeutlichen den Totalitarismus der Selbstoptimierung zwar mit einem Augenzwinkern, sind aber symptomatisch für eine Entwicklung, die keine Ineffizienz im Leben duldet und die Selbsthilfeliteratur zum Millionengeschäft gemacht hat. Dabei fällt nicht mehr auf, wie viel Abhängigkeit und wenig Selbstbestimmung in der Selbsthilfe steckt. Wie Komiker George Carlin es zusammenfasste: „Wenn es in einem Buch steht, ist es nicht Selbsthilfe, sondern einfach Hilfe.“
Die Verantwortung wird auf den einzelnen abgeschoben
Der Fokus auf das Selbst, schreibt Purser, sei die Auslebung des neoliberalen Individualismusmantra, das Verantwortung auf den Einzelnen schiebt und das Gesellschaftsgefühl untergräbt. Die Achtsamkeitslehre predigt wie der Neoliberalismus, dass gesellschaftliches Umdenken erst beim Individuum stattfinden muss, aber sie raubt ihm die nötigen Emotionen, um dieses voranzutreiben.
Ärger oder Wut haben keinen Platz mehr, sie gehören nicht zur mentalen Hygiene. Doch ein sediertes Bewusstsein, das nur noch um sich selbst kreist, leitet keinen Wandel ein. Wut, Traurigkeit oder Hilflosigkeit sind kostbare Emotionen, die fast schon auf religiöse Art ausgetrieben werden.
Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen werden zu überwindbaren Charakterzügen reduziert, die man sich abtrainieren kann. Depression ist aber nicht nur Volkskrankheit, weil viele Menschen an ihr erkranken, sondern auch, weil sie ihren Ursprung oftmals in den gesellschaftlichen Verhältnissen hat.
Achtsamkeit ist ein Bewältigungsmechanismus, aber kein guter. Sie setzt einen auf eine Empfindlichkeitsstufe, auf der man den Anschein der Funktionstüchtigkeit wahren kann, selbst noch kurz vor dem innerlichen Kollaps. Sie gaukelt Normalität vor, wo Empörung angebracht wäre. Sie macht überforderte Arbeitnehmer zu Bewusstseins-Unternehmern, die den eigenen Körper so resilient machen wollen, dass sie Strapazen gehorsam über sich ergehen lassen. Mehr noch, damit sie besser werden als die Konkurrenz.
Mit dem Smartphone zum Weg der Erleuchtung
Seit den 1990er Jahren setzen Unternehmen vermehrt auf Meditation, um Arbeitern bei der Stressreduktion zu helfen und ihre Produktivität anzukurbeln. Dahinter steckt aber nicht nur Fürsorge, sondern auch wirtschaftliches Kalkül. Psychische Leiden sind ein Hauptgrund für Fehltage, die sich negativ auf Geschäftszahlen auswirken.
Laut dem diesjährigen Gesundheitsreport der DAK leiden 5,3 Millionen Deutsche an Depressionen. Die Krankheit ist die dritthäufigste Ursache für Krankschreibungen. Mithilfe von Achtsamkeit und Meditation ist es Großkonzernen gelungen, Begriffe wie „emotionale Intelligenz“ oder „mentales Kapital“ als erstrebenswerte Attribute in den Köpfen der Belegschaft zu verankern. Anstatt die absurden Anforderungen des Arbeitsmarktes zu hinterfragen, wird das eigene Anpassungsvermögen optimiert.
Am absurdesten aber ist, dass für diese Form der Selbstausbeutung auch noch Geld fließt. Nicht nur für Ratgeberliteratur und Seminare, sondern auch für Produkte, die ein mentales Gleichgewicht herstellen sollen. Als „anxiety consumerism“ wird eine wachsende Industrie bezeichnet, die Entspannungsobjekte produziert: Malbücher für Erwachsene, E-Zigaretten mit aromatherapeutischen Essenzen, Gewichtsdecken zur Muskelentspannung.
Das Global Wellness Institute schätzt, dass die Wellnesswirtschaft 2018 einen Umsatz von mehr als 4 Billionen Dollar erwirtschaftet hat. Meditationsapps wie Calm oder Headspace sind millionenschwere Unternehmen, die ihren Profit aus dem Paradox schlagen, dass Smartphones zwar krank machen, aber scheinbar auch der bequemste Weg zur Erleuchtung sind – fünf Minuten täglich reichen aus.
Wenn Achtsamkeit mehr sein will als ein Verkaufsargument oder eine temporäre Problemlinderung, muss sie politischer werden. Als reines spirituelles Ergänzungsmittel festigt sie Missstände, anstatt ein Bewusstsein für wahre Alternativen zu fördern. Achtsamkeit und Meditation helfen tatsächlich, resilienter zu werden, aber der Widerstand dient selten dem richtigen Zweck.
Es geht nicht nur darum, Autonomie über den eigenen Geist zurückzuerlangen, sondern auch über die eigenen Umstände. Im Jetzt leben, wie es die Achtsamkeit fordert, darf nicht auf Kosten der Zukunft gehen. Sonst wird es schon bald mehr benötigen als Malbücher und Kuscheldecken, damit man abends beruhigt einschlafen kann.
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