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Die Unternehmen versprechen Gelassenheit für den Tag nach ein paar Minuten.
© Getty Images/iStockphoto

Apps zum Meditieren: Wie das Smartphone beim Abschalten helfen soll

Smartphones und Tablets sind Mitschuld an unserem Dauerstress. Nun sollen ausgerechnet sie uns helfen zu meditieren. In wenigen Minuten.

Fokussiere nichts, nimm den Raum um dich wahr. Schließ die Augen, spür das Gewicht deines Körper, lass Gedanken kommen und gehen. Wie Wolken am Himmel. Scanne langsam den Körper, vom Kopf bis zu den Zehen. Was fühlt sich gut an, was nicht. Atme!

Menschen auf der ganzen Welt beginnen ihren Tag inzwischen mit solchen Anweisungen. Sie öffnen auf dem Smartphone eine App und lauschen einer Stimme, die sie durch eine kurze Meditation leitet. Fünf, sieben, zehn Minuten lang. Für einen klaren Geist, bevor der Irrsinn in Bahn und Büro beginnt. Die bekannteste App ist Headspace. 2010 von Andy Puddicombe und Rich Pierson in London gegründet, wurde am Mittwoch die deutsche und erste nicht-englischsprachige Version in Berlin vorgestellt.

Die beiden Gründer sitzen in einem Zimmer des Soho House. Wieso 40 Millionen mit ihrer App meditieren? „Der Mensch strebt seit jeher nach Seelenfrieden“, sagt Puddicombe. „Gerade heute. Die Welt ist laut, schnell, hektisch. Technologien verstärken unseren Stress. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern.“

Sein Erfolg liegt auch an seiner eigenen Geschichte. Als Puddicombe 22 Jahre alt war, starben mehrere Menschen in seinem Umfeld tragisch. Er brach sein Sportstudium ab, suchte Antworten in Asien, ließ sich zum buddhistischen Mönch ausbilden, meditierte oft 18 Stunden am Tag. Ein Jahrzehnt lang. Dann zog er zurück nach England und absolvierte eine Zirkusschule. Während er Jonglieren übte, überlegte er, wie er sein Wissen übers Meditieren weitergeben könnte. Heute ist er ein 46-jähriger Unternehmer und Millionär, der die Menschheit gelassener machen will.

Selbstfürsorge war der App-Trend 2018

Wie nötig das sei, zeigt eine aktuelle Umfrage, die Headspace in Auftrag gegeben hat. Von 2400 Befragten in Deutschland meinten 40 Prozent, sie fühlen sich gestresst. Rund die Hälfte sei mitgenommener als vor fünf Jahren. Die Hauptgründe dafür seien zu viel Arbeit, ständige Erreichbarkeit, Multi-Tasking.

Für all das ist das Smartphone mitverantwortlich. Und ausgerechnet damit sollen sich jetzt wieder alle entspannen?

Puddicombe ist bewusst, wie paradox das klingt. „Im Grund ist das aber nur ein Gegenstand“, sagt er. „Wie wir es nutzen, entscheidet, ob es uns schadet. Wir haben die Wahl.“ Kurzum: Wer zwei Minuten auf den Bus wartet, muss das Handy nicht zücken. Und wenn doch, soll er doch lieber kurz meditieren statt Mails zu beantworten.

Es ist ein Milliardengeschäft. Deswegen ist Headspace auf dem Markt auch nicht allein, sondern bekommt immer mehr Konkurrenten, die erst mit einer Probephase werben und dann Abos anbieten. Auch der iPhone-Hersteller beobachtet die steigende Nachfrage und hat Selbstfürsorge zum App-Trend des letzten Jahres ernannt. Es ginge den Nutzern nicht mehr nur um das Zählen von Schritten und Kalorien, sondern um ihr geistiges Wohl. „Natürlich kannst du eine Menge mithilfe von Büchern und Therapeuten lernen, aber Apps unterstützen tägliches, häppchenweises Training – jeden Tag ein bisschen“, lässt sich dazu Psychiater Judson Brewer von der Brown University zitieren.

Der deutsche Marktführer ist 7Mind, ein Start-up, das 2014 in Berlin gegründet worden ist. 1,5 Millionen Frauen und Männer nutzen die siebenminütigen Meditationen zu Themen wie Innerer Balance, Konzentration, Grübeleien. Einer der beiden Gründer ist Manuel Ronnefeldt. Er hatte während seines Freiwilligen Sozialen Jahres in Indien zum Meditieren gefunden. Seitdem meditiert er jeden Tag 20 Minuten frei und nutzt seine App in der Bahn oder im Flieger. Er weiß aber auch: Nicht jeder wird sich dafür so viel Zeit nehmen. Sollen mehr Menschen meditieren, muss es in den übervollen Alltag passen.

Auch Ronnefeldt ist sich bewusst, dass Smartphones mit ihrem permanenten Blinken, Locken, Ablenken eher als Auslöser von Stress und nicht als Lösung gesehen werden. „Ich habe mein iPhone seit Jahren immer in meiner Tasche, gucke am Tag hundert Mal drauf“, sagt er. „Es ist unwahrscheinlich, dass es wieder verschwindet. Deswegen sollten wir unsere Beziehung dazu ändern.“ Seit zwei Jahren ist sein Unternehmen profitabel. Für dieses Jahr rechnet er mit einem Umsatz von fünf Millionen Euro. Drei Dax-Konzerne haben die App für ihre Mitarbeiter gerade eingekauft. Die gesetzlichen Krankenkassen kooperieren mit ihm und erstatten bis zu 100 Prozent der Kosten für 7Mind.

Fünf Minuten? Daran glaubt nicht jeder

Etliche Studien zeigen immerhin, dass regelmäßiges Meditieren zu mehr Stressresistenz, Konzentration, Zufriedenheit und Kreativität führt. In der Zeit soll der Mensch nichts planen, nichts bewerten, sondern nur sein, in diesem Moment. Mit dem Effekt, dass er auch generell ruhiger auf Ereignisse und Veränderungen reagiert. In England wurde jetzt deshalb das Schulfach Achtsamkeit zur Probe eingeführt. Auch Headspace und 7Mind haben sich messbare Effekte von Wissenschaftlern belegen lassen.

Günter Hudasch ist trotzdem etwas skeptisch. Er ist Vorsitzender des Verbandes der MBSR- und MBCT-Lehrer in Deutschland. Die beiden Abkürzungen stehen für anerkannte Achtsamkeitsprogramme, die in Unternehmen, Universitäten und Schulen eingesetzt werden. „Fünf Minuten meditieren ist besser als gar nicht meditieren. Das ist so, wie wenn man bei der ersten Tasse Kaffee wenigstens mit seinen Sinnen anwesend ist und nicht parallel Termine aufschreibt“, sagt Hudasch. Aber es sei nicht mit einem richtigen Kurs vergleichbar. „Acht Wochen lang täglich 30, 60 Minuten still da sitzen, seinen Körper spüren, Gedanken hören und Stimmungen wahrnehmen, ohne darauf zu reagieren, sondern nur beobachten, ist eine viel intensivere Erfahrung.“ Hinzu komme der Austausch mit dem Lehrer und anderen Teilnehmenden. Wer all das gelernt und verinnerlicht habe, könne auch mal zwischendurch fünf Minuten meditieren. Ansonsten glaube er nicht, dass viele App-Nutzer das über einen langen Zeitraum tun werden.

Wer will, kann sich an seine Mini-Meditation erinnern lassen. Die App macht die eigentlich anstrengende Praxis simpel, bequem – wenn das Smartphone für sonst schon alles genutzt wird, warum dann nicht auch für die Pause davon? Für den ehemaligen Mönch Andy Puddicombe ist das in Ordnung. Hauptsache die Menschen fangen an, und üben kurz, doch dafür stetig. Bei allem, was um sie herum geschieht! Am Tag nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten stieg die Nutzerzahl einer HeadspaceMeditation zur akuten Stressbekämpfung namens SOS um 44 Prozent.

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