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Léonore Ekstrand in dem schwedischen Wettbewerbsfilm „The Real Estate“.
© Flybridge

Geschlechterrollen im Berlinale-Wettbewerb: Die Frauen schießen zurück

Eins stand schon vor der Preisverleihung der Berlinale-Bären fest: Dieser Festivaljahrgang hat das Spektrum der Frauenbilder definitiv erweitert.

Seit den Missbrauchskandalen von Weinstein bis Wedel ertönt der Ruf nach neuen Frauenbildern im Kino umso lauter. Schluss mit all diesen Ladies, die vom Helden gerettet werden oder den Supermann zum Menschen machen (Hurra, der Herr hat ein Gefühl!), Schluss mit den Filmen, in denen sie Staffage bleiben, als Liebe des Lebens, treue Gefährtin oder Prämie für Heldentaten – wir wollen mehr Wonder Women! Nun sind Actionbräute und Flintenweiber auf die Dauer auch nicht abendfüllend. Aber wie wär’s, wenn wir uns an den Anblick weiblicher Tatkraft fürs Erste gewöhnen und Frauen einfach mal Heldinnen sein lassen? Um dann zu schauen, welche Vielfalt darin steckt?

Wie auch immer das filmkünstlerische Fazit zur Bären-Gala ausfällt: Das Spektrum der Frauenbilder hat die 68. Berlinale definitiv erweitert. Klar, es gab auch wieder die Klassiker, die schnatternde weibliche Verwandtschaft im Familienclan von „Museo“ aus Mexiko, die sexy Blondine als Traumfrau in „Twarz“ (siehe unten), die charmante Freundin in Gus Van Sants Biopic „Don’t Worry, He Won’t Get Far On Foot“ oder die tüchtige Hausfrau in der Jurte im Rentierjäger-Film „Ága“. Aber sie blieben diesmal in der Minderheit.

Der Bechdel-Test fällt positiv aus

Kleine Statistik der 19 Wettbewerbsbeiträge: Bei acht Filmen stehen Frauen im Zentrum, von Isabelle Huppert als femme fatale „Eva“ bis zur mutigen Andrea Berntzen im Amoklauf-Reenactment „Utøya 22. Juli“. Bei acht weiteren Filmen sind es Männer, bei drei Produktionen Paare oder gemischte Ensembles. Auch der Bechdel-Test – Gibt es mindestens zwei Frauen im Film? Sprechen sie miteinander? Über etwas anderes als einen Mann? – fällt positiv aus. Außer bei „La Prière“, der in einer Männergemeinschaft spielt, da entfallen solche Szenen naturgemäß. Mit ihrem Kurzauftritt als ohrfeigende Obernonne Myriam sorgt Hanna Schygulla allerdings kurzentschlossen für Gender-Gerechtigkeit.

Ein wenig ist es, als hätten die Protagonistinnen dieser 19 Filme die Debatte der letzten Monate verfolgt. Objekt der Begierde, der Blicke? Die Frauen schauen zurück. Und schießen zurück.

Marie Bäumer als Romy Schneider in „3 Tage in Quiberon“.
Marie Bäumer als Romy Schneider in „3 Tage in Quiberon“.
© Rohfilm Factory/Prokino/P. Hartwig

Schon die Showhündin Nutmeg in „Isle of Dogs“ legt inmittten von Alphatieren Wert auf die Feststellung, dass sie mit ihren virtuosen Kunststückchen keineswegs identisch sei. In „3 Tage in Quiberon“ pocht Romy Schneider alias Marie Bäumer auf eben diesen Unterschied von Image und Ich. Emily Atefs Kammerspiel nimmt unter die Lupe, wie subtil Zurichtung und Missbrauch vor sich gehen können.

Der Star, der den Zuschreibungen der anderen die eigene Wahrheit entgegensetzt, entledigt sich des Schutzes der öffentlichen Persona – und was tun die Männer, der Journalist und der Fotograf? Sie nutzen die Ehrlichkeit aus, für die eigenen Zwecke. Robert Lebeck steigt zu Romy Schneider ins Bett, weil sie es möchte. Und der Film macht klar, die Männer suchen die Nähe nicht ihr zuliebe, sondern für die Story, die Fotos.

Männer-Stereotypen auf dem Prüfstand

Mia Wasikowska verkörpert als Westernheldin „Damsel“ die Frau, die Nein sagt. Auch wenn die Komödie männliche Übergriffigkeit wie im Typenkatalog abhakt, vom Cowboy mit Helfersyndrom über das Rauhbein, das auf alte Rechte pocht, bis zum Jammerlappen, der Mitleid einfordert: Spaß macht es schon, wenn Penelope die Absurdität all der Macho-Varianten aufs Korn nimmt. Männer-Stereotypen auf dem Prüfstand: Ähnlich selbstironisch knöpft sich Mani Haghighi in „Khook“ seinen wehleidigen Filmemacher-Helden vor. Es sind die Frauen, die sich kümmern, ihm zusetzen, die Stalkerin genauso wie die wehrhafte Mutter – mit altpersischer Flinte.

Mia Wasikowska als „Damsel“
Mia Wasikowska als „Damsel“
© Strophic Productions Ltd.

In zwei Wettbewerbsfilmen tragen Frauen den Konflikt komplett unter sich aus. Im italienischen Drama „Figlia Mia“ ringen die leibliche Mutter (Alba Rohrwacher) und die Pflegemutter (Valeria Golino) um ihre Tochter. Hier die fürsorgliche Vernunft, da die freiheitsliebende Wilde: bisschen klischeehaft das Ganze nach dem biblischen Muster von Martha und Maria. Aber immerhin markiert der Coming-of-Age-Film das Ende der Kindheit einmal nicht mit dem Frühlingserwachen der ersten Liebe, sondern mit der Wahl zwischen zwei weiblichen Lebensentwürfen.

Introversion als Akt der Selbstbefreiung

Das paraguayische Psychodrama „Las Herederas“, in seiner stillen Intensität ohnehin einer der stärksten Wettbewerbsbeiträge, geht noch einen Schritt weiter und zeigt die Welt der dekadenten Reichen in Asunción vollständig als Mikrokosmos der Frauen. Sie gehen überschuldet ins Gefängnis, kaufen bourgeoise Hausstände auf, lassen sich zum Bridge chauffieren, leben als Paar zusammen, bis die Liebe erkaltet.

Ana Brun ist Chela, die Auto fahren lernt, sich mit dem Hausmädchen verbündet, sich scheu neu verliebt und ihre festgeschriebene Rolle als lebensuntüchtige Hobbymalerin hinter sich lässt. Introversion wird zum Akt der Selbstbefreiung – während Paula Beer der Marie in Christian Petzolds „Transit“ manifeste Konturen verleiht. In Anna Seghers’ Roman bleibt sie eine Erscheinung, eine verhuschte Gestalt, keiner wird ihrer habhaft. Bei Paula Beer hingegen hört man schon von Weitem ihre Schritte auf der Straße.

Ana Brun in „Las Herederas“
Ana Brun in „Las Herederas“
© Luis Armando Arteaga

Die meiste Empörung provozierte Léonore Ekstrand als Nojet in „The Real Estate“. Dabei ist die Schwedin die überragende Frauengestalt des Festivals. Ein Monster von Heldin, eine Wucht von Schauspielerin, ein 68er-Partygirl, altersfaltig, hager, durchtrainiert. Nojet erbt ein Mietshaus, sie will ihr Geld. Also hat sie Sex mit dem potenziellen Käufer, wird von der männlichen Verwandtschaft übervorteilt, schlägt zurück, muss die Etage mit den Immigranten mit Gewalt entmieten, um zu verkaufen.

In dieser Frau steckt die ganze Gier der Immobilienbranche, der Egoismus der westlichen Welt. Und jedes einzelne Bild dieses Films steht im Dienst von Nojet, nie wird sie denunziert, noch in den brutalsten Momenten versteht man, was sie tut. Man mag sie nicht, aber man ist bei ihr. Ein bad girl, das die bad guys der Filmgeschichte in den Schatten stellt.

Bei der Palmen-Verleihung letztes Jahr in Cannes sagte die Jurorin Jessica Chastain, die Frauenbilder in den Festivalfilmen hätten sie doch sehr irritiert. Sie meinte es kritisch. Ihre Schauspielkollegin Cécile de France könnte als Bären-Jurorin heute das Gleiche sagen – ins Positive gewendet.

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