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Nachschub gesucht? Unsere Jury und unsere Leser hätten da ein paar Tipps.
© picture alliance / dpa

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2014 - Matthias Hofmanns Favoriten

Welches sind die besten Comics des zu Ende gehenden Jahres? Das wollen wir von unseren Lesern und von Comic-Kritikern wissen. Heute: Matthias Hofmann, Chefredakteur der Fachzeitschrift Alfonz - Der Comicreporter.

Derzeit fragen wir unsere Leserinnen und Leser, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt worden. Sie besteht aus Anne Delseit (AnimaniA, Comix), Lutz Göllner (zitty), Volker Hamann (Reddition), Matthias Hofmann (Alfonz), Martin Jurgeit (Comix, Buchreport), Stefan Pannor (Blogger, Spiegel Online), Frauke Pfeiffer (Comicgate), Andreas Platthaus (FAZ) und Lars von Törne (Tagesspiegel).

Jedes Jurymitglied ist aufgefordert, unter den im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen Titeln seine fünf Favoriten zu nennen, mit Punkten zu bewerten und die Auswahl kurz zu begründen. Daraus ergibt sich eine Shortlist, über die die Jury in Kürze endgültig abstimmt.

Hier dokumentieren wir die Favoriten von Matthias Hofmann, Chefredakteur der Fachzeitschrift Alfonz - Der Comicreporter.

Platz 5:
Pussy Gesamtausgabe, Text/Zeichnungen: Peyo
Splitter Verlag/toonfish
Peyos kleine Katze ist ein Kind der 1950er Jahre, denn wer würde heute schon seinen Stubentiger auf den mehrdeutigen Namen »Pussy« taufen? Der Vater der Schlümpfe erfand die kurzen Comicstrips des schwarzweißen Pelzträgers mit Ach-wie-süß-Effekt für die belgische Tageszeitung "Le Soir", wo sie von 1949 bis 1955 erschienen sind. Der Splitter Verlag machte 2014 die (längst vergriffenen) heimelig amüsanten Abenteuer von Pussy innerhalb seines Funny-Labels toonfish wieder zugänglich. Im Meer der rückwärtsgerichteten Klassiker-Gesamtausgaben jeglicher Couleur, das man bei einer Wahl zum Comic des Jahres 2014 eigentlich außen vor lassen sollte, überstrahlt diese Sammlung wie ein Leuchtturm nahezu alles. Denn der Verlag hat das mustergültig editierte Buch nicht nur mit dem inzwischen von Lesern und Sammlern vorausgesetzten Bonusmaterial ausgestattet und nicht lediglich eine französische Lizenz nachgedruckt, sondern ist die Extrameile gegangen und hat eigene Inhalte dazu gepackt und sogar das Format umgestellt und das finale Produkt damit weiter optimiert. Ein wahrhaftiges Kleinod. Für jung und alt.

Matthias Hofmann.
Matthias Hofmann.
© Privat

Platz 4:
Mädchen am Strand, Text/Zeichnungen: Inio Asano
Tokyopop
Sex verbindet. Aber kann man eine Beziehung nur mittels des alten Rein-Raus-Spiels, und sei es noch so variantenreich, dauerhaft am Leben erhalten? »Ist es möglich, dass du dich in mich verliebst und wir irgendwann ein normales Paar werden?« fragt der Schüler Keisuke die Schülerin Koume, während sie ihm einen bläst. Das abgebrühte, von Jungs bitter enttäuschte, Mädchen antwortet lapidar: »Deinen Schwanz mag ich lieber als dich. Der hält wenigstens die Klappe.« Inio Asanos Manga passen nicht in die üblichen Schablonen. Schon vergangenes Jahr fiel meine Wahl des herausragendsten Mangas des Jahres auf ein Werk dieses jungen, gesellschaftskritischen Mangaka, der nicht immer linear erzählt. Der Zweiteiler "Mädchen am Strand" ist doppelt verstörend. Einerseits stellt er die Zerrissenheit des Erwachsenwerdens und die Folgen unerfüllter Liebe dar, indem er zwei junge Menschen zeigt, deren Verlangen nach Erfüllung sich im Lauf ihrer nur körperlichen und aus diametralen Motiven stattfindenden Beziehung allmählich umkehrt. Andererseits spart Asano schonungslos keinen Aspekt des Sexlebens seiner Protagonisten aus und hält die »Kamera« drauf, ohne das Ergebnis pornografisch wirken zu lassen. Eine mutige, Augen öffnende und nachdenklich stimmende Geschichte, inszeniert mit Asanos Markenzeichen-Stil, der mithilfe von gezielt und wohl dosiert eingesetzten Fotografien einen eigentümlichen Realismus erzielt.

Platz 3:
Das NAO in Brown, Text/Zeichnungen: Glyn Dillon
Egmont Graphic Novel
Im ohnehin nicht zu verachtenden Portfolio des noch jungen Imprints »Egmont Graphic Novel« schickten die Kölner Egmont Verlagsgesellschaften mit "Das NAO von Brown" ein Schwergewicht in den Ring, das schon im Frühjahr die Messlatte fürs restliche Jahr sehr hoch positionierte. Nicht, weil der Comic perfekt wäre, sondern weil er alle Elemente eines bedeutsamen Werks in sich vereint: eine kontroverse Story, die intelligent und anspruchsvoll erzählt wird, in einer ausgereiften Kombination aus Bild und Wort, wobei sich beides stellenweise kongenial ergänzt. Wow! Mit dieser voluminösen Graphic Novel erzählt der Brite Dillon die Geschichte von Nao Brown, einer jungen Frau (Halb-Japanerin, Halb-Britin), die an einer Zwangsstörung leidet. Sie ist ständig von dem Gedanken beseelt, dass sie anderen Menschen Gewalt zufügen oder sie gar umbringen könnte. Dillon zeigt dies, indem er die wirklich reizende und lieblich aussehende Nao in Zwischensequenzen einen Fremden vor einen Zug stoßen lässt, oder wie sie sich im Flugzeug überlegt, die Außentür zu öffnen oder wie sie gar eine Schwangere mit einem Messer sticht, um danach wieder in die Realität zurückzukehren. Grafisch ist Dillon auf einem hohen Niveau angekommen. Seine Figuren haben echte Gesichtsausdrücke und wirken nicht wie Stereotypen, die viel labern, wie so oft in mancher »niveauvollen« Graphic Novel, deren Künstler eklatante künstlerische Defizite offenbaren. Inhalt, Wirkung und Nachhaltigkeit von "Das NAO in Brown" lassen viel Raum für Interpretation durch den Leser. Nicht jede Frage wird beantwortet und so manches bleibt kryptisch. Gleichzeitig zementiert das die besondere Klasse des intelligent erzählten Buchs. Man wird noch lange nach der Lektüre mit einem anderen Leser darüber reden wollen.

Hier lesen Sie, welches die Top-Favoriten von Matthias Hofmann sind

Nachschub gesucht? Unsere Jury und unsere Leser hätten da ein paar Tipps.
Nachschub gesucht? Unsere Jury und unsere Leser hätten da ein paar Tipps.
© picture alliance / dpa

Platz 2:
Schattenspringer, Text/Zeichnungen: Daniela Schreiter
Panini Verlag
Wer kennt nicht dieses mulmige Gefühl, wenn man sich auf dem Weg zu einem wichtigen oder unangenehmen Termin befindet? Wer weiß wie sich Lampenfieber anfühlt, wenn man vor einer großen Gruppe von Leuten sprechen muss? Das ist alles gar nichts gegen die Emotionen, mit denen sich Daniela Schreiter seit ihrer Kindheit herumschlagen muss. Bei ihr wurde das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine besondere Form des Autismus. Sie hat Schwächen im Umgang und in der verbalen Kommunikation mit Menschen. Ihr Tagesverlauf ist stark eingeschränkt durch ein Festhalten an fein segmentierten Ritualen sowie der Angst, voll neben dem richtigen Leben zu stehen. Oft kommt sie sich vor, als wäre sie eine Außerirdische, denn ihre Umwelt sieht in ihren Problemen vorwiegend das Wunderliche. "Schattenspringer" ist mehr als nur eine augenzwinkernde, äußerst gelungene Selbstbespiegelung einer Autistin, sondern schafft es, diese erbbedingte Entwicklungsstörung nachvollziehbar und begreifbar zu machen. Das in Form eines Tagebuchs gezeichnete Werk macht sowohl betroffen und traurig, aber es ist ebenso höchst amüsant und unterhaltsam. Die Lebens- und Leidensgeschichte einer höchst ehrlichen Daniela Schreiter, die damit ihr Innerstes nach außen kehrt, entführt den Leser in eine andere, überempfindliche Welt, die neben der »normalen« existiert. Das Ergebnis ist so gelungen, dass man sich sogar dabei ertappt, wie man einige ihrer Befindlichkeiten und schrägen Erlebnisse mit seinen eigenen vergleicht und diese danach neu interpretiert. Hinter den locker-flockig knubbeligen Funny-Zeichnungen verbirgt sich ganz starker Stoff. Mit "Schattenspringer" von Daniela Schreiter sorgte Panini dafür, dass ein besonderes Webcomic-Juwel aus dem Netz den Weg zwischen zwei feste Buchdeckel gefunden hat. Daniela Schreiters autobiografischer Comic ist eine der sympathischsten, wichtigsten und ergreifendsten Neuerscheinungen des Jahres.

Platz 1:
Gung Ho Band 1: »Schwarze Schafe«, Text: Benjamin von Eckartsberg, Zeichnungen: Thomas von Kummant
Cross Cult
Da wird immer gejammert, dass deutsche Comicautoren keine echte Abenteuer erzählen können. Ganz früher war vieles ultrabieder, danach kamen der »Underground« oder billige Massenware, seit einigen Jahren tummelt man sich mit Graphic Novels und adaptiert vorwiegend Klassiker der Weltliteratur, oder einfach irgendwelche Bücher, die kein Mensch kennt und eigentlich auch nicht vermisst hat. Nur wenige Deutschsprachige schaffen überhaupt den Weg ins Comicschlaraffenland Frankreich, wo die Neunte Kunst begehrte Ware im Buchhandel und bei der Leserschaft ist. Doch alle paar Jahre kommt so ein deutscher Comic über den Umweg aus dem Land der Bandes Dessinées wieder zurück. Wie 2014 "Gung Ho", den zuerst ein frankophoner Schweizer Verlag für den frankobelgischen Markt in sein Programm genommen hat. Im Grunde ist "Gung Ho" ein Abenteuercomic reinsten Wassers. Er spielt in einer nahen Zukunft, irgendwo in Europa. Die Zivilisation wie wir sie kennen ist zusammengebrochen. Da ist diese unbekannte Bedrohung, die Menschen leben in Sicherheitszonen und mitten drin befinden sich zwei Brüder, die nicht leicht zu händeln sind. Was sich auf den ersten Blick nicht sonderlich aufregend anhört, ist ein verspieltes Konglomerat aus bekannten Versatzstücken, welches ein peppiges Eigenleben entwickelt. Der Comic lebt von dem sich behutsam entfaltenden Szenario, welches die im Raum stehende Gefahr peu à peu deutlich macht. Gekrönt wird die Handlung durch diese unglaublich schönen Bilder von Thomas von Kummant, deren betörende Farbgebung eher an Malerei grenzt als an traditionelle Zeichnungen. Die beiden Münchner von Eckartsberg und von Kummant liefern mit Gung Ho spannende Unterhaltung, wie man sie nicht mehr oft findet. Das hält dem internationalen Vergleich in jeder Hinsicht stand. Hier stimmt das Comicgesamtpaket. Und der erste Band ist nur der Anfang. Fortsetzung folgt. Freuen wir uns auf weitere vier Alben.

Die Favoriten der anderen Jurymitglieder veröffentlichen wir nach und nach:
Hier gibt es den Beitrag von Andreas Platthaus, hier den von Anne Delseit, hier den von Stefan Pannor, hier den von Lutz Göllner und hier den von Volker Hamann. Und hier finden Sie die Empfehlungen unserer Leser. Am 11. Dezember geben wir die Gewinner der Gesamtauswahl der Jury bekannt.

Matthias Hofmann

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