„Das Nao in Brown“: Farbiges im Schnellwaschgang
Glyn Dillons Comic-Erzählung „Das Nao in Brown“ lockt mit außerordentlichen Bildern, bleibt dabei aber zu oft an der Oberfläche. Oliver Ristau über Schein, Sein – und die eigene Betriebsblindheit.
Der Brite Glyn Dillon befasst sich in seinem Buch „Das Nao in Brown“ mit Symptomen, die der Psychopathologie zuzuordnen sind. Zu diesem Zweck hat er dem ganzen ein äußerst verführerisches Kleid verpasst. Nach der ersten Lektüre ist vehementer Enthusiasmus ob des Gesehenen nicht ungewöhnlich. Das kann den Leser mitunter dazu verleiten, die übrige Welt an der soeben gemachten Erfahrung teilhaben zu lassen. Womöglich gar in einer Art, die man in einer professionellen Rezension für völlig überzogen halten würde - wie im Falle des Autos dieser Zeilen. Glücklicherweise wurde es dann wenigstens kein redaktioneller Beitrag, beziehungsweise nicht der Versuch einer fachgerechten und überdies mit einem Honorar bedachten Kritik:
„Über all dem thront allerdings ein wahrhaft monumentales Werk, nicht nur was den Umfang betrifft: "The Nao of Brown" von Glyn Dillon. Grafisch auf extrem hohem Niveau, scheut sich der jüngere Bruder des bekannten Steve Dillon („Preacher“, „Punisher“) nicht, verschiedene Elemente wie reine Textpassagen oder mit Text unterlegte Illustrationen in den Handlungsablauf über eine an Zwangsstörungen leidende junge Frau zu integrieren und so ein von mentaler Erkrankung durchwirktes Gesamtpanorama zu entwerfen, das durch seine gekonnte Aquarellierung die verschiedenen Gemütszustände der Hauptperson treffend akzentuiert. Die Wahl der künstlerischen Mittel wird der Vielfältigkeit des Krankheitsbildes gerecht, und vermittelt trotz der unangenehmen Zustände, die die junge Frau durchleben muss, eine durchgängige Wärme, was auch durch die Wahl der Farben unterstützt wird. "The Nao of Brown" ist definitiv mein Titel des Jahres.“
Knapp zwei Jahre später, zum Zeitpunkt des Erscheinens der deutschen Übersetzung, haben sich die Hochstimmung und der Zwang zum Verfassen von buchrückseitenkompatiblen Zitaten verflüchtigt. Nach einer zweiten Lektüre notiert der Rezensent in einer Kurzkritik für die Comic-Seite in der gedruckten Ausgabe des Tagesspiegels ernüchtert:
„Mittels vom spanischen Comic der 1970er Jahre und von Animes und Moebius entlehnter Ästhetik entwirft Glyn Dillon ein von Rottönen dominiertes Porträt einer jungen Frau mit Zwangsstörungen. Die Aquarellierung akzentuiert die Gemütslage der Titelfigur und sorgt für Plastizität, längere Textpassagen finden ebenso Eingang. Eine ambitionierte Mixtur aus psychologischer Fallstudie und philosophischem Melodram, doch letztlich scheitert alles an thematischer Überfrachtung sowie einem nicht gelungenen Schluss.“
Doch was hat diese anfangs noch von Glück erfüllte Beziehung zwischen Rezipient und Werk nur so zerrüttet?
Was hat Dich bloß so ruiniert?
Nun, zumindest die graphischen Komponenten finden weiterhin Gnade vor den Augen des Betrachters. Denn Glyn Dillon beherrscht sein zeichnerisches Handwerk, und hier darf man diesen im Rezensionsgewerbe gern überstrapazierten Superlativ durchaus mal anwenden, meisterhaft. Was bedeutet, dass ein Referenzpunkt für seine Arbeit beispielsweise der ähnlich elegante Strich eines Genies wie Alex Raymond wäre. Nun weist Raymonds „Flash Gordon“ sicherlich einen der dümmsten Plots der Comicgeschichte auf, und erschwerend kommen noch rassistische sowie sexistische Stereotypen hinzu, aber das alles sieht einfach verdammt gut aus. Und immerhin ist sein Detektiv-Comicstrip „Rip Kirby“ bei weitem nicht so hohl wie die Erzählungen um den Weltraum-Arier Gordon, der selbst auf fernen Planeten der gelben Gefahr und dem weiblichen Recht auf Selbstbestimmung trotzt.
Hauptsächlich überführt Dillon in „Das Nao in Brown“ die in England vornehmlich während der 1970er sehr populäre Kunst der speziell auf weibliche junge Leserinnen zugeschnittenen Girl-Comics, deren Artwork von spanischen Künstlern wie Purita Campos, Rodrigo Rodríguez Comos oder Trini Tinturé angefertigt wurde, in ein zeitgemäßes und durch Computerkoloration häufig zusätzlich unterfüttertes hypermodernes Anime-Ambiente.
Vereinzelte Moebius-Zitate innerhalb der Bildkompositionen stehen für die unvermutet in den Alltag hereinbrechende Macht der Vorstellungskraft und versinnbildlichen somit die unwillkürlich auftretenden Zwangsstörungen der Titelfigur in einem sonst eher unaufgeregt abgewickelten Alltag. Dessen Parameter werden eben maßgeblich durch die Fixpunkte des Girl-Comics und der animeverhafteten Ästhetik bestimmt, welche die genormte, gesellschaftlich akzeptierte und kommerziell verwertbare Fantasie repräsentieren. Weiterhin gibt es Einschübe einer stilistisch ebenfalls nahe am Moebius-Stil angelegten und mit der eigentlichen Handlung interagierenden Erzählung voller märchenhafter Science Fiction-Elemente, die das Innenleben der Protagonisten um eine surreale Ebene erweitern.
Für diese durchdachte konzeptuelle und der Erzählung weitestgehend angemessene Darstellung und insbesondere deren perfekte Ausführung bekommt Herr Dillon die Prüfungsnote 0,75, welche umgerechnet einer 1+ entspricht. Die Bilder erreichen durchweg eine fast dreidimensional anmutende Qualität durch punktuell eingesetzte Aquarellierungstechnik, die mit den zartgliedrigen Tuschestrichen Dillons auf das Anmutigste zu einer selten gesehenen Plastizität in der figurativen Darstellung verschmelzen.
Allein, der gleichermaßen ambitionierte Versuch einer weiteren Verzahnung von Themenkomplexen wie Psychologie, Philosophie/Religion (hier: Buddhismus) und subtiler Beziehungsanamnese ist etwas zuviel des Guten. Nun wollte Glyn Dillon nach eigener Aussage nie einen die Hintergründe einer Zwangsstörung erhellenden Comic machen, so wie es zum Beispiel David B. mit seinem die Epilepsie thematisierenden Comic „Die heilige Krankheit“ getan hat, welcher auch von medizinischer Seite durchaus Lob erfuhr. Aber für die Beurteilung eines Werkes ist die originäre Intention des Schöpfers bekanntlich unerheblich.
Er gehört zu mir
Vor allem die sich in in herzzerreißenden Banalitäten auflösenden Handlungsstränge, die Etablierung einer Heilsbringung verheißenden und mit traditionellen Stereotypen aufgeladenen Beziehungskonstellation, die erst durch Autounfall und Apoplex ihre, Verzeihung, Schlagseite verliert, sind enervierend zu lesen und enttäuschen die geweckten Erwartungen des Lesers durch die bereits vollzogenen Höchstleistungen auf visueller Ebene umso mehr. Der Einsatz der eigentlich erst im Verlauf der Entstehung des Werkes in den Vordergrund gerückten Figur der Nao verstimmt bisweilen auf Grund ihrer Verwendung als schmückendes Beiwerk der männlichen Erlebniswelt, die sie umgibt.
Auch wenn man aus künstlerischer Sicht keinerlei Intentionen seitens der realistischen Darstellung eines Krankheitsbildes hegt, so muss man doch den davon Betroffenen als nicht selbst damit konfrontierte Person möglichst gerecht werden – gerade in derart sensiblen Bereichen und zudem von Stigmatisierung betroffenen Persönlichkeitsbildern. Eine gewisse Sensationslust bei der grafischen Umsetzung einiger Mordphantasien Naos ist jedoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Folgerichtig waren auch nicht alle von Zwangsstörungen Betroffenen davon begeistert.
Die Alternative, sogenannte Abweichungen von der psychischen Norm nur durch von diesen Betroffenen darstellen zu lassen, birgt natürlich ebenfalls ein großes Potential für Kritik in sich, denn Objektivität ist damit nicht zwangsläufig gewährleistet. Ebenso schnell wäre der Vorwurf von einer Aufwertung der eventuell mangelnden künstlerischen Qualität zu Gunsten einer vermeintlichen thematischen Authentizität im Raum.
Und so ist ironischerweise am Ende „Das Nao in Brown“ Alex Raymond näher, als man am Anfang hätte vermuten dürfen. Die gedankenlose Verwendung von trivialen Versatzstücken mit tendenziöser Ausrichtung ist der Arbeitsweise Raymonds bei „Flash Gordon“ nicht unverwandt. Die unverständlicherweise mit Qualität assoziierte Graphic-Novel-Etikettierung dürfte den eh leicht unterentwickelten Beißreflex des mit Comics befassten Feuilletons jedoch besänftigen, denn Mongo ist bekanntlich weit weg.
Glyn Dillon: Das Nao in Brown, Übersetzt von Volker Zimmermann, Egmont, 208 Seiten, 29,99 Euro
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