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Führt vom Sommermärchen 2006 ein Weg zum Aufstieg der AfD?
© Thilo Rückeis

Max Czollek über Nationalismus und Minderheiten: „Der rechte Teich wird überfischt“

Mit seiner Polemik „Desintegriert Euch!“ ruft Max Czollek Minderheiten dazu auf, sich der Anpassung zu verweigern. Ein Gespräch über den neuen Nationalismus.

Herr Czollek, „Integration“ gehört derzeit zu den meistbenutzten Vokabeln in politischen Debatten. Ihnen kommt das Wort zu den Ohren raus. Wieso?

„Integration“ ist ein Begriff, der von jeder demokratischen Partei in Deutschland verwendet wird. Es steht in allen Wahlprogrammen, kaum ein Gespräch über Migranten kommt ohne das I-Wort aus. Es gibt ein Integrations-Paradigma, in dessen Rahmen man sich Zugehörigkeit zu Deutschland vorstellt. Ich finde das hochproblematisch.

Warum?

In den Diskussionen und Ereignissen der letzten Zeit ist eine Radikalisierung des Integrationsdenkens zu beobachten. Das Wort selbst beruht auf der Vorstellung, dass die verschiedenen Minderheiten sich in die Mitte zu bewegen haben. Und in der Mitte ist etwas, was unsichtbar bleibt, nicht näher beschrieben werden muss. Diese Dominanzposition nenne ich deutsch. Deutsch bezeichnet diesen Ort, der bestimmt, wo Integration hinführen soll, wer integriert ist und wer nicht. Das Gerede von deutscher Leitkultur oder jüdisch-christlichem Abendland zielt letztlich auf die Bestimmung von Zugehörigkeit. Mit „Desintegriert Euch!“ schlage ich eine Strategie vor, sich dieser Bestimmung zu verweigern. Es gibt kein dominantes Zentrum, das die ganze Gesellschaft anleitet, sondern ganz viele Zentren und Orte, an denen entsteht, was deutsche Gegenwart, deutsche Kultur ist.

Was stört Sie am Bild von kultureller Einheitlichkeit?

Harmoniedenken spielt eine große Rolle in Deutschland. Subkulturen, die nebeneinander existieren, kann man sich nur als Parallelgesellschaften vorstellen. Nicht als etwas, das auf Dauer funktionieren könnte. Das ist eine spezifisch deutsche Denktradition, eine deutsche Angst. In anderen Ländern denkt man anders über Vielfalt. Das Motto von Kanada lautet: Unity in Diversity. Einheit in der Vielfalt. In der Leitkulturdebatte hingegen wird verteidigt, was Konservative als „das Deutsche“ apostrophieren. Dabei blenden sie aus, dass Homogenität historisch niemals die Realität war.

Nicht einmal nach 1933?

Da gab es das Ideal der Volksgemeinschaft, einer ethnisch und politisch gereinigten Gesellschaft, die auf eine andere Art dann in den fünfziger Jahren in Westdeutschland weitgehend realisiert war. Dabei ist die Wiedereingliederung alter Nazis vielleicht die größte Integrationsleistung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Da sind wir heute natürlich drüber hinaus, aber das ist der Zustand, zu dem die AfD scheinbar zurückmöchte. Wir erleben derzeit eine Rückkehr völkischen und rassistischen Denkens, und von der linken Gegenseite kommen konzeptionell kaum Angebote.

Wie könnte ein Angebot aussehen?

Es müsste mit der richtigen Problemanalyse beginnen. Für mich kann sie nicht lauten, dass AfD-Wähler und Pegida-Anhänger frustrierte, ausgeschlossene, sozusagen verlorene Deutsche seien, die man zurückgewinnen muss. Aber das scheint die herrschende Strategie zu sein. Stattdessen sollten wir lieber der Frage nachgehen, welche Vorstellungen von Zugehörigkeit das neue völkisch- rechte Denken möglich gemacht haben. Und auch in den politischen Programmen Konsequenzen daraus ziehen, dass ein Viertel dieser Gesellschaft laut Statistischem Bundesamt einen sogenannten Migrationshintergrund hat. Zählt man religiöse, sexuelle, kulturelle Minderheiten dazu, spricht einiges dafür, andere Modelle für das zu finden, was wir als Zugehörigkeit zu Deutschland definieren.

Warum spielen solche Überlegungen kaum eine Rolle in der Debatte?

Möglicherweise liegt das an der Trägheit politischer Gedanken. Man denkt gerne in den gewohnten Zugehörigkeitskonzepten weiter, selbst wenn die Realität bereits anderswo angekommen ist. Ich denke, es ist an der Zeit, auch mit den Konzepten hinterherzukommen. Die MeTwo-Debatte hat gezeigt, dass Menschen, die in der dritten Generation in Deutschland leben, nur weil sie dunkle Haare haben, Mohammed oder Ayse heißen, immer noch auf ihre Integrationsleistung befragt werden. In der Konsequenz haben sie nicht den Eindruck, als politische Subjekte zur Teilhabe an diesem Land aufgefordert zu werden. Dabei sprechen wir von einem Viertel der Gesellschaft, die Hälfte davon besitzt den deutschen Pass, eine riesige Wählergruppe also, die systematisch ausgeschlossen wird. Stattdessen wird das Achtel, das die AfD wählt, umworben. Man hat den Eindruck, dass alle Parteien ihre Angeln in den rechten Teich auswerfen, als wäre es die völlig überfischte Nordsee.

Juden, die ihren Glauben abgelegt hatten, wurden im Nationalsozialismus trotzdem ermordet. Hat Ihre Skepsis gegenüber der Assimilierung durch Integration mit dieser historischen Lektion zu tun?

Man sollte von jüdischer Seite nicht den Fehler machen zu glauben, nicht gemeint zu sein, nur weil die Aus- und Abgrenzung sich gerade vor allem auf Muslime konzentriert. Überhaupt, viele Freunde von mir, die jetzt als Muslime ausgegrenzt werden, sind gar keine. Und auch die Nazis haben viele Menschen zu Juden gemacht, die sich selber gar nicht mehr als Juden sahen. Daraus folgt doch, dass die Frage, wie du dich selber wahrnimmst, gar nicht entscheidend ist für die Art und Weise, in der du politisch positioniert wirst in der Gesellschaft.

Die Deutschen träumen von einem unverkrampften, „normalen“ Verhältnis zu Juden. Ist das Illusion oder Zumutung?

Beides. Ich verstehe schon, warum sich die andere Seite Normalisierung und Entlastung wünscht, Richard von Weizsäcker sprach von „Erlösung durch Erinnerung“. Aber von jüdischer Seite gibt es dieses Begehren nicht. Die Idee der deutsch-jüdischen Symbiose hat sich mit dem Nationalsozialismus erledigt, die wird es nicht mehr geben. Ich möchte darauf beharren, dass es nicht wieder gut wird. Aber das ist vielleicht gar nicht so schlimm, wie es klingt, denn dieser unheilbare Bruch ist doch auch eine Aufforderung, Deutschland als Gesellschaft mit unterschiedlichen Perspektiven und Konflikten zu denken. In diesem Sinne garantiert die jüdische Perspektive das Ende traditioneller Harmonie- und Homogenitätsvorstellungen in diesem Land.

Max Czollek, 1987 in Berlin geboren, ist Politikwissenschaftler, Lyriker und Kurator. Er initiierte die Radikalen Jüdischen Kulturtage. Gerade ist sein Essay Desintegriert Euch! (Hanser Verlag, 208 Seiten, 18 €) erschienen. Am 9. November will Czollek am Berliner Gorki-Theater das Institut für Desintegration gründen.
Max Czollek, 1987 in Berlin geboren, ist Politikwissenschaftler, Lyriker und Kurator. Er initiierte die Radikalen Jüdischen Kulturtage. Gerade ist sein Essay Desintegriert Euch! (Hanser Verlag, 208 Seiten, 18 €) erschienen. Am 9. November will Czollek am Berliner Gorki-Theater das Institut für Desintegration gründen.
© FOTO: PETER-ANDREAS HASSIEPEN

Die Fußball-WM 2006 gilt heute als Sommermärchen. Sie sehen einen „schwarz-rotgoldenen Exzess“. Warum so missmutig?

Vor 2006 war in meinem Umfeld klar: Ein Produkt, auf dem eine deutsche Fahne prangt, wird nicht gekauft. Bei Wettbewerben sangen deutsche Sportler die Hymne nicht mit. Das war kein Problem, sondern eine Lehre, die man aus der Geschichte gezogen hat. Und ich fand das gut so. 2006 war plötzlich alles anders, die Sehnsucht nach nationalen Symbolen, nach Nationalstolz brach förmlich aus den Leuten heraus. Es zeigte sich ein Kollektiv derjenigen, die sich gerierten, als wären sie vorher dazu gezwungen worden, ihre Nationalgefühle zu unterdrücken. 2006 war diese Haltung fast unwidersprochen, die Menschen empfanden das wie eine Befreiung, eine Wiedervereinigung 2.0. Zehn Jahre später haben wir die AfD im Bundestag. Diese beiden Dinge hängen für mich zusammen.

Sie übertreiben. Schwarz-Rot-Gold, das sind die Farben der deutschen Demokratie, der gescheiterten Revolution von 1848.

Das kann man vielleicht so herleiten, aber de facto ist das nicht, was auf der Straße passiert. Da hängt niemand die Fahne raus und sagt „1848“. Probieren Sie es gerne einmal aus! Kaum einer von denen, die jetzt die Fahne schwenken, könnte erklären, was 1848 passiert ist. Die Frage ist doch, was man erreichen möchte mit einem Diskurs der Nationalliebe, die bis ins Lager der Grünen reicht, zur Sommerreise von Robert Habeck und Annalena Baerbock unter der Devise „Des Glückes Unterpfand“. Woher der Optimismus, dass das diesmal gut geht? Inzwischen sind zwar die alten Nazis fast alle tot, aber wir leben in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft. Mehr als jeden zweiten Tag findet ein Übergriff auf eine Flüchtlingsunterkunft statt. Eine neovölkische Partei sitzt im Parlament und hat immer weiter Zulauf. Das ist alles noch nicht so lange her in diesem Land.

Halten Sie die AfD für antisemitisch?

Das Problem ist doch, dass in Deutschland die Leute immer KZ hören, wenn man Antisemitismus sagt. Bei anderen Formen von Diskriminierung ist das differenzierter. Wer Sexismus sagt, muss nicht Vergewaltigung meinen, Belästigung gehört auch dazu. Auch Antisemitismus hat in den meisten Fällen nicht Schoah bedeutet, sondern Ghetto, Ausschluss, Entrechtung und Marginalisierung. In diesem Sinne finden sich antisemitische Tendenzen in der AfD. Aber mich interessiert diese Partei vor allem als Auslöser, als Trigger für das, was jetzt in den großen Parteien und der Gesellschaft passiert. Denn aus Umfragen wissen wir ja, dass ein Fünftel der Gesellschaft stabil antisemitische Einstellungen hat. Die Frage lautet: Was ist mit den anderen 80 Prozent, warum gelingt es ihnen nicht, sich stabil abzugrenzen?

Ihre Parole lautet: „Wir werden diese Gesellschaft nicht aufgeben“. Wie wollen Sie kämpfen?

Nach der Bundestagswahl gab es bei meinen Freunden und mir zwei Impulse: Wir suchen uns ein Exil – oder wir fangen jetzt an, uns zu wehren. „Desintegriert Euch!“ ist der Versuch, sich zu wehren.

Was heißt das konkret?

Wir müssen aus den Orten, die Laboratorien für neue gesellschaftliche Zusammenhänge sind, hinausgehen in die Gesellschaft. Wir müssen mehr intervenieren. Dabei funktioniert etwa das Berliner Gorki-Theater als eine Art Durchlauferhitzer für politische Innovationsmodelle. Viel mehr, als das in Universitäten oder im Feuilleton der Fall ist.

Sind Sie optimistisch, dass Deutschland eine offene Gesellschaft bleibt?

Ich bin extrem irritiert von vielen politische Entwicklungen der letzten Monate. Nicht auf der Seite der AfD, da weiß ich, dass es nicht meine Freunde sind. Sondern auf der anderen Seite, bei den Leuten, die ich für Verbündete halten möchte. In der Linken gibt es viel Ignoranz, viel Unwissen und Nicht-wissen- Mögen über die Zuschreibungen, die Migranten, Muslime und Juden gleichermaßen erleben. Mein Lieblingsschriftsteller Umberto Eco hat einmal vom tragischen Optimismus gesprochen, der weiß, dass es schlecht aussieht, und es trotzdem versucht. Damit möchte ich es halten. Da geht noch was.

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