Streit zwischen Moses Pelham und Kraftwerk: Der EuGH entscheidet über einen für die Musik besonders wichtigen Fall
20 Jahre stritt Moses Pelham mit Kraftwerk über zwei Sekunden Musik. Der EuGH hat nun grundsätzlich geurteilt – mit erheblichen Folgen.
Die berühmtesten zwei Sekunden Musik der deutschen Rechtsgeschichte sind nun auch international von Bedeutung. An diesem Montag hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Grundsatzentscheidung getroffen. Auf dieser Grundlage muss der Bundesgerichtshof (BGH) im konkreten Rechtsstreit Kraftwerk gegen Moses Pelham ein Urteil fällen. Das gibt der Sache, die schon alle deutschen Instanzen beschäftigte, eine neue Richtung. Wieder einmal.
Drei Jahre ist es her, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über dieselben zwei Sekunden Musik urteilte. Zwei Sekunden, die ursprünglich von der deutschen Band Kraftwerk, Pioniere der elektronischen Musik, 1977 als Teil ihres Tracks „Metall auf Metall“ komponiert und eingespielt wurden. 1997 eignete sich ein Team um den Komponisten und Produzenten Moses Pelham diese zwei Sekunden als digitales Extrakt (Sample) von der Tonaufnahme Kraftwerks an. Pelham unterlegte damit in einer Dauerschleife als Rhythmus den Song „Nur mir“ der Deutschrapperin Sabrina Setlur. Gefragt hatte Pelham nicht. Kraftwerk erhob Klage, unter anderem auf Schadensersatz und Unterlassung. 20 Jahre ist das her. Die Dauer zeigt die Fallhöhe an. Die Dimension dessen, worum gerungen wird.
Sampling steht kurz gesagt für die Möglichkeiten, beliebig große Auszüge aus Tonaufnahmen digital zu extrahieren, zu speichern, zu transformieren und in neuen Tonaufnahmen weiterzuverwenden. Seit Mitte der 1980er Jahre, als Technik und Software plötzlich erschwinglich wurden, ist Sampling kompositorische Alltagskultur mit niedriger Zugangsschwelle. Heute geht das mit jedem Smartphone.
Der Streit um „Metall auf Metall“ ist der erste Rechtsstreit, der diese kulturelle Entwicklung auf dem Verfahrensniveau der allerhöchsten Gerichte verhandelt. Und dann gleich aller erreichbaren. Vor BGH, BVerfG und EuGH.
Der Fall ist für die Musik besonders wichtig. Denn hier wird häufig schlicht deswegen gesampelt, weil den Künstler etwas am Sound oder Groove des Übernommenen interessiert, das er musikalisch in eine andere Richtung als im Original realisiert weiterentwickelt. Mit dieser Motivation tut sich das Urheberrecht besonders schwer, anders als etwa mit kritisch-humoristischen Intentionen, wie etwa bei Parodien, wo es tendenziell großzügig ist.
Dieser Spezialfall aus der Musik steht darüber hinaus stellvertretend für eine Vielzahl digitaler Remixpraktiken – von Fotomemes bis Videomashups. Faktisch wirkt das Metall-auf-Metall-Verfahren daher zudem wie ein Musterprozess für einen ganzen Lebensbereich. Weit über die Musik hinaus.
Man kann die Bedeutung der Angelegenheit also nicht hoch genug hängen. Und sie hat durch das Urteil nochmals eine ganz andere Größenordnung gewonnen.
Nicht so sehr in Sachen Sampling selbst, die vermeintliche Hauptsache also. Hierfür bringt das Urteil des EuGH letztlich nur Nuancierungen. Der EuGH sieht einen Spielraum für Situationen, in denen die Kunstfreiheit das Eigentumsrecht an Werk, Darbietung und Tonaufnahme sticht. Ähnlich hatte zuvor das Bundesverfassungsgericht argumentiert.
Anders sind vor allem die Feinheiten.
Laut EuGH handelt es sich schon nicht um eine Vervielfältigung der Vorlagentonaufnahme, wenn der Samplingakt klein ausfällt („Audiofragment“) und der Sample im neuen Werk nicht mehr zu erkennen ist. Ist der Sample noch in seiner ursprünglichen Gestalt zu erkennen, eröffnet der EuGH eine zweite Exit-Option: über das Zitatrecht, wenn das Sampling erfolgt, um mit der Vorlage zu „interagieren“. In beiden Fällen braucht der Sampelnde künftig keine Genehmigung mehr.
Die Grenzen sind eng gezogen. Der Spielraum für unlizenziertes Microsampling ist dennoch gewachsen im Vergleich zur Rechtslage vor dem Metall-auf-Metall-Verfahren, als jeder Samplingakt gleich welchen Umfangs, gleich welcher Weiterverarbeitung des Samples im neuen Musikstück zumindest das Tonträgerherstellerrecht verletzte. Immerhin ein Ertrag. Wenn auch ein bescheidener für 20 Jahre Prozess. Und ein künstlerisch zweifelhafter. Denn belohnt wird nun vor allem das Verstecken des Samples.
Da das Urteil zudem all diese Kriterien nicht weiter konkretisiert, ist weiterer Streit vorhersehbar – auch in dem konkret zu entscheidenden Rechtsstreit selbst, wenn der BGH nun unter diesen Prämissen des EuGH urteilen muss. Noch kann Pelham gewinnen. Angesichts der Art des Samples, der zu Beginn von „Nur mir“ freistehend und leicht identifizierbar zu hören ist und ohne Anhaltspunkt für eine künstlerische Interaktion mit Kraftwerk als Zweck des Samples, als Kritik, Parodie oder Hommage, spricht jetzt jedoch wieder vieles für einen Sieg von Kraftwerk.
Neue Auseinandersetzungen sind vorprogrammiert
Ungleich weitreichendere Folgen hat aber ein anderer Aspekt im Urteil des EuGH: Für das deutsche Bearbeitungsrecht insgesamt. Für alle Künste. Für Aneignungen jeder Art.
Seit 1902 gilt in Deutschland der Grundsatz der freien Benutzung. Wer geschütztes Material aus Werken Dritter übernimmt, aber etwas Eigenständiges daraus macht, braucht nicht zu fragen. Die freie Nutzung dient der kulturellen Vielfalt, verhilft ihr zur Geltung gegen die Monopolmacht, die Urheber- und Leistungsschutzrechte gewähren. Der Streitpunkt bleibt im Einzelfall, ab wann Eigenständigkeit erreicht ist, aber der Hebel für den Interessensausgleich ist kunstnah gedacht.
Das Urteil des EuGH bleibt an dieser Stelle zwar erstaunlich implizit. Aber klar ist doch, dass alle im EU-Urheberrecht adressierten Rechtegruppen, darunter Komponisten, Texter, Performer und Tonträgerhersteller, künftig Adaptionen nur noch in den engen Grenzen des Zitatrechts werden dulden müssen. Oder wenn sich die Bearbeitung als Parodie, Karikatur oder Pastiche (für das es bislang im Europarecht keine eindeutige Definition gibt) erweist. Denn einzig hierfür ist es laut EuGH Mitgliedsländern erlaubt, Ausnahmen vorzusehen. Für Sampling. Aber eben auch darüber hinaus. Diese Kategorien treten nun in Deutschland an die Stelle der bisherigen Eigenständigkeitsprüfung.
Für Parodien und Karikaturen ist das praktisch kein großes Problem. Hier ist die deutsche Rechtsprechung ohnehin ausdifferenziert und nah am EU-Recht. Aber für alle nicht kritisch-humoristisch gemeinten Adaptionen, auch den nicht digital erstellten, verbleibt künftig nur noch die Pastichekategorie als Option, wenn ein Lizenzerwerb wie so oft nicht zu erreichen ist. Es ist aber schon juristisch weithin umstritten und letztlich unklar, was mit Pastiche als Rechtsbegriff eigentlich überhaupt gemeint ist. Und auch in den Künsten wird ganz verschiedenes darunter verstanden. Für Deutschland heißt das, freie Benutzung ganz neu zu denken. Massive Rechtsunsicherheit wird die Folge sein. Die nächsten langwierigen Auseinandersetzungen im Bearbeitungsrecht sind also vorprogrammiert.
Der Autor ist habilitierter Musikwissenschaftler und Jurist. Er lehrt u.a. an der FU Berlin.
Frédéric Döhl