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Beim Rathaus-Dialog legte Chris Dercon ein beachtliches Tempo vor. Nur einer konnte mithalten...
© Rainer Jensen/dpa

Kulturmetropole Berlin: Chris Dercon hängt (fast) alle ab

Mehr Freiräume, mehr Chaos! Das wünschen sich vier Berliner Kulturplayer, die von auswärts kommen, für die Zukunft der Stadt. Und Chris Dercon reagiert auf Volksbühnen-Kritik. Eine Diskussion im Roten Rathaus.

Berlin ist die Hauptstadt der Selbstbeobachtung. Und die Hauptstadt der Selbstüberschätzung. Die Hauptstadt der Sprechtheater, genauer: der Sprechdenktheater, ist sie auch noch, einschließlich der Podiumsdiskussion hier im Roten Rathaus. Und: Berlin ist geprägt von Dualismen, Ost und West, Alexa und Mitte, Bund und Land, Stadt und Brandenburg, die große Kultur und die kleine, die Etablierten und die Freien. Die berühmte Berliner Szene? Die gibt es nicht.

Chris Dercon,  Castorf-Nachfolger und Volksbühnen-Chef ab 2017, um den seit einem Jahr ein heftiger Streit tobt, feuert eine These nach der anderen ab bei diesem "Rathaus-Dialog" über die „Zukunft der Kulturmetropole Berlin“ am Donnerstagabend. Nicht nur bemerkenswerte Beobachtungen, sondern auch kühne Behauptungen und provokante Zuspitzungen, die eine Debatte bekanntlich beleben. Dercon stellt auch brisante, hochaktuelle Fragen wie die nach der türkischen Community in der Stadt, wie sie sich verändert durch die dramatischen Ereignisse in der Türkei – und wie dies auch Berlin als Ganzes verändern wird. 

Die anderen kommen kaum nach. HAU-Chefin Annemie Vanackere macht sich einmal mehr für eine bessere Ausstattung der wachsenden freien Szene und für die Erhaltung der letzten Freiräume stark. Matthias Schulz, Intendanten-Kronprinz an der Staatsoper, warnt zu Recht davor, die Künste vor lauter Experimentierfreude ihrer jeweiligen Identität zu berauben. Und der neue Stadtmuseums-Chef Paul Spies, der es noch am ehesten mit Dercons Tempo aufnehmen kann, plädiert für mehr Chaos, mehr Partizipation, mehr Flexibilität. Der Niederländer, seit Februar im Amt, hatte sich erst Anfang der Woche bei der Vorstellung des Masterplans für seine Häuser und der von ihm verantworteten Berlin-Pläne fürs Humboldt-Forum fröhlich, aber deutlich über die schleppende Berliner Bürokratie beklagt.

...und das war Paul Spies, neuer Direktor des Stadtmuseums Berlin.
...und das war Paul Spies, neuer Direktor des Stadtmuseums Berlin.
© Jörg Carstensen/dpa

Die Fehler totsanierter Metropolen wie Paris oder London gilt es zu vermeiden

Modernes Projektmanagement in der Berliner Verwaltung. Mehr Geld für die Freien. Jedem Kind ein Instrument. Und bitte, unbedingt, die Fehler totsanierter Metropolen wie London, Paris, Barcelona oder Amsterdam vermeiden. All das und noch mehr wünscht sich das illustre Kulturquartett im Rathaus-Festsaal. Noch hat Berlin die Chance, mit einer vernünftigen Bau-, Sozial- und Kulturpolitik die Kreativen, die Jungen weiter in der Stadt zu halten und das jetzige Momentum des vitalen Chaos' zu beschützen (Spies). Die Symbolkraft der Stadt, so Dercon, liege in ihrem permanenten Wandel. Nicht leicht, die Bedingungen dafür zu garantieren. Wenn immer mehr Menschen nach Berlin kommen, Investoren, Start-up-Leute oder demnächst auch die Künstler aus Brexit-Großbritannien, droht die Attraktivität der Stadt sich selbst zum Verhängnis zu werden. Durch höhere Mieten, Verdichtung, weitere Gentrifizierung.

Ob das Wünschen hilft? Annemie Vanackere versucht es mit Lob und freut sich darüber, dass die Stadt sich mit dafür stark gemacht hatte, den Verkauf des Dragoner-Areals am Kreuzberger Mehringdamm an einen Investor zu verhindern. Ein Biotop mehr, ein Standort mehr für bezahlbaren Wohnraum, nie war es so kostbar wie heute. 

Der Adressat für all die Forderungen und Anregungen – die wenigsten sind übrigens neu - sitzt in der ersten Reihe im Rathaus-Festsaal. Michael Müller hatte sich bei der Begrüßung in inzwischen bewährter Manier unmissverständlich zur Kulturstadt Berlin bekannt und als Regierender Kultursenator mit Blick auf den 18. September ein Wahlversprechen formuliert. Sollte er auch künftig etwas zu sagen haben, bleibt es entweder bei der jetzigen Konstellation – die Kultur als Chefsache des Regierenden mit einem starken Staatssekretär in der Senatskanzlei - oder sie erhält ein eigenes Ressort. Die Kultur als Anhängsel eines anderen Senats, das wäre die schlechteste Lösung, so Müller.

Chris Dercon amüsiert sich über die Protestbriefe gegen ihn

Eine kleine Neuigkeit hat auch Dercon mitgebracht, zumindest was den Zeitplan des bisherigen Tate-Modern-Chefs betrifft. Im September wollen er und sein Vorbereitungsteam erste Details zum Volksbühnen-Programm im Hangar 1 des Flughafens Tempelhof verkünden. Aktivitäten, so deutet er an, die den Ort mit einbinden, auch die Flüchtlinge, die in den anderen Hangars untergebracht sind. Den kompletten Spielplan für seine erste Saison 2017/2018 wird er im April oder Mai nächsten Jahres vorstellen.

Dercon macht sich nicht nur Freunde an diesem Abend im Rathaus. Der Theaterstreit – hier die Frank-Castorf-Fraktion, die die Zerschlagung der Volksbühnen-Tradition fürchtet und des Ensembles, dort die Befürworter eines Neuanfangs unter einem Mann, der aus der Kunstszene kommt und den klassischen Theaterbegriff entgrenzt, was an dem Haus ja ohnehin längst geschieht – wird jedenfalls nicht beigelegt. Dercon geht mit seinen Kritikern scharf ins Gericht. Gleich zweimal prangert er die Kollegen von der „Berliner Zeitung“ an, weil dort fälschlicherweise von der Entlassung von 50 Ensemblemitgliedern die Rede war. Es sind nur halb so viele, die übliche Zahl bei Intendantenwechseln. Auch amüsiert er sich über die Offenen Protestbriefe gegen seine Berufung, über Begriffe wie „neoliberaler Präsentationswahnsinn“, „Eventschuppen“ oder „Ausräucherung“. Versöhnung klingt anders.

Vier Kulturplayer, die von außerhalb kommen, die Belgier Vanackere und Dercon, Paul Spies aus Amsterdam und der Bayer Matthias Schulz, der zuletzt das Salzburger Mozarteum leitete. Ihr kritisch-enthusiastischer Blick, ihr energischer Wille, die Kulturszene aus ihrer Routine zu reißen, ihre sichtliche Lust an kämpferischen Tönen, am Disput, das tut gut. Auch wenn Dercon sich am Ende etwas mehr Ruhe für sich und sein Team wünscht, etwas weniger Aufregung um seine Person - er wird gewiss weiter für Wirbel sorgen. Geschichte ist zum Mitmachen, ruft Paul Spies in den Saal. Ein Museum für Stadtgeschichte sowieso. Aber auch die Kulturgeschichte Berlins, an der jeder mitschreiben kann.

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