Intendantin Annemie Vanackere über Theater und Gegenwart: „Konsens ist keine Kunst“
Annemie Vanackere ist seit vier Jahren Intendantin des Hebbel am Ufer. Ein Gespräch über Kurzatmigkeit und Geschichtsbewusstsein – und die neue Dynamik in Berlin.
Frau Vanackere, es ist sehr ungewöhnlich, dass sich das HAU jetzt mit Heiner Müller beschäftigt, einem Dramatiker, der vor zwanzig Jahren gestorben ist. Das HAU ist bekannt für das Diskursive, Performative, nicht für die Arbeit am Text, nicht für Schauspiel, nicht unbedingt fürs Theaterhistorische. Ändern Sie Ihre Richtung?
Nein, und es wird auch nicht die letzte Auseinandersetzung mit einem großen politischen Theaterautor sein. Im Herbst haben wir eine Reihe über Peter Weiss und zur „Ästhetik des Widerstands“, zu seinem 100. Geburtstag. Es ist ein grundsätzlicher Punkt: Wir wollen über die Geschichte in der Gegenwart reflektieren. Ich mache das Programm hier auch nicht allein, es gibt viele verschiedene Wissensformen im HAU. Aenne Quiñones, meine Stellvertreterin für die künstlerische Leitung, hat noch persönlich mit Heiner Müller zusammengearbeitet. Es geht um die Vertiefung der gegenwärtigen Theaterarbeit, man trifft immer wieder auf Phänomene und Fragen, die Heiner Müller hellsichtig aufgeworfen hat.
Heiner Müller gilt als wichtigster deutschsprachiger Dramatiker nach Brecht, als Geschichtspessimist und Apokalyptiker. Er war vor und nach der Wende das dunkle Genie von Berlin. Spielen seine Texte in Ihrem Programm eine Rolle?
Wir fragen nicht, welche Stücke von Müller wollen wir jetzt inszenieren? Wir haben ja kein Ensemble. Doch es wird die Auseinandersetzung mit seinen Texten geben, wie bei „Enter the Hydra“ von Veit Sprenger. Damian Rebgetz beschäftigt sich mit „Medeamaterial“. Oder wir haben eine Installation von Hans-Jürgen Syberberg, „Für Heiner Müller“, die das Drama „Die Umsiedlerin“ einbezieht, das Thema der Bodenreform in der DDR.
Als das Hebbel am Ufer noch Hebbel-Theater hieß, gab es hier eine Heiner-Müller-Werkschau. Es war der Sommer 1988, große Veränderungen kündigten sich leise an. Bald dreißig Jahre sind vergangen seitdem. Solche langen Linien gibt es in der Kunst, im Theater kaum mehr, es wirkt fast alles so kurzatmig ...
Ich verstehe, wenn Sie sagen, wir brauchen ein historisches Bewusstsein. Dieser Gedanke hat sich für mich geschärft, seit ich in Berlin lebe und arbeite, seit gut vier Jahren. Wo sind wir hier eigentlich? Was passiert hier, was sehen wir schon nicht mehr? Je weniger man weiß, desto schlechter versteht man die Gegenwart. Was wird hier gerade zugeschüttet? Solche Fragen bewegen uns bei der Programmarbeit.
Warum hat man in den Theatern überall den Eindruck einer lauten, zersplitterten, plattgedrückten Gegenwärtigkeit und kaum Gefühl für Geschichte und Ästhetik?
Zersplitterung ist ein allgemeines Lebensgefühl – das kann man aber auch aus einer Distanz zeigen, mit einem Bewusstsein davon. Deshalb schreiben wir den Satz von Heiner Müller über das Programm: „Was jetzt passiert, ist die totale Besetzung mit Gegenwart.“ Wenn Sie öfter in unser Theater kämen, würden Sie spüren, dass wir keine Fernsehnachrichten auf die Bühne bringen. Hier laufen ruhige, reflektierte Prozesse. Und ich finde das Prinzip Werkschau auch sehr gut und wichtig: Die Arbeit von Künstlern wie Lina Majdalanie und Rabih Mroué sichtbar machen und halten, Wiederaufnahmen organisieren, größere Zusammenhänge darstellen.
Dennoch macht sich, wenn man in den Theatern unterwegs ist, Langeweile breit. Weil die Künstler so viel vordergründige Realität wie möglich hineinholen in ihre Stücke, sie imitieren bloß das Draußen.
Das bestreite ich. Wir haben im HAU viele Tänzer und Choreografen, die sprechen ohnehin eine andere Sprache. Da geht es um körperliche Erfahrung und ganz andere Transformationen. Ich kenne viele junge Künstler, die Freude haben am Spiel.
Aber warum sieht alles im Theater so gleich aus überall? Fast alle reiten den diskursiven Komplex. Politische Probleme, kurzgeschlossen mit Performance.
Es muss schon spezifisch sein, wenn man das so macht, spezifisch auch in seiner Form. Kunst darf nicht Brotbacken oder soziale Hilfe ersetzen. Wir haben allerdings Diskussionen im Haus, mit Publikum. Theater als öffentlicher Raum zum kollektiven Denken, so sollte es doch sein! Es gibt ein starkes Bedürfnis danach, das liegt in unserer komplexen Zeit, die auch Angst macht.
Die Häuser sind voll, das Publikum strömt. Das heißt, Theater ist ein Raum des Austauschs und der Begegnung, des sicheren Zusammenseins, aber ohne: Theater.
Das kann man nicht gegeneinander stellen. Kunst und Öffentlichkeit gehören zusammen. Wir wollen unsere Theaterpraxis mit dem philosophischen Gespräch begleiten, deshalb zum Beispiel unsere Foucault-Reihe. Die Performing Arts bleiben aber der Kern unserer Arbeit. Die Vorstellungen von Philippe Quesnes „La mélancolie des dragons“ und der Tanzkompanie Rosas mit Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“ waren ja alle ausverkauft. Das Publikum hat eben auch große Lust auf Fantasie, auf Kunst, die die aktuellen Diskurse transformiert.
Seit Müllers Tod hat sich das Theater doch grundsätzlich verändert. Das Theater spielt nicht in erster Linie mehr, es löst keine Debatten aus, es führt welche.
Viele Intellektuelle sagen, das kritische Denken finde heute im Theater statt. Doch eine Akademie ist das Hebbel am Ufer nicht. Wir bieten ein Forum für Bürger. Danach gibt es ein großes Bedürfnis, das ist sehr Berlin.
Wie hat sich Berlin in Ihren Augen verändert in den letzten vier Jahren, seit Sie aus Rotterdam hierhergekommen sind?
(Lacht) Ich habe mit Michael Müller und Tim Renner zwei neue Chefs, mich hat ja noch André Schmitz engagiert. Aber im Größeren: Die Stadt hat immer mehr junge Menschen und immer weniger wissen zum Beispiel, wo einmal die Mauer war. Der Wohnungsmarkt ist schwierig geworden. So viele Menschen flüchten sich zu uns. Die Frage von Wohnen und Nachbarschaft ändert sich radikal und schnell.
Matthias Lilienthal, Ihr Vorgänger und HAU-Gründer, sagte immer: Das HAU ist ein Kreuzberger Stadttheater. Wie spüren Sie die Veränderungen rundherum?
Schauen Sie aus dem Fenster. Wir haben eine Kooperation mit einer Schule auf der anderen Seite des Kanals, dort wohnen Flüchtlinge in der Turnhalle. Das kam über Nacht. Da tun wir viel. Neben dem HAU 3 ist eine Anlaufstelle für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, die wir gern auch mal einladen ins Theater. Neben dem HAU 1 hat ein Haus für Obdachlose eröffnet, da war früher der Großbeerenkeller, eine berühmte Theaterkneipe.
Da tranken die Helden der Schaubühne von Peter Stein, à propos Gegenwart und Geschichte.
Da drüben, im alten Postscheckamt, soll ein „Vertical Village“ für sogenannte professionelle Nomaden der Globalisierung entstehen. Das sind nur vier Beispiele aus unserer unmittelbaren Umgebung. Schöne Kontraste, oder? Wir selbst sind ein internationales Haus. Berliner Künstler kommen sowieso aus aller Welt, besonders bei den Tänzern.
Fürchten Sie den großen bösen Chris Dercon, Ihren Landsmann, der aus London an die Volksbühne kommt?
Es gibt eine neue Dynamik in der Stadt, und das finde ich total spannend. Sich zurücklehnen und relaxen, das geht nicht in Berlin, und das ist auch nicht meine Art. Wir sind künstlerisch mit der alten Volksbühne verbunden, mit Castorf, Pollesch, Marthaler. Es gibt ein Gefühl von Verlust. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass ein großes Haus wie die Volksbühne sich wandelt, dass da vielleicht etwas ganz anderes entsteht. Für uns ist das eine Anregung wie so viele andere, über unsere Arbeit nachzudenken. Aber wir haben im Vergleich dazu eine andere Infrastruktur, und size matters (lacht).
Es gibt wegen der Volksbühne und ihrer Entwicklung viel Krach in der Stadt. An diesem Thema zerbrechen Freundschaften, weil es um Biografie und die Hoheit darüber geht. Manch einer bunkert sich mit seinem Volksbühnenschmerz ein.
Aber was soll dieses Bedürfnis nach Konsens? Das hat doch mit Kunst nichts zu tun, das passt überhaupt nicht zum Theater. Kunst darf auch spalten. Das hat Heiner Müller wie kein anderer in seinen Texten gezeigt. Damit muss man leben, auch im Privaten. Und so ein Haus will ich führen, mit kritischer Distanz und Widersprüchen. In Deutschland hat sich in den letzten Jahren das Konsensbedürfnis verstärkt, nicht nur im Theater.
Ein Künstler wie Syberberg, mit dem Sie die Heiner-Müller-Reihe eröffnen, galt vor 25, 30 Jahren als Revanchist. Heute empfinden wir ihn eher als Radikalen, der gegen den Konsens steht. Er hat sich nicht nur mit Hitler und Wagner, sondern eben auch mit Brecht und Müller beschäftigt.
Gegen diesen Vorwurf hat ihn nicht nur Müller schon damals verteidigt. Das ist es auch, was uns im HAU interessiert: Künstler, die Konflikt und Zweifel mitdenken. Um es mit Müller zu sagen: Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an nichts.
Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.
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