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Rückblick auf den Sieg über die Rote Armee mit US-Außenminister Mike Pompeo in Warschau am 15. August.
© Janek Skarzynski/AFP Pool/AP/dpa

Polens Sieg über die Sowjetunion vor 100 Jahren: Als Polen Deutschland vor der Roten Armee rettete

Der Mythos vom "Wunder an der Weichsel" 1920 erfährt im Ringen um Demokratie oder Diktatur in Belarus neue Aktualität. Ein historischer Rückblick.

Vor hundert Jahren wäre Deutschland beinahe kommunistisch geworden. Im August 1920 drang die Rote Armee unter Michail Tuchatschewskij und Semjon Budjonnyj von Kiew nach Westen vor und traf über viele hundert Kilometer auf wenig Widerstand des kürzlich wiedererstandenen polnischen Staats. Warschau und die Weichsel waren die letzte Verteidigungslinie. Würde sie fallen, wäre der Weg nach Deutschland offen, kalkulierte Lenin. Und dort würde die Arbeiterschaft – vernachlässigt von Kaiserreich und Weimarer Republik, demoralisiert durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Hungermonate – die Rote Armee als Befreier begrüßen und die kommunistische Revolution ausrufen.

Pilsudski ignoriert französische Militärberater. Er geht in die Offensive

Doch dann geschah das „Wunder an der Weichsel“. Polen feiert es in diesen Tagen mit Stolz. Staatschef Józef Pilsudski stoppte den Vormarsch in der zwölftägigen Schlacht bei Warschau (13. bis 25. August 1920). Gegen die Empfehlung der französischen Militärberater begann er eine waghalsige Gegenoffensive. Polen rühmt sich, es sei das einzige Land, das die Sowjetunion militärisch besiegt hat.

So sieht sich das Land auch heute: „Vormauer des Christentums“, Retter des christlichen Abendlands durch heldenhaften Widerstand gegen die Barbaren aus dem Osten. 1683 hatte König Jan Sobieski die Türken vor Wien gestoppt und Europa vor der Islamisierung bewahrt. 1920 rettete Pilsudski Europa vor der Roten Armee. 1989 befreite die Gewerkschaft Solidarnosc erst Polen und dann ganz Mitteleuropa von der Diktatur.

Freilich gesellt sich im Jubiläumsjahr zum Stolz eine gewisse Bitternis. Warum wollen die Nachbarn im Westen, voran die Deutschen, am 100. Jahrestag so wenig davon wissen? Warum zeigen sie kaum Dankbarkeit?

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Die USA stellen sich beim Jubiläum demonstrativ an Polens Seite. US-Außenminister Mike Pompeo reiste zu den Feierlichkeiten nach Warschau.

Ein Wunder? Anfangs war das Wort als Spott gemeint

Wie so viele Geschichtsmythen hält das „Wunder an der Weichsel“ näherer Betrachtung nicht stand. Zugleich eröffnet der Rückblick faszinierende Perspektiven auf das aktuelle Ringen um ein freies Belarus und eine freie Ukraine. Die Landkarte, auf der sich die Auseinandersetzung abspielt, hat der Polnisch-Sowjetische Krieg mitgeformt.

Jozef Pilsudski, der Schöpfer der Zweiten Polnischen Republik.
Jozef Pilsudski, der Schöpfer der Zweiten Polnischen Republik.
© Wojtek Radwanski/AFP

Die Urheber hatten die Formel „Wunder an der Weichsel“ als Spott gemeint. Pilsudski habe mehr Glück als Verstand gehabt, deuteten die „Endecja“ (Nationaldemokraten) um Roman Dmowski die Abläufe. Pilsudski sei ein Hasardeur und habe sein Konzept vom polnischen Staat als Vielvölkerrepublik zwischen Ostsee und Schwarzem Meer mit unverantwortlicher Risikobereitschaft verfolgt. Die „Endecja“ strebte ein homogenes Polen an. Juden, Litauer, Weißrussen, Ukrainer und andere Minderheiten sollten sich polonisieren. Oder verschwinden.

Die Mutter Gottes als Retterin: Ihr Erscheinen verschreckt die Rote Armee

Die positive Interpretation des „Wunders“ setzte sich jedoch durch, auch dank der Kirche. Für gläubige Polen hatte die Mutter Gottes das Wunder bewirkt. Bei den Kämpfen um Radzymin am 15. August (Mariä Himmelfahrt) sei sie in einer feurigen Wolke über dem Schlachtfeld erschienen und habe die Rotarmisten in Schrecken versetzt.

So klingen in dem weitgehend vergessenen Krieg Konflikte an, die Europa bis heute bewegen. Sollen Staaten ethnisch homogen oder supranational sein? Monoreligiös, multikonfessionell oder säkular? Wo verläuft die Grenze zwischen Okzident und Orient, können sie sich überlappen oder gar versöhnen?

Neuordnung Mitteleuropas: Aus Imperien werden Nationalstaaten

Die ein Dutzend Staaten auf der heutigen Karte Ostmitteleuropas gab es vor 1918 nicht. Damals beherrschten drei Imperien den Raum: das Zarenreich, das Deutsche Kaiserreich (zuvor Preußen) und die Habsburger Monarchie. Sie hatten die polnisch-litauische Adelsrepublik zwischen Ostsee und Schwarzem Meer in den drei polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1795 unter sich aufgeteilt. Die drei Monarchien gingen im Ersten Weltkrieg unter. Damit eröffnete sich die Chance zur staatlichen Wiedergeburt Polens in den historischen Grenzen.

Dagegen regte sich vielfacher Widerstand. Auch andere Völker sahen ihre Stunde zur Eigenstaatlichkeit gekommen, voran Litauer und Ukrainer – in Gebieten, die Polen beanspruchte. Militärisch waren sie jedoch Pilsudski unterlegen, der mit seinen polnischen Legionen bereits im Weltkrieg gekämpft hatte. Und sie hatten weitere Feinde, voran die Sowjetunion. Die hatte das Zarenreich übernommen, war militärisch geschwächt, aber stark genug, um die „Weißen“, die Gegner der kommunistischen „Roten“ im Bürgerkrieg, zu besiegen und Abspaltungen, etwa einer selbstständigen Westukraine unter Symon Petljura, zu verhindern.

Die Schwächeren müssen wählen zwischen Polen und der Sowjetunion

Der einzige ernsthafte Gegner war Polen. Den Übrigen blieb nur die Wahl, ob sie sich mit Lenin oder Pilsudski verbündeten – samt dem Risiko, von der anderen Seite als Verräter betrachtet und bei erster Gelegenheit bestraft zu werden. Die beträchtliche jüdische Bevölkerung wurde Opfer zahlreicher Pogrome.

Lenin und Pilsudski unterschätzten bei ihren Versuchen zur Koalitionsbildung freilich eine Kraft: das Nationalempfinden der Angegriffenen und ihre Bereitschaft, über ideologische Gräben hinweg zusammenzustehen, sobald es galt, den nationalen Boden zu verteidigen.

Statt Schützengräben ein Bewegungskrieg mit schneller Kavallerie

Zunächst war Pilsudski der Sieger. Er eroberte Lemberg (heute Ukraine), Wilna (heute Litauen) und Minsk (heute Belarus) und stellte annähernd die Grenzen der polnischen Adelsrepublik vor den Teilungen wieder her. Die militärischen Aktionen liefen ganz anders ab als kurz zuvor im Weltkrieg. Das war dem Mangel an Soldaten und Material geschuldet. Wo sich zuvor Millionenheere in Schützengräben gegenüberlagen, ging es nun um einen Bewegungskrieg mit schneller Kavallerie und kleinen Einheiten von einigen Zehntausend Kämpfern; es gab nicht einmal für jeden eine Waffe.

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Nach den Siegen über Petljura entschloss sich Pilsudski im Mai 2020 zur „Expedition nach Kiew“, das unter sowjetischer Kontrolle stand, erneut gegen den Rat seiner Kommandeure und der Militärberater aus Frankreich, das Polen als Verbündeten gegen ein wieder erstarkendes Deutschland aufrüstete. Den Kontext beschreibt der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt in seinem lesenswerten Buch „Der vergessene Sieg. Der Polnisch- Sowjetische Krieg 1919-1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa“.

Kiew wird per Straßenbahn erobert. Bald folgt der Rückzug - als Flucht

Polen traf auf wenig Widerstand. Die Vorhut stieg am Stadtrand in die Straßenbahn und eroberte Kiew. Die Rote Armee zog sich auf das östliche Dnjepr-Ufer zurück. Erstmals seit 250 Jahren kontrollierte Polen Kiew. Die Ukrainer blieben jedoch skeptisch und erhoben sich nicht an Pilsudskis Seite gegen die Sowjets.

Bald erwiesen sich die Nachschubwege – 780 Kilometer von Warschau – und die begrenzte Zahl der Soldaten als Risiko. Die Front zwischen Polen und Russland erstreckte sich über tausend Kilometer. Pilsudski befehligte 300 000 Mann und war mit einem kleinen Kontingent an einem Frontabschnitt nach Kiew durchgebrochen. Er lief Gefahr, eingekesselt und vom Rückzug abgeschnitten zu werden.

Ein Irrtum sei der Vorstoß gewesen, befand Pilsudski später. Der Rückzug glich einer Flucht. Die Gelegenheit, eine neue Haltelinie zu formen, bot erst die Weichsel. In Warschau löste das rasche Vorrücken der Roten Armee Panik aus. Das Diplomatische Corps wurde nach Posen evakuiert. Bürger meldeten sich freiwillig zu Schanzarbeiten. Die politischen Lager schlossen sich zusammen und gaben Pilsudski freie Hand.

Frieden von Riga: Polen reicht weiter östlich als heute, tief nach Belarus

Er schlug den Rat der an Grabenkriege gewohnten Franzosen aus, sich auf die Verteidigung zu konzentrieren, und befahl der Kavallerie, die Weichsel südöstlich der Hauptstadt zu queren und der Sowjetarmee in die Flanke zu fallen. Mit Erfolg. Die Rote Armee wurde zurückgeschlagen.

Im Oktober 1920 folgte der Frieden von Riga. Litauen wurde Republik, die heutige Hauptstadt Wilna blieb polnisch. Belarus und die Ukraine wurden Sowjetrepubliken, mit Westgrenzen, die 300 Kilometer weiter östlich lagen als heute. Die Gebiete, die jetzt den Westen von Belarus und der Ukraine bilden, gehörten zu Polen, bis Hitler und Stalin es 1939 erneut aufteilten. Diese einst polnischen Gebiete sind nun neben den Hauptstädten Kiew und Minsk Zentren des Widerstands gegen Wahlbetrug und Gängelung durch Putin, in Belarus zum Beispiel Grodno.

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