30 Jahre nach einer Sternstunde der Geschichte: Liebe ist nicht daraus geworden
1989 waren Polen und Ungarn Freiheitshelden, heute gelten sie als Übeltäter. Deutschland und seine Nachbarn im Osten: Zeit für eine Neubewertung. Ein Kommentar.
Die Euphorie über eine Sternstunde der Menschheit führt zu hohen Erwartungen an eine noch bessere Zukunft. Wenn die sich nicht erfüllen, wird daraus Enttäuschung. Und schließlich Desinteresse. Ein Desinteresse, das auch vor der Sternstunde bestand. Das ist die Kurzgeschichte des Blicks der Deutschen auf ihre Nachbarn im Osten in den letzten 30 Jahren. Sie beinhaltet auch eine Mahnung, wie beharrlich altes Denken sich halten kann.
Die Solidarnosc brach die Nachkriegsordnung auf
1989 wurden Polen und Ungarn für kurze Zeit zu Freiheitshelden. Die Deutschen spürten, was sie ihnen zu verdanken hatten. Das jahrelange Aufbegehren der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc gegen die Diktatur und die ungarische Grenzöffnung waren die entscheidenden Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit. Polen war das erste Land im Ostblock, in dem die herrschende Partei ihr Machtmonopol aufgeben musste. Die Verhandlungen am „Runden Tisch“ in Warschau im Frühjahr 1989 brachen die Nachkriegsordnung auf.
Im Frühsommer folgten ein „Dreieckiger Tisch“ in Budapest, das Ende der Ein-Partei-Herrschaft, der Abbau der Grenzbarrieren zu Österreich und die Ankündigung, dass Ungarn auf Flüchtlinge nicht mehr schießen werde. Im Sommer flüchteten DDR-Bürger über Ungarn in den Westen. Am 10. September öffnete Ungarn die Westgrenze. Die Berliner Mauer hatte plötzlich Löcher und fiel am 9. November.
Entdeckung einer Terra Incognita
In den Folgejahren entdeckten viele Deutsche ihre östlichen Nachbarn, fuhren nach Prag, Krakau und Riga. Daheim erzählten sie von den Landschaften und Städten, die zuvor keinen Platz auf ihrer inneren Landkarte hatten.
Welche Rolle wird das im Gedenkjahr 2019 spielen? Mittlerweile hat sich das Bild komplett gewandelt. Polen und Ungarn gelten als Bösewichte. Sie sind seit 15 Jahren EU-Mitglieder, aber keine Partner, die die Deutschen mit Sympathie und Hoffnung betrachten. Im Grunde gilt das für ganz Mittelosteuropa. Es ist keine Region, aus der die Deutschen Positives erwarten. Das ist verständlich. Egal, ob die Regierenden Nationalkonservative sind wie in Polen und Ungarn oder linke Sozialdemokraten wie in Rumänien: Sie wecken Zweifel an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und machen mit Korruptionsaffären von sich reden.
Gegenbeispiel Russland
Dennoch ist dieses Wegsehen erstaunlich. Erstens ignoriert es, wie sehr sich diese Staaten – bei allen Fehlentwicklungen – modernisiert haben und wie ihre ökonomische Bedeutung für Deutschland gewachsen ist. Zweitens mündet Enttäuschung keineswegs immer in Desinteresse. Russland hat eine viel negativere Entwicklung genommen, seine reale Bedeutung für Deutschland hat dramatisch abgenommen. Es gleicht einem Entwicklungsland mit Atomraketen und überdimensionierter Armee. Es überfällt Nachbarländer, versucht Dissidenten im In- und Ausland zu ermorden, verbündet sich mit Rechtsradikalen in Ost wie West und hat, weil es so miserabel regiert wird, nur rund drei Prozent Anteil an der Weltwirtschaft. Dennoch ist Russland auf den inneren Weltkarten der Deutschen sehr präsent; viele halten es sogar für einen verkannten Freund. Auch das ist ein Beispiel, wie beharrlich sich Denkmuster über Jahrzehnte halten.
Ginge es nach der realen Bedeutung der östlichen Nachbarn, müsste das Bild ein anderes sein. Polen (38 Millionen Bürger) hat nur ein Viertel der Einwohner Russlands (144 Millionen). Doch der deutsche Handel mit Polen ist doppelt so groß wie der mit Russland. Der mit Tschechien ist anderthalb mal so groß, obwohl es nur zehn Millionen Einwohner hat, ein Fünfzehntel der russischen Zahl. Der deutsche Warenaustausch mit Ungarn, ebenfalls zehn Millionen Bürger, ist fast so groß wie der mit Russland.
Mitgaranten des deutschen Wirtschaftserfolgs
Zusammen haben die zwölf EU-Staaten im Osten, von Estland bis Bulgarien, eine sechs mal größere wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland als Russland. Und geschieht nicht auch viel Positives in der östlichen EU? Estland ist ein Vorbild für E-Government: digitales Verwalten, was den Bürgern die Wege zu Behörden erspart.
Das Jubiläumsjahr 2019 kann für die Deutschen ein Anstoß sein, über ihren Umgang mit den Nachbarn im Osten nachzudenken. Sie sind mitunter schwierig, aber nicht Partner zweiter Klasse. Sie sind keine Objekte, über deren Köpfe hinweg sich Deutschland mit Russland verständigen kann. Wann immer Berlin und Moskau das versuchten, folgten Kriege und schwere Verbrechen. Sie sind dank Investitionen und Produktionsketten Mitgaranten eines gemeinsamen Erfolgsmodells und der deutschen Exportmacht – wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark. Und die Beziehungen zu denen sind ja auch nicht konfliktfrei.