Schizophrenie: Reizüberflutet
Stimmen hören, die niemand anders hört. Zeichen sehen, die niemand anders sieht: Halluzinationen sind ein Zeichen für Schizophrenie. Eine frühe Behandlung ist entscheidend.
Marie Werren* ist 22 Jahre alt, als ihr Leben aus den Fugen gerät. Als sie, anstatt sich im Erwachsensein und im Berufsleben zu orientieren, erst einmal die Orientierung verliert. Als sie sich zurückzieht, kaum mehr mit ihrer Mutter oder ihren Freunden spricht. Sondern nur noch mit dieser Stimme.
»Ich saß von morgens bis abends in meinem Zimmer, habe gegackert und gequatscht«, sagt Marie Werren und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Es ist heiß, Sommer, Anfang August. Durch das weit geöffnete Fenster kommt ein kleines Lüftchen in das Zimmer im ersten Stock des Vivantes Klinikum am Urban in Berlin-Kreuzberg. Abkühlung bringt es jedoch nicht. Marie Werren zupft ihr locker fallendes T-Shirt zurecht. Einmal. Noch einmal. Sie ist nervös. Wie soll sie das erklären? Sie weiß ja selber, wie seltsam sich das für einen Außenstehenden anhören muss. Wie verrückt. Die Friedrichshainerin blättert durch ihr kleines Notizheft. Knetet die Hände. Dann schaut sie auf und lächelt etwas schief: »Es war eigentlich ganz schön.«
Fast drei Jahre ist das jetzt her. Drei Jahre, in denen Marie Werren versucht hat, die Orientierung wiederzufinden. Sie hat viel Zeit in diesem Krankenhaus verbracht. In der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Und auch im angeschlossenen Frühinterventions- und Therapiezentrum speziell für Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischen Krisen, dem »Fritz«. Denn genau so eine Krise hatte Marie Werren damals, auch wenn sie es anfangs nicht so empfand. »Ich war ziemlich einsam in der Zeit«, sagt sie. »Ich hatte kaum noch soziale Kontakte. Aber ich hatte die Stimme. Wir haben uns viel unterhalten und uns richtig gut amüsiert.«
Zumindest bis zu diesem einen Tag im Spätherbst 2012, an dem die Stimme Marie zu etwas anstiftete. An dem sie die angehende Verkäuferin dazu brachte, zu einer alten Praktikumsstelle zu fahren und sich dort über einen ehemaligen Kollegen lustig zu machen. Was genau damals passierte - darüber möchte Marie Werren nicht sprechen. Es belastet sie noch immer. Nur so viel: »Ich war ziemlich euphorisch, ziemlich wild.« Die alten Kollegen fühlten sich ziemlich gestört, vielleicht sogar bedroht. Sie riefen die Polizei. Und Marie Werren wurde in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Urban-Krankenhauses eingewiesen - gegen ihren Willen, mit richterlichem Beschluss.
Die Diagnose: Schizophrenie. Eine psychische Erkrankung, vor der viele Menschen Angst haben. Weil sie so sehr nach »Verrücktsein« klingt, nach Kontroll- und Realitätsverlust. Nach etwas, dass irgendwie unvorstellbar ist. Und endgültig. Dabei ist die Krankheit gar nicht so selten - und auch nicht unheilbar: »Rund einer von Hundert Deutschen erlebt mindestens einmal in seinem Leben eine schizophrene Episode«, sagt Andreas Bechdolf. Er ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes Klinikum am Urban und leitet auch das »Fritz«, in dem sich Marie Werren gerade wieder behandeln lässt. »Vor allem eine erste psychische Krise ist außerdem sehr gut behandelbar: In mehr als 80 Prozent der Fälle bilden sich die Symptome vollständig zurück.« Solch eine schwere psychische Krise baut sich meist über mehrere Jahre auf. Sie beginnt häufig mit Konzentrationsschwierigkeiten und einem schleichenden sozialen Rückzug - und mündet schließlich in eine akute Psychose.
Während einer Psychose schüttet das Gehirn zu viel von dem Botenstoff Dopamin aus. Dadurch werden förmlich alle Schleusen geöffnet, das Gehirn mit Informationen und Reizen überflutet . Es kann nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig, zwischen echt und unecht unterscheiden. Die Wahrnehmung ist gestört, Halluzinationen treten auf. Stimmen, die niemand hören kann, außer den Betroffenen selbst. Die sich freundschaftlich mit ihnen unterhalten, so wie es die Stimme von Marie Werren damals tat. Oder über sie reden, ihr Verhalten kommentieren, auf Fehler und Unzulänglichkeiten hinweisen. Ihnen vielleicht auch schädliche Dinge einflüstern, sie zu Taten anstiften. Zudem treten Wahnvorstellungen auf, die Betroffenen fühlen sich beispielsweise beobachtet und verfolgt, beziehen selbst alltäglichste Dinge auf sich. Daneben kommt es häufig auch zu sogenannten Ich-Störungen: Die Grenze zwischen dem Selbst und der Umwelt verschwimmt, löst sich vielleicht ganz auf. »Die Patienten haben dann beispielsweise das Gefühl, andere Menschen hätten Zugriff auf ihre Gedanken«, sagt Bechdolf.
Meist tritt die erste schizophrene Episode im jungen Erwachsenenalter auf, mit Anfang 20. »In dieser Lebensphase stehen große Aufgaben an, sie ist sehr offen und damit auch unsicher«, sagt Bechdolf. Psychische Krisen wirkten da oft noch sehr viel stärker nach, noch verunsichernder, beängstigender. Es sei dann wichtig, das Selbstbewusstsein Betroffener zu stärken und ihnen neue Lebensperspektiven aufzuzeigen, sagt Bechdolf.
Die Ursachen von Schizophrenie sind noch nicht vollständig geklärt, unter anderem spielt aber Veranlagung eine Rolle, auch eine genetische. Dafür, dass dann tatsächlich Psychosen auftreten, sind beispielsweise anhaltender Stress sowie Drogenkonsum Risikofaktoren. Anfangs haben die Betroffenen häufig Schwierigkeiten, ihre Erkrankung zu erkennen - und zu unterscheiden, was real ist und was nicht.
Das war auch bei Marie Werren der Fall: Lange bevor sich die Stimme zum ersten Mal meldete, quälten die junge Frau Angstzustände. Sie zog sich immer mehr zurück. Und freundete sich später mit ihrer Stimme an. »Für mich waren die Gespräche mit ihr völlig normal«, sagt sie. Daran änderte auch ihr erster Psychiatrie-Aufenthalt zunächst nichts: Sie war damals davon überzeugt, dass ein Film über ihr Leben gedreht wird. Und die Klinik war nicht mehr als ein weiteres Filmset. Von einer Krankheitseinsicht, wie es die Experten nennen, keine Spur. Doch mit der Zeit begannen die Medikamente, die sie bekam, die sogenannten Neuroleptika (siehe Seite 24), zu wirken. Genauso wie die therapeutischen Sitzungen, die Einzel- und Gruppengespräche. Marie Werren ging es besser - und sie überschätzte sich: Nach sechs Wochen auf der geschlossenen Station verließ sie die Klinik, obwohl die Ärzte ihr zu einer weiteren Behandlung auf einer anderen Station rieten. Doch in der Welt »da draußen« kamen ihre Probleme wieder. Die Ängste. Die Verwirrung. Nach wenigen Tagen kehrte sie in die Klinik zurück. Freiwillig.
Nach der völligen Reizüberflutung ist das Gehirn überarbeitet, muss sich erholen. Die Betroffenen brauchen Ruhe, eine sichere und möglichst reizarme Umgebung. Keinen Großstadttrubel. Keine Partys. Keine herausfordernden oder anstrengenden Situationen. Stattdessen: ärztliche und therapeutische Hilfe. Denn unbehandelt liegt das Risiko, dass sich eine Psychose wiederholt, bei rund 80 Prozent. Gerade junge Erwachsene würden die Behandlung aber häufig nach einer Weile abbrechen, sagt Chefarzt Bechdolf. Weil sie die Stigmatisierung durch die Krankheit fürchten. Weil sie mit den Nebenwirkungen der Neuroleptika vielleicht nicht zurechtkommen, die zu einem Verlust der Libido führen können. Und zu starkem Übergewicht.
Marie Werren kommt mit ihren Medikamenten gut zurecht. Auch ihre ambulante Therapie nach der Zeit in der Klinik brach sie nicht ab. Trotzdem meldete sich ihre Erkrankung wieder zurück: Zusehends verstrickte sich Marie Werren in die depressionsähnliche sogenannte Negativ-Symptomatik ihrer Schizophrenie, sodass sie irgendwann ihre Wohnung kaum noch verließ. »Ich war antriebslos, hatte zu nichts Lust«, sagt sie. Nachts konnte sie nicht schlafen, wurde von Angstzuständen gequält. »Bei jedem Knarzen der Dielen dachte ich, es sei jemand in der Wohnung.« Sie steigerte sich in diesen Gedanken herein. Wurde paranoid, sperrte die Tür mehrfach ab, hätte am liebsten den Schuhschrank davor geschoben. Zur Sicherheit. »Aber das kam mir dann doch zu skurril vor«, sagt sie und lacht. »Ich wusste ja, dass ich mir das nur einbilde. Aber trotzdem war diese Angst da und real.«
Irgendwann wurde es ihr zu viel. Sie wies sich selbst in die Klinik ein, in das »Fritz«. Hier sind vor allem junge Leute, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Mit denen sie sich austauschen kann, ohne eine Stigmatisierung zu fürchten. Mit denen sie in Gruppentherapie lernt, mit ihrer Erkrankung umzugehen, die halluzinierten Stimmen zu kontrollieren, sich abzulenken, ein positives Selbstbild zu schaffen. Mit denen sie aber auch einfach Basketball spielt. Oder an warmen Sommerabenden am Ufer des Landwehrkanals sitzt, quatscht und raucht.
»Die machen uns hier außerdem zu richtigen Experten für unsere Erkrankung«, sagt Marie Werren und grinst. Einer der Gründe für diese Psychoedukation: Nur wer seine Krankheit kennt, kann sich frühzeitig Hilfe suchen - bevor die Krise, die schizophrene Episode, vollständig da ist. Denn ganz allgemein gilt: Rund ein Drittel der Betroffenen zeigt dauerhaft Symptome der Erkrankung, ein weiteres Drittel erlebt nach einer ersten schizophrenen Episode keine weiteren mehr. Und dann ist da noch ein Drittel, das zwar immer wieder schizophrene Episoden erlebt, sich von diesen aber auch immer wieder gut erholt, ein selbstbestimmtes und »normales« Leben führt. Dorthin, so scheint es an diesem drückend heißen Augusttag, ist Marie Werren unterwegs. Rund drei Jahre, nachdem die Krankheit ihr Leben aus den Fugen brachte. * Name geändert
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