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Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
© Mike Wolff

Rekonstruktion eines Doppellebens: Wie der Tod die Lüge schützt

Eine junge Frau sucht als Leukämiekranke ein Hospiz auf, trifft Sterbebegleiter und hat Operationsnarben. Für Familie und Freunde ist sie derweil kerngesund. Sie hat alle getäuscht – auch unsere Redaktion.

Das plötzliche Ende kommt für Jasmin Zöller mitten in ihrer 26. Chemotherapie. Es ist ein recht warmer Sommertag im Juli dieses Jahres, als sie sich am frühen Abend von ihrer Wohnung auf einen vertrauten Weg macht: Sie besucht ein Hospiz im Zentrum der Stadt. Seit zwei Jahren hat sie ihn immer wieder zurückgelegt.

Sie kennt das Gebäude gut, hier bereitet sie sich auf ihr Sterben vor. Sie führt Gespräche, meditiert, manchmal schaut sie nur auf eine Tasse Kaffee vorbei. Bisweilen kümmert sie sich auch einfühlsam um Todkranke, und wenn sie vor einer Zimmertür brennende Kerzen sieht, weiß sie: Es ist wieder jemand gestorben.

Das ist die Welt von Jasmin Zöller, ihre Diagnose Leukämie hat sie vor mehr als vier Jahren erhalten, am 26. März 2011. Ein elend langer Leidensweg. Vom Hospiz bekommt sie zwei Sterbebegleiter an die Seite gestellt, das ist ungewöhnlich, doch sie ist jung und fordert viel Zuwendung ein, eine Ehrenamtliche alleine kann das nicht leisten.

Sterben für Anfänger

Andererseits wird die Psychologin Zöller, die an ihrer Promotion arbeitet, soweit es die Krankheit zulässt, dem Hospiz eine enorme Hilfe. Sie ist die ideale Person für Fort- und Ausbildung von Hospiz-Experten und Sterbebegleitern; „ein Glücksfall“, sagen die. Sie spricht so klug über den Tod, so souverän, auch so heiter.

Im Januar zum Beispiel hält sie dort einen Vortrag vor 150 Leuten, Titel: „Sterben für Anfänger“.

Die Zuhörer sind bewegt, viele weinen. Im Publikum sitzt auch meine Kollegin Susanne Kippenberger. Im Büro erzählt sie tags darauf von einer beeindruckenden jungen Frau. Ob wir ein Interview mit der Krebskranken machen sollten?

Die Redaktion sagt nach kurzer Diskussion ja, wir beide werden uns um das Thema kümmern. Klar ist, keiner von uns darf beim Treffen Schnupfen oder eine Erkältung haben, denn das Immunsystem von Frau Zöller ist angegriffen; erste Termine platzen aus diesem Grund.

Der Tagesspiegel wird in den Schwindel verwickelt

Noch ahnt niemand, dass der Tagesspiegel mit der Veröffentlichung am 12. April in einen unglaublichen Schwindel verwickelt werden wird.

Ende Februar schickt die 26-Jährige eine Mail: „Dieses Mal bin ich diejenige, die unseren Interviewtermin absagen muss. Mich hat letzte Woche die Virusgrippe erwischt, und am Wochenende haben sich noch eine schwere bakterielle Entzündung des Kehlkopfes und eine Mittelohrentzündung dazugesellt.

Bei einer gleichzeitigen Leukämieerkrankung sind solche bakteriellen Infekte schon eine heftige Komplikation. Ich kann kein Wort mehr sprechen und auch nur sehr eingeschränkt hören – nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein Interview.“

Die Interviewte will anonym bleiben

Wir begegnen Frau Zöller schließlich Wochen später in ihrer Wohnung. Zur Vorbereitung haben wir mit Hospizhelfern gesprochen, „Arbeit und Struktur“ vom krebskranken Wolfgang Herrndorf gelesen, auch Susan Sontags „Krankheit als Metapher“, Christoph Schlingensiefs Krebsgeschichte und die anderer Autoren aus jüngster Zeit, Fritz J. Raddatz’ Todeswunsch, haben auch die Debatte um Sterbehilfe verfolgt.

Das Gespräch soll Mitte April im Tagesspiegel erscheinen. Einigen Kollegen kommen beim Korrekturlesen der zwei Zeitungsseiten die Tränen.

Die Interviewte will anonym bleiben, auf dem Porträtfoto hält sie sich die Hände vors Gesicht. Der Wunsch danach ist verständlich, nicht alle, mit denen sie beruflich und privat zu tun habe, wüssten von der schweren Erkrankung. Als Überschrift steht in der Zeitung: „Ich sterbe nicht früher, wenn ich über das mögliche Sterben spreche.“ In der Redaktion sind sich alle einig: So etwas Packendes und Anrührendes können wir selten drucken.

Nach vier Jahren fliegt die Lüge auf

Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
Anonym. Im April veröffentlichten wir im „Sonntag“ ein großes Interview mit einer jungen Frau, die Krebs hat und vom nahenden Ende erzählt. Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
© Mike Wolff

Wir bleiben auch nach der Veröffentlichung per E-Mail und Telefon in Kontakt mit Frau Zöller. Leser des Tagesspiegels schicken uns Geld für sie, andere bieten der körperlich Geschwächten eine Wohnung im Parterre oder mit Aufzug an. Wieder andere versprechen, einen im Interview geäußerten „letzten Wunsch“ zu erfüllen: Ein großer Autokonzern spendet der Fußballnärrin Tickets fürs Pokalfinale Wolfsburg gegen Dortmund im Olympiastadion, von dort erhalten wir ein Selfie mit der Botschaft, sie sei total glücklich, nur der falsche Klub habe gewonnen.

Jemand will mit ihr auf der Spree paddeln.

Ein selbst an Krebs Erkrankter bedankt sich per Brief bei ihr: „Ich habe mir die Seiten aufgehoben, weil ich sicher bin, dass ich darin lese, wenn scheinbar ausweglose Situationen in mein Leben treten werden. Ich ziehe dann Kraft aus Ihrer Kraft.“

An einem Montag im Juli, drei Monate nach Abdruck des Interviews, schreibt Jasmin Zöller eine E-Mail an uns: „Der Fieberschub der letzten Chemo hat mich in ein geistiges Nirwana versetzt, das selbst die Beantwortung von E-Mails nicht mehr zuließ. 40 Fieber bei 40 Grad Außentemperatur – eine denkbar schlechte Kombination. Zum ersten Mal fühlt sich mein Sterben nicht mehr so bedrohlich an, ich bin irgendwie mehr im Einklang mit mir und mit der Situation – verstehen Sie, wie ich meine? Es ist jetzt, wie es ist, und sollte ich sterben, wird auch das in Ordnung sein, die Angst davor ist irgendwie weg.“ Sendezeit 14:14 Uhr.

"Sie werden nicht sterben"

Vier Stunden später sitzt sie im Büro des Hospizes zwei Mitarbeiterinnen gegenüber. Die beiden haben um das Gespräch gebeten, haben zuvor mit Ärzten geredet, sich in Krankenhäusern erkundigt, Psychologen kontaktiert und zuletzt aufgetauchte Widersprüche überprüft. Jetzt sind sie sich absolut sicher.

Sie sagen zu Frau Zöller: Sie sind nicht krank. Sie haben keine Leukämie. Sie werden nicht sterben.

Was für jeden anderen Kranken eine gute Nachricht wäre, ist für Frau Zöller eine Katastrophe, das Ende ihrer Existenz als Todgeweihte.

Sie wehrt sich kurz, sagt, sie könne Arztbriefe vorzeigen. Dann gibt sie auf, geht ziemlich gefasst und wird das Hospiz nie wieder betreten.

Eine überraschende E-Mail

Wenige Tage später sitzen Susanne Kippenberger und ich, noch immer ahnungslos, morgens bei einem beruflichen Termin zusammen, als das Smartphone E-Mail-Eingang signalisiert:

„Liebe Frau Kippenberger, lieber Herr Thomma, wie Sie sicherlich bereits wissen, bin ich nicht diejenige, für die Sie mich gehalten haben – zumindest nicht ausschließlich. Es gibt keine Worte, die ich Ihnen schreiben könnte, die angemessen wären. Mein empörendes, zutiefst verletzendes, schockierendes (und auch verachtenswertes) Verhalten ist Teil einer größeren und schwereren psychischen Erkrankung, und es ist jetzt an mir, die notwendige therapeutische Unterstützung zu suchen. Für jeden Schaden, den ich Ihnen persönlich zugefügt habe, entschuldige ich mich zutiefst!“

Wir schauen uns verwirrt an. Was genau bedeutet das?

Wir drücken die Anruftaste und hören die vertraute Stimme, es wird ein kurzer Dialog. „Haben Sie Krebs?“ – „Nein.“ – „Sie werden also nicht sterben?“ – „Nein.“ – „Und warum haben Sie…“ – „Ich wollte Aufmerksamkeit.“

Wir informieren die Chefredaktion und beschließen, dies umgehend auch mit unseren Lesern zu tun, online und in der Printausgabe: „Nun räumt die Interviewte ein, sie habe jahrelang alle mit ihr in Kontakt stehenden Personen getäuscht, Freunde, Kollegen, Sterbenskranke im Hospiz sowie dessen ehrenamtliche und professionelle Mitarbeiter, auch unsere Redaktion. Wir werden versuchen, die Hintergründe dieses Falles aufzuklären. Die Sonntag-Redaktion (9. Juli 2015)“.

Die Aufklärung beginnt

Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
Anonym. Im April veröffentlichten wir im „Sonntag“ ein großes Interview mit einer jungen Frau, die Krebs hat und vom nahenden Ende erzählt. Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
© Mike Wolff

Diesen Fall aufklären? Die Recherche wird eine monatelange Reise in psychische Abgründe und zu zerstörten Freundschaften, wir treffen auf Ratlose und auf Wütende, auf schwer Erschütterte und Gelassene, es werden psychiatrische Diagnosen gestellt und verworfen, Kalender verglichen, um der Wahrheit näher zu kommen.

Fast unmöglich ist das. Denn im Netz von Jasmin Zöller sind unzählige Menschen miteinander verstrickt, die sie unterschiedlich lange kennen – und die sich untereinander oft gar nicht kennen: Arbeitskollegen, Studenten, Hospizmitarbeiter, Professoren, Auszubildende und Ausbilder an Instituten, die Familie und Freunde aus der sächsischen Heimat.

Manche wollen nicht reden oder dürfen aus berufsethischen Gründen nicht, andere brauchen erst einmal Zeit, den Schock zu verdauen, einige melden sich Wochen später über schon bestehende Kontakte bei uns.

Wir führen viele oft stundenlange Gespräche.

Warum hat niemand etwas gemerkt?

Gemeinsam ist allen nur eine klare Forderung: Personen anonym, Orte anonym, Institutionen anonym. Sie wollen unerkannt bleiben oder auch Rückschlüsse auf Frau Zöller, deren Name für diesen Artikel geändert ist, unmöglich machen. Und alle stellen sich dieselbe Frage: Hätte ich diesen absurden Schwindel nicht bemerken müssen? Bei der gemeinsam verbrachten Zeit über die Monate und Jahre, den vielen Kinobesuchen und tröstenden Gesprächen, der engen Zusammenarbeit?

Die meisten der Getäuschten sind gut ausgebildete Profis, Psychologen, Therapeuten, Krankenschwestern, Fachkräfte in Sachen Sterbebegleitung.

Andererseits: Wer unterstellt schon einer Sterbenskranken, die zwei Jahre lang ein Hospiz besucht, die sogar mal eine frische Operationswunde zeigen kann, auf deren Tisch zu Hause sich die Medikamente stapeln, die sich in diversen Krankenhäusern besuchen lässt, die sich bisweilen vor Schmerzen krümmt und zu schwach ist, Treppen zu steigen – sie sei eine dreiste Simulantin?

Der Tod steht als mächtiger Schutzwall vor der Lüge.

Eine gigantische intellektuelle Leistung

Einige haben ein Beziehungsdiagramm erstellt, um das komplexe System dieser Täuschung verstehen zu können. Doch am einfachsten lässt sich das Zöllersche Konstrukt als zwei Kreise mit winzig kleiner Schnittmenge begreifen.

Für den Lebensbereich „Studium, Beruf, Hospiz“ leidet sie seit Jahren an Krebs. Für den Lebensbereich „Freunde, Heimat“ ist sie putzmunter. Die Menschen vom einen Kreis wissen von den anderen nichts.

Es gibt demnach Tage, da arbeitet Zöller am Vormittag todkrank im Institut an ihrer Doktorarbeit, trifft dann als Gesunde eine Freundin zu Kaffee und Kuchen, fährt nach Hause und wartet auf den Sterbebegleiter vom Hospiz, um mit ihm zweieinhalb Stunden über letzte Wünsche oder Ideen für die Beerdigung zu reden.

Es ist eine gigantische logistische und intellektuelle Leistung. Die junge Frau, die jeden Einzelnen im Glauben lässt, sie sei extrem einsam und man müsse sich um sie kümmern, zeigt sich fantasiebegabt und pflegt einen weit verzweigten Freundes- und Bekanntenkreis.

Sie erzählt dort detailgenau von Arztbesuchen, von Therapieplänen, von einer Reise an die Ostsee, wo sie in einem Aufzug kollabierte und erst im letzten Moment wiederbelebt wurde.

Tage und Nächte muss sich Jasmin Zöller zum Thema Krebs fortgebildet haben, damit ihr kein Fehler unterläuft. Zu Zeiten, in denen sie vorgibt, eine Chemotherapie zu machen, trägt sie auch mal einen Venenkatheter mit Pflaster im Brustbereich. In unserem Interview sagt sie über ihre vierjährige Leidenszeit: „Ich habe im Schnelldurchgang ein halbes Medizinstudium absolviert.“ Heute weiß man, warum.

Ihr Leben ist ein Drama

Ihr Leben, wie sie es darstellt, ist ein einziges Drama. Und wer sie kennt, fragt sich, wie es einen Menschen so verdammt hart treffen kann. Ihr Zwillingsbruder, zum Beispiel. Er, den sie so sehr liebte und mit dem sie in Sri Lanka mit Straßenkindern gearbeitet hatte, starb bei einem Autounfall am Steuer; sie saß direkt neben ihm.

Es dauerte 35 Minuten, bis der Rettungswagen kam. Zu spät. Sie fiel ins Koma, als Philipp sein Leben aushauchte, wachte sechs Wochen später im Krankenhaus auf. Lange verschweigt man ihr den Tod des Bruders.

Das lässt sie nicht los, er ist ein ständiges Thema. So sehr, dass ihr Sterbebegleiter sie zu einer Traumatherapie drängt, sie müsse das aufarbeiten.

In unserem Interview sagt sie, ihre Eltern seien emotional überfordert damit, nach dem Bruder wohl bald auch die leukämiekranke Tochter zu verlieren.

Sie bittet den Lebensbereich „Studium, Beruf, Hospiz“, keinen Kontakt mit ihrem Zuhause aufzunehmen und die Eltern mit ihren Nöten in Ruhe zu lassen.

Als wir eine enge Freundin Jasmin Zöllers treffen, Psychologin auch sie, und in einem Café vier Stunden lang neue Fakten erfahren, wird klar: Den Bruder gab es nie, er ist ein Phantom. Geschichten wie diese erfand Zöller unzählige. Auch die überforderten Eltern existieren so nicht, es gibt Mutter und Oma, beide der Tochter und Enkelin durchaus fürsorglich verbunden.

Respekt. Das ist, was die meisten der Betrogenen äußern. Jasmin Zöller sei „hochintelligent“ und mit großer „sozialer Kompetenz“ vorgegangen, auch „brutal manipulativ“. Als sie beispielsweise wegen einer Knie-Operation in einem Zehlendorfer Krankenhaus liegt, bereitet sie ihre Besucher telefonisch vor.

Die sollten sich nicht wundern, dass sie nicht in der Onkologie liege, denn obwohl es einen Verdacht auf einen weiteren Tumor gebe, werde der Eingriff in der Chirurgischen Abteilung vorgenommen; von ihrer Leukämieerkrankung hätten die Krankenschwestern offenbar überhaupt keine Kenntnis, es sei besser, diese nicht zu erwähnen.

Nun erfindet sie einen zweiten Krebs

Die Kollegin, die vier Jahre an einem Forschungsprojekt zur internetbasierten Psychotherapie mit ihr arbeitete: „Sie hat überaus professionell Leute überzeugt.“

Eine Hospiz-Expertin: „Sie hat alles geschickt begründet.“

Eine Psychologie-Professorin: „Sie sollte mit dieser Begabung Schriftstellerin werden.“

Der Sterbebegleiter lobt „Raffinesse und Abgeklärtheit“ und sagt lachend: „Ich wäre zu blöd dazu.“ Ihn erinnert das von Jasmin Zöller errichtete Lügengespinst an den Künstler M.C. Escher, der Bilder und Skulpturen geschaffen hat, an denen nichts ist, wie es scheint: dreidimensionale Labyrinthe mit optischen Täuschungen und perspektivischen Verzerrungen.

Der Kopf wird kahl rasiert

Und als wäre all dies nicht verwirrend genug, erfindet Jasmin Zöller im März 2015 für ihren Lebenskreis „Freunde, Heimat“, für den sie bis dahin kerngesund ist, die Diagnose „Morbus Hodgkin“, eine bösartige Erkrankung des Lymphdrüsensystems. Eine Freundin erfühlt tatsächlich eine angeschwollene Stelle am Hals, geht mit ins Krankenhaus, wo nachgeschaut wird.

Als Tage später Frau Zöller eine Laboranalyse vorzeigt, gehen beide zwei Stunden an der Spree spazieren, weinen miteinander.

Sie fahren gemeinsam zu Mutter und Großmutter, um den Befund und das Chemo-Schema vorzulesen. Die Familie, die von Jasmin Zöller oft als kalt und unnahbar geschildert wurde, kümmert sich umgehend um sie.

Die frisch Erkrankte zeigt soeben gekaufte Chemomützen, die Krebspatienten tragen, wenn die Haare nach und nach ausgehen. Eine grässliche Vorstellung sei das für sie, sie will diese psychische Belastung abkürzen, besorgt einen elektrischen Rasierapparat und lässt sich von der Sterbebegleiterin den Schädel kahlrasieren; die erinnert diese Szene „als einen sehr emotionalen Moment“.

Jasmin Zöller gibt sich, wie so oft, von den Medikamenten geschwächt. Sie wohnt im fünften Stock und schafft die Stufen kaum.

Dem Sterbebegleiter geht das nach einem gemeinsamen Spaziergang zu langsam, er, kein besonders kräftiger Mann, nimmt Jasmin Zöller huckepack und schleppt sie keuchend die Treppen hinauf.

Zwei Wochen vor ihrer Enttarnung ist das – und eine symbolische Szene dazu. Denn unglaublich viele Menschen mühten sich über Jahre hinweg, die Last dieses Lebens mitzutragen.

Ihr Leben hat im Sterben seinen Sinn gefunden

Die meisten tun es aus Mitleid oder weil sie sich verpflichtet fühlen, da die Kranke oft ihre Einsamkeit beklagt. An menschlichen Kontakten mangelte es nicht, im Gegenteil, davon hatte sie viele. Und trotzdem war sie allein, Tag und Nacht allein mit dem Geheimnis ihrer Lüge. Es muss eine enorme Kraft gekostet haben, dieses Geheimnis für sich zu bewahren, über Jahre hinweg und allen vertrauten Menschen gegenüber.

Vielleicht war ja ihr oft kläglicher Zustand, körperlich wie psychisch, Folge eines ungeheuren Drucks, Resultat womöglich auch der Angst, jeden Moment auffliegen zu können.

Andererseits hat ihr Leben doch all die Jahre gerade im Sterben seinen Sinn gefunden.

Was geschieht dann in diesem Jahr 2015? Die vermeintlich Todkranke wird geradezu hyperaktiv.

Zöller hält öffentlich einen Vortrag; sie gibt uns ein ausführliches Interview; sie schreibt an einem Buch über das Sterben, das Ende des Jahres in einem renommierten Verlag erscheinen sollte; ein Monatsmagazin mit großer bundesweiter Auflage druckt ein ganzseitiges Porträt, auf dem leicht verschwommenen Foto ist sie eigentlich erkennbar; sie denkt sich eine neue, zweite Krebserkrankung aus, sie verkompliziert dadurch das ohnehin Komplizierte.

Wächst ihr, der geschickten Arrangeurin, allmählich alles über den Kopf und hofft sie aufzufliegen? Muss sie, wie ein Junkie, die Dosis steigern? Oder ist sie nun wirklich körperlich krank geworden?

Journalisten müssen prüfen

Dem Lebensbereich „Studium, Beruf, Hospiz“ präsentiert sie derweil eine neue Volte: ein Medikament, bislang nur an Ratten und hoffnungslosen Fällen getestet. Es solle bei einer langzeiterkrankten Leukämiepatientin gut anschlagen. Im Nachhinein sieht es so aus, als wäre auf diese Weise eine wundersame Heilung vorbereitet worden. Ein Szenario des Ausstiegs. Zu spät. Am 6. Juli weiß dies auch Jasmin Zöller.

In den Wochen davor waren bei dem einen und der anderen Zweifel entstanden.

Die Kohärenz der Erzählungen bekam Risse. Kleine Widersprüche waren nicht länger zu übersehen. Was letztlich den Anstoß gab und wer das Hospiz über seinen Verdacht benachrichtigte, das bleibt nach allen Gesprächen, die wir führen, immer noch offen.

Bei den Betrogenen beginnt nun die Zeit der Selbstbefragung.

Wie konnte ich nur so naiv sein? Hätte ich nicht …? Psychologen, und das sind viele aus den beiden Lebensbereichen von Jasmin Zöller, sind auf ihr Gespür und ihre Menschenkenntnis ebenso angewiesen wie Journalisten.

Doch während Psychologen ihrem Gegenüber Glauben schenken, sind Journalisten angehalten zu zweifeln, zu hinterfragen, zu prüfen. Haben wir das in ausreichendem Maß getan? Als hätten wir um Absolution gebeten, erreicht uns während der Recherche die E-Mail von einer der stark Involvierten: „Zu Ihrer Beruhigung, es hat so lange NIEMAND gemerkt, dass Jasmin lügt. Wenn wir als Profis das nicht erkannt haben, wie dann Sie beide? Jasmin war einfach perfekt.“

Die perfekte Inszenierung hinterlässt Enttäuschte und Zornige. Von „bösartig“ ist die Rede, von „empathiefrei“, von „emotionaler Ausbeutung“ und „Heuchelei“.

Allein Hunderte von Stunden an Aufmerksamkeit hat sie von den Sterbehelfern gestohlen und damit Todkranken, die diese Betreuung wirklich gebraucht hätten. Andere erinnern sich an lustige gemeinsame Momente mit einer Frau, die so euphorisch beim Fußballschauen sein konnte, so weise, so charmant und freundschaftlich und dankbar. Die auch vielen Menschen viel gegeben hat, so ist das etwa aus dem Hospiz zu hören.

Nur Glauben schenken, das kann ihr nun niemand mehr.

Ihre Aufenthalte in diversen Krankenhäusern? Vermutlich harmlose Eingriffe. Schmerzen und Schwäche? Simuliert oder psychosomatisch. Die Venenkatheter? Attrappen. Die Befunde? Eventuell gefälscht. Die wöchentlichen Besuche bei der Psycho-Onkologin? Zumindest einmal wurde sie dort gesehen.

Wenn es in all dem Schwindel kleine Wahrheiten gegeben haben mag, wen interessieren diese noch? Auch strafrechtlich hat er keine Folgen – niemand hat Klage erhoben.

Erklärungen eines Psychiaters

Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
Anonym. Im April veröffentlichten wir im „Sonntag“ ein großes Interview mit einer jungen Frau, die Krebs hat und vom nahenden Ende erzählt. Ihren Namen sollten wir nicht nennen, sie wollte auch nicht erkannt werden, darum hielt sie sich auf dem Foto die Hände vors Gesicht.
© Mike Wolff

Frau Zöller ist nun, was sie nie sein wollte: isoliert. Sie musste die Promotion und ein damit verbundenes Stipendium aufgeben, sie hat ihre Jobs gekündigt, ihre weitere Ausbildung beendet, gespendetes Geld zurückgegeben. Unsere Gesprächspartner haben keinen Kontakt mehr zu ihr.

Die Frage nach dem Warum führt an einem Mittwoch im November nach Hamburg zu Dr. Birger Dulz. Der Psychiater, 63, ist Chefarzt der Klinik für Persönlichkeitsstörungen in Ochsenzoll, ein renommierter Experte. Sein Büro in Haus 5, erster Stock, ist auch Therapieraum mit vielen Stühlen, Yuccapalme und Bambus, an der Wand die Marx Brothers und Einstein mit herausgestreckter Zunge. Dulz hat unser Interview mit Frau Zöller gelesen und ist mit dem Stand der Recherchen vertraut.

Herr Dulz, bei unseren Gesprächen fiel immer wieder der Begriff „Münchhausen-Syndrom“. Können Sie den erklären?

Daran leiden Patienten, die lügen. Sie denken sich sehr beeindruckende Geschichten aus, die häufig fundiert wirken. Sie bekommen dadurch Kontakte, die sie sonst nicht hätten oder sich nicht zutrauen würden. Meist liegt dem eine Störung zugrunde.

Einige sprachen von „pathologischem Lügen“. Ist das etwas anderes?

Nein, das passt dazu.

Noch eine Mutmaßung: Es handele sich um eine „artifizielle“ oder „dissoziale Persönlichkeitsstörung“.

Artifiziell gehört zu Münchhausen. Und der Begriff dissozial ist, was ich antisozial nenne, nach dem Diagnosemanual DSM, das ist ein Klassifikationssystem der Psychiatrie. Da geht es darum, dass jemand mit anderen Menschen ohne große Gewissensbisse manipulativ umgeht, um selbst einen großen Vorteil zu kriegen. Es gibt Leute, die sagen, man könne es nicht an die Spitze eines Dax-Konzerns schaffen, ohne antisozial zu sein. So würde ich das nicht unterschreiben.

Es könnte "Borderline" sein

Eine Bekannte der Frau, selbst Psychologin, fragt sich: Warum hat sie diesen komplizierten Weg gewählt, nur um Kontakt zu Menschen zu bekommen?

Warum nicht? Es ist doch brillant gelaufen. Sie hat ja viel erreicht mit dieser Lügengeschichte. Sie wurde jahrelang bewundert und umsorgt, hat Vorträge gehalten, wurde interviewt, hatte gleich zwei Sterbebegleiter, ein gewaltiges soziales Umfeld, eine Psycho-Onkologin und und und. Besser geht’s nicht. Menschen wie Frau Zöller haben oft Probleme mit nahen Beziehungen, über eine Funktion läuft es dann. Hier übernahm der Krebs diese Funktion. Als Sterbende konnte sie Beziehungen leben, die es sonst nicht gegeben hätte.

Die Frau hat ein höchst einnehmendes Wesen, sie ist klug, charmant, lustig. Damit kommt man doch im Leben ziemlich weit.

Wenn man sich das traut! Sich das nicht zu trauen ist typisch für viele Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Das lässt sich vergleichen mit Leuten, die im Beruf sensationell sind und auf dieser Bühne souverän und eloquent agieren, privat können die ziemlich isoliert sein. Solche Ausprägungen wie in ihrem Fall sind allerdings äußerst selten, das ist schon extrem. Es spricht vieles dafür, dass es sich um eine Persönlichkeitsstörung handelt, Borderline, Cluster B, antisozial. Das hat archaische Wurzeln, meist liegen die in der Kindheit, das beginnt oft im Säuglingsalter, Missachtung, Misshandlung – so entsteht möglicherweise eine mangelhafte Angsttoleranz, man bekommt keine große innere Sicherheit. Das Leid muss groß sein, wenn sich jemand gezwungen sieht, so einen Aufwand zu treiben, um psychisch zu überleben.

Sie hatte über Jahre hinweg eine sehr gute Freundin, für die sie immer gesund war. Es ging also schon.

Wurde da wirklich Nähe zugelassen? Vielleicht wurde diese Beziehung durch die Krankheitsgeschichte stabilisiert, wer weiß?

Krankheit mit guter Prognose

Mehrere erfahrene Psychologen sagen, Frau Zöller sei „nie auffällig in ihrem interaktiven Verhalten“ gewesen. Ist das bemerkenswert?

Ja, zumal es nicht ganz stimmt. Wäre sie verwirrt gewesen, wäre sie längst aufgeflogen. Doch sie ist ja im interaktiven Verhalten auffällig, denn sie hat alle angelogen. Es hat nur keiner gemerkt.

Nun ist die Lügnerin selbst Psychologin. Hilft das bei der Bewältigung der Krankheit?

Nein, Fachwissen bringt da gar nichts, jedenfalls auf der emotionalen Ebene. Wenn es um die Ebene des Verstehens geht, dann ja. Im Bereich der Borderlinestörung finden sich Unmengen von Patienten, die gerne anderen helfen. Das ist fast ein diagnostisches Merkmal, auch wenn es nicht ausreicht. Ich könnte unter meinen Patienten jederzeit das Personal für eine psychiatrische Station rekrutieren. Bis auf Ärzte, ein stringentes Medizinstudium stehen die nicht durch.

Kommt man aus so einer Störung je wieder raus?

Es ist ziemlich gut behandelbar, zwei Drittel bis drei Viertel haben eine ausgesprochen positive Prognose. Das kann durchaus einige Jahre dauern, dann kann man symptomfrei sein. Von Heilung können wir nicht sprechen, denn Heilung wäre die Beseitigung der Ursachen des Leidens. Und die Ursache ist die Lebensgeschichte, die lässt sich ja nicht eliminieren.

Draußen legt sich langsam Dunkelheit über das Klinikgelände, beim Abschied von Dr. Dulz fällt ein weißes T-Shirt auf, das neben der Tür auf einem Kleiderbügel hängt; es hat den Aufdruck „Ich bin Scheiße / Du bist schuld“.

Die Wahrheit bleibt ein Geheimnis

Zurück in Berlin nehmen wir wieder Kontakt mit Jasmin Zöller auf. Viereinhalb Monate sind seit dem für sie niederschmetternden Satz „Sie werden nicht sterben“ vergangen. Mailbox, SMS. An einem Sonntagvormittag ruft sie zurück, sie klingt ähnlich heiter wie früher.

Sie sei, erzählt sie, zurück in die Heimat gezogen, sie habe dort Wohnung und Arbeit gefunden, auch eine Psychotherapie begonnen.

Mutter, Großmutter und andere ihr Nahestehende wüssten Bescheid, sie habe alle aufgeklärt. Dass sie nicht an einem Lymphom leide. Dass sie in Berlin über lange Zeit eine Leukämieerkrankung erfunden habe.

Angehörige und Freunde seien zwar geschockt gewesen, könnten aber damit umgehen. Sie selbst verspüre Erleichterung, seitdem das Lügen vorbei sei, andererseits falle es ihr schwer, mit den Schuldgefühlen zu leben.

Nein, sagt sie, sie wolle nicht von uns besucht werden. Das Telefongespräch wird nun mühsam, sie wirkt irritiert, sie schluckt.

Wir erklären Frau Zöller, dies sei ein beruflicher Anruf, wir würden, soweit möglich, alle ihre Angaben überprüfen. Es könne doch jetzt kein Problem mehr sein, etwa mit ihrer Mutter zu reden, nun, da diese über den Schwindel informiert sei?

Okay, sagt sie, von mir aus gerne, und diktiert mit gepresster Stimme eine Mobilnummer.

Wir rufen an, jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten, wochenlang. Dieses Handy ist ständig ausgeschaltet. Die Wahrheit bleibt das Geheimnis von Jasmin Zöller.

Mitarbeit: Susanne Kippenberger

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