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Zwanghaft. Einmal überführt, werden notorische Lügner zahm wie ein Lamm, beschämt, manchmal auch aufbrausend.
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Krankhaftes Lügen: Meister der Inszenierung

Restaurants und Städte, in denen er nie gewesen ist, Geschwister, die er nicht hat – manche Menschen können nicht anders als lügen. Pseudologie heißt die Krankheit. „Das macht einen wahnsinnig“, sagt eine Angehörige. Über den täglichen Kampf um Vertrauen.

Von Maris Hubschmid

An dem Ecktisch, an dem Silke Schulz* jetzt sitzt, haben sie sich kennengelernt. In einer Kneipe in Kreuzberg, kein besonders szeniger Laden, dunkelgrüne Lederbänke, 0,33 Liter Bier für 2,40 Euro, Toast Hawaii für 3,00 Euro. Frank saß am anderen Ende des Raumes, erzählt Silke Schulz. Es ist viel Zuneigung in ihrer Stimme. Irgendwann habe er eine Blume aus einer Vase genommen und sei zu ihr herübergekommen. „Darf ich Ihnen diese Gerbera überreichen?“ „Sie kennen sich wohl aus mit Blumen“, antwortet sie.„Meine Eltern haben eine Gärtnerei“, sagt er.

So fängt alles an: mit einer Lüge.

Dreimal am Tag, so oft lügen die Deutschen im Durchschnitt. Männer etwas häufiger als Frauen, sagen wissenschaftliche Studien. Fast jedes zweite Mal, um sich Ärger zu ersparen, gelegentlich, um sich Vorteile zu verschaffen, jedes zehnte Mal aus reiner Bequemlichkeit, und manchmal auch, um geliebt zu werden. Und dann gibt es Menschen, die nicht anders können.

Der Mann, den Silke Schulz am 2. April 2008 heiratet, ist Verwaltungsfachwirt und kommt aus Greifswald. Seine Eltern führen eine kleine Gärtnerei. Sein Bruder kam noch zu DDR-Zeiten bei einem Autounfall ums Leben. Die Schwester wanderte nach Neuseeland aus. Jeden Dienstag spielt er mit seinen Kollegen Skat, ansonsten hat er keine festen Gewohnheiten. Als junger Erwachsener hat er bei einem Drittligisten sehr erfolgreich das Hockeytor gehütet.

Der Mann, den Silke Schulz jetzt verlassen will, ist arbeitslos und kommt aus Essen. Er ist Einzelkind und war nie in einem Sportverein. Vom Skatspiel kennt er nicht einmal die Regeln. Sein Vater ist Apotheker, die Mutter war Erzieherin. Es ist der selbe Mann, mit dem sie vor knapp fünf Jahren zum Standesamt gegangen ist. Aber er lügt, die ganze Zeit. Gemeinsam haben sie jetzt einen Sohn, Mäxchen.

„Ich liebe Frank“, sagt Silke Schulz, kräftige Statur, glatte, kinnlange Haare, rundliches Gesicht mit spitzer Nase. „Ich liebe Frank.“ Auf ihrem Schoß sitzt der blond gelockte Junge. Die Liebe und Mäxchen, das sind die beiden Gründe dafür, dass sie noch nicht gegangen ist, obwohl sie es schon hunderte Male hat tun wollen.

Das erste Mal, als sie erfuhr, dass ihr Mann bereits ein Kind aus einer vorherigen Beziehung hat. „Mäxchen war zwei Monate alt.“ Da findet sie unter einem Stapel Zeitschriften einen Brief, in dem es um Unterhaltszahlungen geht. „Er hat immer gesagt, dass es sich noch mit keiner Frau richtig angefühlt hat, dass er sich sehnlichst eine Familie wünscht.“ Dabei hat er schon drei Jahre Familienleben hinter sich, als er Silke trifft: Seine sechsjährige Tochter sieht er jeden Dienstag – immer dann, wenn er vorgibt, beim Skat zu sein.

Es sind Enttäuschungen wie diese, die Silke Schulz jetzt reden lassen. Darum hat sie sich auf eine Internet-Annonce hin gemeldet. Ob sie geglaubt habe, diesen Mann zu kennen, als sie Ja sagte? „Jemanden zu kennen, was heißt das schon“, sagt sie. Ein Jahr waren sie ein Paar, als er ihr einen Antrag machte. „Wir hatten eine gute Zeit“. Frank war witzig, aufmerksam, liebevoll. Ihre Freundinnen sagten: Silke, du hast einen guten Fang gemacht. Als sie sich begegnen, ist sie 37, malt sich mehr für ihr Leben aus als ihre Arbeit bei einer Krankenkasse und allwöchentliche Abende mit ihren Mädels. Auch ihre Eltern mögen den „flotten Ossi“, erleben ihn als zuverlässig und hilfsbereit. „Und dann war er schließlich Beamter.“

Bei "Pseudologen" ist das Lügen krankhaft

Silke will mehr über Franks Kindheit im sozialistischen Deutschland erfahren. Er erfindet immer neue Details. Bis es aus der erlogenen Identität scheinbar kein Zurück mehr gibt. Aus ihrem ersten gemeinsamen Mallorca-Urlaub schicken sie Postkarten, auch an seine Eltern und seine Schwester. Sie unterschreibt. Wie sie in den folgenden Monaten und Jahren noch viele Geburtstags- und Weihnachtskarten unterschreiben und auch erhalten wird, ohne je ein Gesicht dazu zu sehen.

Das Hochzeitsfoto, Trauung im kleinen Kreis: Sie im schulterfreien Kleid, er im dunkelblauen Anzug. Seine Schwester kann ihre Farm in Neuseeland nicht allein lassen, heißt es. Die Eltern bleiben mit Bronchitis zu Hause. „Ich habe all das nicht hinterfragt“, sagt Silke Schulz. Auch, weil ihr Bräutigam ein Meister der Inszenierung ist. Auf dem Geschenketisch steht am Morgen eine teure Blumenvase, Meissner Porzellan. Mit Glückwünschen seiner Eltern.

„Pseudologen“ werden unter Fachleuten Menschen genannt, bei denen das Lügen zwanghaft ist. Es ist noch nicht lange so, dass die Krankheit als solche anerkannt wird. Wesentlich dazu beigetragen hat der Berliner Psychiater Hans Stoffels. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen. „Vielleicht tausend Fälle gibt es in Deutschland“, sagt er.

Vor einigen Wochen ist in Norddeutschland die Geschichte eines 77-Jährigen bekannt geworden, der sich jahrelang fälschlicherweise als Überlebender des KZs Buchenwald ausgegeben hat. Hans Stoffels hatte schon mit Menschen zu tun, die von sich behaupteten, am 11. September im World Trade Center gewesen zu sein. Fälle schwerer narzisstischer Persönlichkeitsstörung, aber nicht im eigentlichen Sinn Pseudologie, sagt er. Auf die ganz großen Lügen, Lebenslügen und Doppelleben, zielten echte Pseudologen gar nicht ab. Pseudologen sind keine Hochstapler, handeln nicht aus Geltungssucht. Sondern wie aus einem inneren Zwang. Sie sagen sehr oft, auch in ganz banalen Situationen, die Unwahrheit, und das „ohne nachvollziehbare Motivation“.

Die Lüge ist wie ein Schneeball: Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er. Die großen Lügen übersieht Silke Schulz erstaunlich lange. Die kleinen Schwindeleien bemerkt sie wohl. Freunden gegenüber schwärmt Frank von Städten und Restaurants, in denen er nie gewesen sein kann. Mal sagt er „Deine Cousine lässt schön grüßen“, obwohl er nicht mit ihr gesprochen hat. Oder er berichtet von Einbrüchen und Begegnungen in der Nachbarschaft, die nicht stattgefunden haben. „Ich habe alles eingekauft“, sagt er, wenn sie von unterwegs anruft. Als sie nach Hause kommt, ist der Kühlschrank leer.

„Das macht einen wahnsinnig.“

Wie reagiert sie in solchen Situationen? Sie schreit ihn an. „Willst du mich verarschen?“ Er ist dann zahm wie ein Lamm, beschämt, manchmal aber auch aufbrausend, flüchtet sich in weitere Ausreden, Lügen.

Spannungen und Konflikte auszuhalten, das liege diesen Menschen nicht, sagt Hans Stoffels. Als Silke Schulz ihren Mann mit dem früheren Kind konfrontiert, sie hat feuchte Augen, als sie es berichtet, da habe er gesagt, „dass er den Moment verpasst habe, mir davon zu erzählen“. Tränenüberströmt packt sie ihre Koffer, weiß aber nicht, wohin. Es ist ihr zu peinlich, anderen davon zu erzählen.

Das zweite Mal, dass sie „an ihre Leidensgrenze kommt“, ist ein Valentinstag. „Er ist so wunderbar in solchen Dingen.“ Hat sie mit einem Strauß roter Rosen geweckt. „Und ich hatte den Tag ganz vergessen, Mäxchen hatte die Windpocken.“ Um sich zu revanchieren, organisiert sie einen Babysitter und kauft Kinokarten, will ihn direkt auf dem Amt überraschen. Doch als sie seinen Namen nennt, sagt der freundliche Herr am Empfang: „So einen haben wir hier nicht.“ Ihr Mann hat nie in der Behörde gearbeitet, verdient sein Geld als Kundenbetreuer in einem Vertriebsunternehmen. „Dabei haben wir uns zweimal in der Mittagspause vor dem Amt getroffen“, sagt sie. Er stand dann immer schon draußen und wartete.

"Verlass ihn", raten ihr viele

Silke Schulz stößt in einem Internetforum auf den Begriff Pseudologie. Erst sei sie entsetzt gewesen – dann erleichtert. „Es war weniger verletzend, als ich es nicht mehr auf mich persönlich beziehen musste.“

„Verlass ihn“, raten diejenigen, die einander da im Schutz der Anonymität ihr Herz ausschütten. Aber Silke Schulz kämpft, stellt ihrem Mann eine Mappe zusammen mit alldem, was sie zum Thema gefunden hat. Dass es oft die besonders liebenswürdigen, empathiefähigen Menschen seien, die unter Pseudologie leiden, steht da, und: Der Pseudologe ist ein Verwandter des Künstlers. Aber auch, dass die Krankheit mit einem stabilen Sozial- und Berufsleben „weitgehend unvereinbar“ sei. „Ich will, dass du eine Therapie machst“, sagt sie Frank. Er willigt ein.

„Heilung gibt es nicht“, sagt Hans Stoffels. „In einer Therapie kann es nur darum gehen, mit der Krankheit umgehen zu lernen, die Angehörigen ins Boot zu holen.“

Weil es so wenige Fälle und eine hohe Dunkelziffer gibt, kommt die Forschung nur langsam voran. Wahr ist wohl, dass Pseudologen aus einer Art Schutzbedürfnis heraus handeln. In ihrer wahren Identität fühlen sie sich schwach und angreifbar. Die Gründe dafür können vielseitig sein. Sich ihnen gesprächsweise anzunähern, ist nicht leicht – zu sehr ist der Pseudologe versucht, wieder drauflos zu spinnen.

Silkes Mann berichtet ihr, der Therapeut halte den plötzlichen Tod seines Bruders für das traumatisierende Erlebnis. Als er zu seiner dritten Therapiesitzung aufbricht, folgt sie ihm. Und sieht: Er geht nur spazieren. „Der Angehörige wird zum Kriminalkommissar“, sagt Hans Stoffels.

In einer letzten großen, vor allem emotionalen Anstrengung, erzählt sie, nimmt Silke Schulz Kontakt mit der Ex-Partnerin ihres Mannes auf. So erfährt sie von seinen wahren Familienumständen. Sie besucht seinen Vater in Essen. Der wusste nichts von Silke oder gar einem Mäxchen, obwohl Frank ihn schon zweimal besucht hat, seit er mit Silke zusammen ist. Wochenenden, an denen angeblich Ehemaligentreffen seiner Hockeymannschaft stattfanden.

Es ist spät geworden in der Kreuzberger Kneipe. Mäxchen quengelt, Silke Schulz ist müde, packt die Info-Mappe ein, die sie mitgebracht hat. Steckt das Hochzeitsfoto zurück in ihr Portemonnaie.

Ob es möglich wäre, die Telefonnummer ihres Schwiegervaters in Essen zu bekommen, um mit ihm über die tatsächliche Kindheit ihres Mannes zu sprechen?

Silke Schulz zögert. Sie will erst mit ihm Rücksprache halten.

Und reagiert dann wochenlang nicht auf Nachrichten.

Dann, kommentarlos: Eine Telefonnummer. Vorwahl 0201, für Essen. Der Anrufbeantworter springt an. Bitte sprechen Sie nach dem Piep. Der Rückruf kommt noch am selben Abend. Silke sei nicht seine Schwiegertochter, sondern seine leibliche Tochter, sagt der Mann am anderen Ende. Und eine ungeheuer liebenswerte Person. „Aber sie hat einen Knacks: Sie flunkert furchtbar viel zusammen. Man darf ihr nicht alles glauben.“

Silkes Mann ist vor kurzem ausgezogen, erzählt der Vater.

Der Mann, Frank, bestätigt am Telefon: Er hat es nicht mehr ausgehalten, ihre Lügen. Reden möchte er nicht. Nur so viel: „Was sie Ihnen erzählt hat, ist erstaunlich nah an der Wahrheit.“

Nur, dass es umgekehrt war.

*Namen geändert. Erschienen auf der Reportage-Seite.

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