zum Hauptinhalt
1990 im Kaukasus: Helmut Kohl (Mitte) und Michail Gorbatschow beim historischen „Strickjackentreffen“. Andreas Weiß trägt Dienstkleidung – Krawatte und Jackett.
© picture alliance / ASSOCIATED PR

Dolmetscher Andreas Weiß im Interview: Von Breschnews Wodka und Kohls fehlenden Verben

Als Gorbatschow der deutschen Einheit zustimmt, ist Andreas Weiß der Erste, der es hört. Seit 1969 dolmetschte er die Staatsmänner der Bonner Republik.

Andreas Weiß ist heute der letzte lebende Augen- und Ohrenzeuge aller entscheidenden Weichenstellungen im deutsch-russischen Verhältnis bis zur Wiedervereinigung. Nach Stationen abwechselnd an der deutschen Botschaft in Moskau und im Auswärtigen Amt in Bonn sowie von 1999 bis zur Pensionierung 2003 in Berlin lebt der frühere Chefdolmetscher des Auswärtigen Amts mit seiner Frau im grünen Bonner Vorort Beuel, die Familie der Tochter wohnt in Berlin.

Herr Weiß, Sie haben am 10. Februar 1990 in Moskau als erster Deutscher das Ja zur Wiedervereinigung vernommen.
Gehört hatten es aus dem Mund von Gorbatschow auch Helmut Kohl und dessen Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik – auf Russisch. Die von Gorbatschow formulierte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen im Hinblick auf ihre Wiedervereinigung musste mein russischer Kollege Iwan Kurpakow, der Dolmetscher des Generalsekretärs, erstmal ins Deutsche übersetzen. Ich habe Kohl ins Russische übersetzt.

Wie erlebten Sie diesen Moment?
Schon als ich Gorbatschow noch sprechen hörte, habe ich Helmut Kohl kurz angeschaut, und ich bin sicher, er hatte meinen Blick sofort verstanden. Uns beiden war klar: Das ist ein historischer Moment, die Einheit kommt!

Ein Dolmetscher in der Politik soll doch Luft sein, nur ein reines Medium. Mussten Sie nicht ein Pokerface wahren?
Nein, ein Dolmetscher ist nicht Luft. Er ist in diesem Fall Mitglied der offiziellen Delegation, ich war ja Mitarbeiter des Auswärtigen Amts. Ein Dolmetscher muss neutral sein und zugleich die Position des eigenen Landes vertreten. Ich bin kein Schauspieler, aber habe doch versucht, bestimmte Argumente der eigenen Seite in ähnlicher Tonlage und Gewichtung zu übermitteln.

Wo fand das entscheidende Gespräch zwischen Kohl und Gorbatschow im Februar 1990 statt?
Im Gästehaus des sowjetischen Außenministeriums, einem schönen Palais aus der Zarenzeit.

Andreas Weiß, Dolmetscher von Kohl und Gorbatschow.
Andreas Weiß, Dolmetscher von Kohl und Gorbatschow.
© Horst Galuschka

Und wo hat der Bundeskanzler bei solchen Gesprächen in Moskau gewohnt?
In einer Gästeresidenz der sowjetischen Regierung auf den damaligen Lenin-, jetzt wieder Sperlingsbergen.

Bestand die Gefahr, abgehört zu werden?
Natürlich. Das wussten wir.

Warum hat der Kanzler dann nicht in der eigenen Botschaftsresidenz übernachtet?
Das war nach dem Protokoll unüblich.

Konnten Sie sich denn in Moskau untereinander verständigen, ohne vom KGB mitgehört zu werden?
Man ging in die „Laube“, einen abhörsicheren Raum der deutschen Botschaft.

Der Roman „Mein Herz so weiß“ von Javier Marías handelt von einem Dolmetscherpaar, das diplomatische Gespräche zwischen Regierungschefs durch leichte Veränderungen bei der Übersetzung manipuliert. Waren Sie schon mal in Versuchung, auf diese Weise in die Zeitgeschichte einzugreifen?
Wir sind ja als Dolmetscher mindestens zu zweit, und mein Partner auf der anderen Seite versteht ebenso beide Sprachen. Daraus ergeben sich eine gewisse Kontrolle und zugleich Kollegialität. Manchmal hilft man sich bei Mehrdeutigkeiten gegenseitig aus. Es wird bei direkten Politikergesprächen konsekutiv, also jeweils in Abschnitten und für beide Seiten hörbar, übersetzt. Ein Mal aber war ich tatsächlich allein zuständig.

Erzählen Sie bitte.
Ganz war die Sache mit der Wiedervereinigung noch nicht gelaufen. Es gab innerdeutsche Gespräche und die späteren Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit den alliierten Siegermächten. Das alles wäre bei einem prinzipiellen „Njet“ der Russen im Februar 1990 aussichtslos gewesen. So wurde es brisant, als im Juli 1990 Kohl und Hans-Dietrich Genscher mit einer Delegation wieder nach Moskau reisten.

Was war da das strittige Problem?
Es ging vor allem darum, ob und wie ein wiedervereinigtes Deutschland in der Nato bleiben konnte und wie stark die Bundeswehr sein durfte. Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse blockten die deutschen Vorschläge ab. Dann lud Gorbatschow die deutsche Delegation spontan in seine Regierungsdatscha nach Archys im Kaukasus ein, und wir flogen von Moskau am 15. Juli 1990 alle zusammen in einer Maschine dorthin. Die Region war auch Gorbatschows Heimat.

Hier gab es in entspannt rustikaler Atmosphäre den endgültigen Durchbruch?
Verhandelt wurde bereits auf dem Flug. Unterwegs gerieten wir in ein fürchterliches Gewitter. Wir saßen mit Gorbatschow und Schewardnadse am Konferenztisch der Maschine, und als das Flugzeug immer heftiger wackelte, schleppte das russische Protokoll den Dolmetscherkollegen Kurpakow, der ein etwas korpulenter Mann war, zu dessen Sicherheit in einen weiter entfernten Sessel und schnallte ihn fest. Da blieb nur ich übrig.

Worum ging es dabei?
Vorher hatte Gorbatschow viel aus seiner Jugend im Kaukasus und Erlebnissen in der Kriegszeit erzählt, auch Kohl berichtete dann von seinen Erfahrungen als Junge im Krieg, wie er zu Feuerlöschdiensten eingezogen wurde.

Unter dem Signum „Nie wieder Krieg“ verstanden sich Kohl und Gorbatschow gut.
Ja, Gorbatschow und Kohl sprachen einander mit Vornamen an, und ich glaube, sie haben sich irgendwann richtig geduzt. Doch bei dem Flug ging es um die Truppenstärke der künftigen Bundeswehr, und der Kanzler deutete an, dass die Zahl von 370 000 Soldaten nicht überschritten würde, beharrte jedoch auf einer freien Entscheidung über die Modalitäten der eigenen Bündniszugehörigkeit. Was die Russen auf kaukasischem Boden tatsächlich konzidierten und so der deutschen Einheit ohne weitere Bedingungen zustimmten. Im schaukelnden Flugzeug dachte ich als Dolmetscher beider Seiten: „Jetzt hängt alles von dir ab!“ Da kann man schon ins Schwitzen geraten.

Wie sind Sie in diese Rolle als Chefdolmetscher des Auswärtigen Amts mit der Spezialiät Russisch geraten?
Geboren bin ich im bayerischen Straubing und aufgewachsen bei Regensburg, habe am Regensburger Gymnasium 1961 Abitur gemacht, im Sommer des Mauerbaus.

Ein Regensburger Abiturient studiert dann mitten im Kalten Krieg Russisch?
Das hat mit der Heimat meines Vaters zu tun, der stammte aus dem Bayerischen Wald, dem nordwestlichen Teil des einstigen Böhmerwalds. Dort hatten meine Großeltern einen Bauernhof, auf dem ich oft meine Ferien verbrachte. Und von diesem Hof an der Nachkriegsgrenze blickte man nach Tschechien. Ich hörte meine Großmutter sagen: „Mein Gott, wenn von dort drüben mal die Russen kommen!“

Da wollten Sie vorbereitet sein? Sie lachen.
Ja, das Thema hat mich positiv verfolgt. Ich habe mich für russische Kultur interessiert, wollte den „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak lesen, der Ende der 50er Jahre nicht auf Russisch erscheinen durfte. Ich lieh mir das Buch auf Englisch aus – wie widersinnig. Erst später habe ich mir die russische Exil-Ausgabe besorgt. In der Sowjetunion durfte „Doktor Schiwago“ ja erst mit Gorbatschows Perestroika und Glasnost-Politik 30 Jahre später veröffentlicht werden. Ich wollte sowas am liebsten im Original lesen.

Sie mochten Fremdsprachen.
Schon in der Schule. Englisch und Französisch sowieso, und nach dem Abi ging ich nach Heidelberg ans Dolmetscher-Institut der Universität. Mein Lebensziel war bereits damals, Dolmetscher im Auswärtigen Amt zu werden. Das erschien mir spannend, weil ich das Weltgeschehen kennenlernen wollte. Erst dachte ich an Russisch als Zweitsprache, aber mein Professor, ein gebürtiger Balte, riet mir: „Nehmen Sie Russisch als Erstsprache.“ Ab 1966 war ich dann Diplomdolmetscher für Russisch.

Und mit dem Abschluss sind Sie gleich im diplomatischen Dienst gelandet?
Noch als Student hatte ich 1965 ein kurzzeitiges Stipendium am Fremdspracheninstitut in Moskau und einen Kontakt zur deutschen Botschaft. So erfuhr ich, dass dort in näherer Zukunft eine Stelle als Dolmetscher frei werden würde. Worauf ich mich beim Auswärtigen Amt in Bonn beworben habe und 1967, unter dem damaligen Außenminister Willy Brandt, in den Auswärtigen Dienst übernommen und kurz darauf nach Moskau geschickt wurde. 1967 war das Jahr, als Konrad Adenauer starb, eine meiner ersten Amtshandlungen in der Botschaft bestand darin, neben dem Kondolenzbuch auszuharren und zum Beileid abgestellten russischen Politikern den Füller zu reichen.

1988 in Bonn: Eduard Schewardnadse (li.), Bundespräsident Richard von Weizsäcker (2.v.r.) und Hans-Dietrich Genscher. Die „Zeit“ schreibt damals über den sowjetischen Außenminister: „Er lächelte selbst noch, als er fluchte.“ Andreas Weiß vermittelt.
1988 in Bonn: Eduard Schewardnadse (li.), Bundespräsident Richard von Weizsäcker (2.v.r.) und Hans-Dietrich Genscher. Die „Zeit“ schreibt damals über den sowjetischen Außenminister: „Er lächelte selbst noch, als er fluchte.“ Andreas Weiß vermittelt.
© Ullstein Bild/Werek

Als Sie nach Moskau kamen, war Leonid Breschnew seit drei Jahren Generalsekretär der KPdSU. Sein Vorgänger Nikita Chruschtschow hatte die Verbrechen Stalins ein Jahrzehnt zuvor erstmals in einer Geheimrede angeprangert. Haben Sie noch persönlich jemanden aus dem engeren Führungskreis der Stalin-Zeit erlebt?
Oh ja, Anastas Mikojan. Der war in der Ära Breschnew bis 1965 das formelle Staatsoberhaupt der Sowjetunion.

Und ein Wendehals. Unter Stalin hat er bei den sogenannten „Säuberungen“ Tausende in den Tod geschickt und sich erst nach Stalins Tod, wie Chruschtschow, intern von der Schreckensherrschaft distanziert.
Mikojan habe ich in meinen frühen Moskauer Jahren bei einem Empfang in der deutschen Botschaft gedolmetscht. Kein angenehmer Mann.

Warum?
Er sagte zu mir von sehr oben herab: „Sie sind kein Deutscher! Sie haben einen baltischen Akzent.“ Dabei sprach er als gebürtiger Armenier selber ein Russisch mit unheimlich derbem armenischen Akzent. Einen solch starken Akzent hatte ich nie!

Vom Ende der 60er Jahre bis zur Wiedervereinigung haben Sie die deutsch-russische Politik mitbegleitet. Zu Beginn dieser Epoche stand eben Leonid Breschnew an der Spitze der Sowjetunion, der 1968 der Welt erheblichen Schrecken eingejagt hat.
Sie meinen das Ende des Prager Frühlings und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die damalige CSSR. Ich bekam als junger Botschaftsdolmetscher in Moskau erstmal nur mit, dass uns der Zugang zum Pilsner Urquell von sowjetischer Seite gekappt wurde. Vorher konnte ein LKW der Botschaft einen Vorrat an tschechischem Bier in der Botschaft der CSSR abholen. Und bei der Reise mit dem Auto durch die Tschechoslowakei in den Urlaub nach Bayern waren die Straßenschilder zur Verwirrung der sowjetischen Truppen verdreht.

Dennoch fanden die sowjetischen Panzer nach Prag und manifestierten die „Breschnew-Doktrin“, nach der es, wie schon am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin und 1956 beim Ungarn-Aufstand, keinen eigenen freien Weg heraus aus dem Machtbereich des Warschauer Pakts und der Sowjetunion geben sollte.
Breschnew und die Russen sahen 1968 alles, was die Teilung Europas und den eigenen Einflussbereich als Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg womöglich gefährdete, als Unsicherheitsfaktor. Trotzdem wollten sie statt andauernder Konfrontation auch Entspannung. Breschnew hatte den Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion und den Weltkrieg erlebt. Mit Willy Brandt trat dann zum ersten Mal ein bundesdeutscher Politiker auf, der als Emigrant selbst gegen die NS-Herrschaft gekämpft hatte. Das öffnete für die neue Ostpolitik von Brandt, Walter Scheel und Egon Bahr viele Türen. Ab 1969 kam Bahr immer wieder zu Verhandlungen nach Moskau, danach auch Außenminister Scheel und dann der Bundeskanzler: bis am 12. August 1970 der Moskauer Vertrag unterzeichnet wurde. Als junger Dolmetscher hatte man eine spannende Zeit.

Mit 29 Jahren waren Sie also mit Brandt und Scheel im Katharinensaal des Kremls, als die beiden mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Kossygin und Außenminister Andrej Gromyko unter den Augen Breschnews den Vertrag unterzeichneten?
Ja, das war für mich der erste sozusagen historische Augenblick. Es war die Anerkennung der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa, aber mit dem von unserer Seite beigefügten „Brief zur deutschen Einheit“ gleichzeitig auch die Voraussetzung für eine spätere friedliche Wiedervereinigung Deutschlands.

Wann sind Sie Brandt und Breschnew zum ersten Mal persönlich begegnet?
Im August 1970, bei der Vertragsunterzeichnung und bei einem Vieraugen-Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und dem Generalsekretär in Breschnews Büro im Kreml.

Waren weitere Mitarbeiter dabei?
Später ja, anfangs nur Breschnew, Brandt, der russische Dolmetscher und ich.

Wie sah das Büro des mächtigsten Mannes der Sowjetunion aus? Standen dort vergoldete Möbel – wie heute bei Putin?
Nein, das war alles ganz funktional. Prunkvoll und golden waren die Repräsentationsräume, nicht das Büro.

Gab es bei dem Gespräch Alkohol?
Damals nicht, nur Kaffee und Plätzchen. Breschnew war von seinem südrussischen Temperament her lockerer als Brandt und erzählte gern. Brandt wiederum konnte gut zuhören, auch mal schlagfertig mit einem Witz reagieren.

Egon Bahr hat in seinen Memoiren geschrieben, dass beide die Liebe zu „Wein, Weib und Gesang“ verband. Hätten ihnen die Ärzte geraten, mal kürzer zu treten, hätten beide wohl das Singen gelassen.
Das stimmt. Als Sänger hatten wir ja schon Walter Scheel!

1981, Ende eines Staatsbesuchs. Bundeskanzler Helmut Schmidt (2.v.r.) verabschiedet Breschnew am Flughafen Köln/Bonn. Andreas Weiß steht parat.
1981, Ende eines Staatsbesuchs. Bundeskanzler Helmut Schmidt (2.v.r.) verabschiedet Breschnew am Flughafen Köln/Bonn. Andreas Weiß steht parat.
© Ullstein Bild/Twin-Press

Eine besondere Beziehung zwischen den beiden vermittelt auch die Momentaufnahme der „Faz“-Fotografin Barbara Klemm, die Brandt und Breschnew 1973 bei dessen erstem Staatsbesuch in der Bundesrepublik zeigt. Man sieht Brandt und Breschnew einander zugewandt, wie versunken in einer Art konzentrierten Intimität – trotz der vielen Menschen um sie herum.
Das kann ich bezeugen, denn der zwischen den beiden Herren knieende junge Mann auf dem Bild bin ich.

Breschnews Außenminister Andrej Gromyko hatte die Welt bei vielen Fernsehauftritten, auch vor der Uno, recht bärbeißig erlebt. Wie war dessen Zusammenspiel mit Breschnew?
Gromyko, der unter den Russen selbst als hart galt, konnte auch lachen. Aber er war der Akribische, hatte die Detailkenntnisse. Während der Generalsekretär, wie der Name sagt, das Generelle bestimmte.

Bei Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse hieß es, dass Gorbatschow auch im Detail der Bestimmende war.
Beide waren stets gut vorbereitet. Bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit gab es meist getrennte oder parallel laufende Beratungen jeweils zwischen den Außenministern oder den Regierungschefs. Alle zusammen begegneten sich bei den Delegationsgesprächen. Aber das Entscheidende passierte weniger im großen Kreis.

Sie sagten, beim ersten Vieraugen-Gespräch Brandt-Breschnew im Kreml gab es Kaffee. Alkohol war nicht generell verboten?
Oh nein, im Gegenteil!

Haben die Dolmetscher dann mitgetrunken, oder bekamen Sie nur Wasser?
Breschnew bestand darauf, dass wir Dolmetscher mittranken.

Wodka, Wein oder beides?
Beides. Breschnew trank seinen eigenen Wodka. Ein bräunliches Getränk, in dem Büffel- oder Wisentgras drin war.

Den durfte nur er trinken?
Wenn er bei einem Bankett den Gästen ein Schlückchen anbot und auf die Frage, ob es geschmeckt habe, mit „Ja“ geantwortet wurde, konnte das Folgen haben. Mildred Scheel, die Frau unseres damaligen Bundespräsidenten, hat die Frage freundlich bejaht, worauf der Generalsekretär alle Weingläser wegräumen ließ und es flaschenweise nur noch den Breschnew-Wodka gab.

Konnten die Deutschen mithalten?
Wir ließen das Getränk nicht stehen.

Bei den offiziellen Banketten aßen und tranken Sie als Dolmetscher mit?
Ja, bis Gorbatschow Ende 1987 erstmals in die USA reiste. Danach übernahm er leider den amerikanischen Stil, dass die Dolmetscher bei Staatsbanketten die ganze Zeit auf einem Hocker schräg hinter ihren Chefs ausharren müssen. Hannelore Kohl hat bei der Rückfahrt von einem abendlichen Dinner mal gesagt: „Helmut, der arme Herr Weiß ist ja schon halb verhungert, gib ihm mal was ab von den Pralinen, die sie dir mitgegeben haben!“

Breschnew hat angeblich von seinem Arzt ein Zigarettenetui verordnet bekommen, das zum Öffnen eine Zeitsperre hatte, damit er weniger rauchte.
Wunderbar, das war das „Tikajet“! Ein silbernes Etui, das nach einer oder zwei Stunden tickte und ihm eine Zigarette erlaubte. Erklang dieses Ticken, begannen die Augen des Generalsekretärs zu glänzen. Einmal, bei seinem Staatsbesuch in Bonn, saß ich neben Breschnew. Damals hatte ich auch ein sehr schönes silbernes Zigarettenetui, und als wir uns vom Tisch erhoben, merkte ich, dass es fort war. In einer Verhandlungspause langte Breschnew in seine Jackentasche und gab mir mein Zigarettenetui mit einem Nicken zurück.

Er hatte die Etuis verwechselt und die Gelegenheit genützt?
Dazu sage ich nichts, das fällt unter die diplomatische Verschwiegenheitspflicht. Ich durfte, als ihm selbst das Rauchen völlig untersagt war, gelegentlich in seiner Limousine mitfahren, nur wir beide auf dem Hintersitz, und er sagte: „Gospodin Dolmetscher, rauchen Sie bitte.“ Wenn ich meine Zigarette ansteckte, tanzten Breschnews Nasenflügel.

1988 am runden Tisch: Raissa Gorbatschowa (li.) und Hannelore Kohl mit ihren Ehemännern. Andreas Weiß und sein russischer Kollege Iwan Kurpakow übersetzen.
1988 am runden Tisch: Raissa Gorbatschowa (li.) und Hannelore Kohl mit ihren Ehemännern. Andreas Weiß und sein russischer Kollege Iwan Kurpakow übersetzen.
© imago/Sven Simon

Apropos Rauchen. Kam Helmut Schmidt ähnlich gut mit Breschnew zurecht wie vor ihm Willy Brandt?
Die konnten ebenfalls miteinander. Einmal hat Schmidt den Breschnew auch in sein Häuschen in Hamburg-Langenhorn eingeladen, da ging es, trotz weiterhin förmlicher Anrede, ganz vertraulich zu. Helmut Schmidt bedeutete für einen Dolmetscher ein Vergnügen. Klare, präzise, kurze Sätze! Ähnlich wie Egon Bahr.

Und Willy Brandt?
Brandt war manchmal etwas ausgreifender, weitschweifender.

Walter Scheel?
Ohne starke persönliche Farbe. Scheel hielt sich möglichst an bereits vorbereitete Texte, an Standardformulierungen.

Der Kanzler oder ein Minister hat immer drei oder fünf Sätze gesagt, sie haben mitnotiert und dann übersetzt?
Das war unterschiedlich. Hans-Dietrich Genscher hat auch 20 oder 50 Sätze an einem Stück gesprochen, da kam man selbst mit unserer speziellen Notizentechnik beim Mitschreiben kaum hinterher. Helmut Kohl hat dagegen manchmal nur einen Halbsatz gesagt, dann musste man ihn fragend anschauen: „Was ist das Verbum, Herr Bundeskanzler?“ Weil im Deutschen das Verbum als Sinnentscheidung halt erst am Ende kommt. Kohl hat es dann nachgeliefert. Manchmal aber lesen Politiker auch nur vorbereitete Statements ab und wollen sich dabei nicht unterbrechen lassen, was den Dolmetscher eher unruhig macht, weil die zuhörende Seite sich ohne zwischenzeitliche Übersetzung gewaltig langweilen kann.

Wer war der Spontanste unter den Politikern, die Sie unmittelbar erlebt haben?
Der absolut Temperamentvollste ist Eduard Schewardnadse gewesen. Kein Wunder, er kam aus dem Süden, aus Georgien. Auch Gromyko konnte spontan sein. Mich hat er mal gefragt: „Wie dolmetscht man eigentlich besser, wenn man was getrunken hat oder nicht?“

Und?
Vermutlich antwortete ich: „Ich glaube, da gibt’s keinen Unterschied!“

Willy Brandt?
Brandt war schwerblütiger. Als er sich bei einem Vieraugen-Gespräch eine halbstündige Darlegung Breschnews angehört hatte und dann eine Pause gemacht wurde, hat er Egon Bahr über den bisherigen Gesprächsinhalt informiert. Als ihn Bahr dann fragte, was hast du denn gesagt?, antwortete Brandt: „Ich war noch nicht dran.“

War bei Brandts Gesprächen mit den Russen auch Günter Guillaume dabei, der später enttarnte DDR-Spion?
Nein, den habe ich nach meiner Erinnerung nie gesehen.

Er war doch eine Art Schatten Brandts.
Ich kann nicht beschwören, ob er mal irgendwo im Hintergrund aufgetaucht ist. Aber bei Tisch: nein.

Hatten Sie eigentlich im November ’89 sofort die Vorstellung: Nun beginnt das Ende der DDR?
Es war ein Paukenschlag. Doch viele Russen hatten uns schon zu verstehen gegeben, dass sie nicht mit einer deutschen Teilung für alle Zeiten rechneten.

1973. Andreas Weiß hinter Willy Brandt und Leonid Breschnew (li.) vor dem Bonner Hotel Petersberg.
1973. Andreas Weiß hinter Willy Brandt und Leonid Breschnew (li.) vor dem Bonner Hotel Petersberg.
© picture alliance / akg-images

Gab es ähnliche Gespräche auch mit Angehörigen der DDR-Botschaft in Moskau?
Das war viel schwieriger. Weil uns die Diplomaten der DDR ja aus dem Weg gingen. Dienstlich und privat hatten die Scheu vor persönlichen Kontakten und fühlten sich immer überwacht. Zum Beispiel gab es einen eigenen Diplomatenstrand an der Moskwa. Dort badeten im Sommer die Botschaftsangehörigen mit ihren Familien. Und wenn die Kinder von DDR-Diplomaten mit unseren Kindern spielen wollten, kamen sofort die Eltern angerannt und holten ihre Kinder zurück.

Wo haben Sie den 9. November erlebt?
In Bonn, vorm Fernseher. Die Aufregung ging für mich erst am 11. November los. Da musste ich ins Kanzleramt, weil Helmut Kohl nun zu telefonieren begann.

Erinnern Sie sich an das erste Telefonat mit Gorbatschow?
Der Kanzler hat ihn beruhigt. Es sollte bei den Russen nicht der Eindruck der direkten Einmischung und eines irgendwie aggressiven Umsturzes entstehen. Gorbatschow war geradezu entspannt. Er hat Kohl nicht gratuliert, aber er nahm die Maueröffnung als Tatsache zur Kenntnis. Das Gespräch führte im Wesentlichen Kohl, weil es darum ging, dass die sowjetischen Truppen in der DDR stillhalten.

Der Kanzler lässt in Moskau anrufen, Sie stehen dabei – hat Kohl Sie als Übersetzer inhaltlich kurz vorbereitet auf das, was er Gorbatschow gleich sagen will?
Da springt man ohne Briefing ins kalte Wasser. Man wartet im Vorzimmer, dann ruft einen die Sekretärin rein, und auf dem Tisch des Bundeskanzlers liegen zwei Hörer, einen kriege ich. Von einem Protokollanten abgesehen waren wir allein.

Michail Gorbatschow wurde zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls nach Berlin eingeladen, hat jedoch aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. Wie würden Sie ihn als Menschen beschreiben?
Mit Helmut Kohl bin ich 1985 zum Begräbnis von Gorbatschows Vorgänger Tschernenko nach Moskau gereist. Dort haben wir den neuen Generalsekretär zum ersten Mal getroffen. Gorbatschow wirkte auf Anhieb sehr kooperativ. Kohl und er vereinbarten die Ernennung von zwei persönlichen Beauftragten für die deutsch-russischen Beziehungen. Da dachte ich: Na, was soll das denn werden!?

Im folgenden Jahr sagte Kohl über Gorbatschow: „Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels (…) war auch ein Experte in Public Relations.“
Da kühlte sich das Verhältnis etwas ab. Doch Gorbatschow blieb uns gegenüber ehrlich. Er stand wegen der Probleme mit der Perestroika und der sich verschlechternden Wirtschaftslage unter Druck. Daraus hat er in seinen Gesprächen mit dem Kanzler keinen Hehl gemacht, Kohl half ihm mit Milliardenkrediten.

Das hat die Auflösung der Sowjetunion 1991 und das innenpolitische Scheitern Gorbatschows nicht verhindert.
Deshalb blühte er in Deutschland auf, wo die Leute „Gorbi, Gorbi“ jubelten.

Wer war für Sie der beeindruckendste deutsche Politiker?
Hm. Wahrscheinlich doch Willy Brandt. Er hatte eine besondere Aura.

Hatten Sie als Bayer auch mit den bayerisch-russischen Beziehungen zu tun?
Als der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel 1978 im Kreml empfangen wurde, erhielt er eine lange Einweisung in die sowjetische Friedenspolitik. Der hörte Goppel geduldig zu, hob dann zur Erwiderung an, stockte und sprach: „Ja mei …!“ Mir fiel zum Glück eine russische Replik ein: „Wot tak!“

Herr Weiß, ab 1991 waren Sie bis zur Pensionierung Leiter des gesamten Dolmetschdienstes im Auswärtigen Amt. Hat die Zeit des Mauerfalls Ihre Karriere gekrönt?
Ja, danach kam nur noch die Beförderung.

Zur Startseite