Übersetzer bei der Europäischen Union: Im Sprachzentrum
28 Länder, 24 Sprachen: Wie soll so eine europäische Identität entstehen? Einblicke in ihren Brüsseler Maschinenraum.
Es gibt eine Haltestelle im Zugnetz der Stadt Brüssel, Evere, da kann man morgens im Berufsverkehr ein sonderbares Sprachgewirr hören. Da erklärt ein Engländer einem Franzosen die Besonderheiten des Bulgarischen, und ein Bulgare klinkt sich auf Französisch ins Gespräch ein. Da reden zwei Slowenen Spanisch. Da imitiert ein Italiener im Gespräch mit einem Deutschen einen Österreicher. Da verlässt ein Grüppchen Sprachgenies gemeinsam den Zug, dann biegen sie in die Rue de Genève ab, verteilen sich auf drei Hochhäuser und machen Europa.
Im Turm G6 zum Beispiel sitzt Martina Fornoff, 58 Jahre alt, Kurzhaarfrisur. Seit bald 30 Jahren lebt sie in Brüssel. An ihre Heimat Deutschland erinnert in ihrem Büro nur die Postkarte mit dem Konterfei Walter Ulbrichts, darunter der Satz: „Niemand hat die Absicht, einen Flughafen zu errichten.“ Fornoff nimmt einen Schluck Tee und setzt sich an ihren PC. „Voilà“, sagt sie, „willkommen in unserer Hochleistungsmaschine.“
Eine Maschine?
Europa ist besonders. Wer auf dem amerikanischen Kontinent von Alaska nach Feuerland reist, benötigt unterwegs nur Spanisch und Englisch. Wer von Brüssel nach Bukarest fährt, kann dabei Französisch, Niederländisch, Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch und Rumänisch sprechen. Für die EU bedeutet das: 28 Staaten debattieren in 24 Amtssprachen. Jedes Gesetz, das die Politiker entwerfen, muss präzise in allen Sprachen Gesetz werden. Ein Schreiben, das auf Finnisch eintrifft, muss ein deutscher Politiker bearbeiten können.
Integration kann nur gelingen, wenn alle die gleiche Sprache sprechen
Darum gibt es die Maschine, wie Martina Fornoff sagt. Sie besteht aus 4000 Menschen, die für die EU im industriellen Maßstab übersetzen: für den Rat, das Parlament und die Kommission, zuständig nur für das geschriebene, nicht für das gesprochene Wort. Um Letzteres kümmern sich Dolmetscher, die absolvieren eine andere Ausbildung. Zum Team der Kommissionsübersetzer gehört Martina Fornoff. Sie und ihre Kollegen sitzen in den drei Hochhäusern in der Brüsseler Peripherie. Im vergangenen Jahr haben sie mehr als zwei Millionen Seiten übersetzt.
Integration kann nur gelingen, wenn alle die gleiche Sprache sprechen, diesen Rat geben Politiker Zuwanderern gern. Sprache öffne Türen, sie offenbare Kultur. Klingt logisch. Warum gilt das Konzept nicht für die EU? Wie soll eine europäische Identität wachsen, wo 28 Staaten miteinander in 24 Sprachen kommunizieren?
Stellt man sich den Dokumentenfluss der EU-Kommission als gigantische Straßenkreuzung vor, dann ist Martina Fornoff die Verkehrspolizistin, die regelt, wer wo hinfährt. 300 Aufträge am Tag landen in ihrem Postfach, gerade blickt sie auf 71 unbearbeitete. Was muss ins Deutsche, Spanische, Finnische übersetzt werden? Bis wann? Planning, so nennt die EU Fornoffs Abteilung. Fornoff verschickt einen Auftrag aus ihrem Postfach zu den Deutschen, Hochhaus G12.
Um hinzugelangen, muss man an Wachmännern vorbei, die jeden Besucher filzen, Schilder erinnern an den Terroranschlag vor zwei Jahren. Im Erdgeschoss riecht es nach der Quiche, die ein Bistro anbietet, im zehnten Stock reihen sich Büros an einen dunklen Flur. Hinter angelehnten Türen beugen sich Übersetzer über Papiere. Ganz hinten empfängt Levke King-Elsner, die Leiterin des Referats DE.1, einem von insgesamt vieren der deutschen Sprachabteilung. Graues, halblanges Haar, blaues Kleid. „Unser Anspruch ist es, der beste Übersetzerdienst der Welt zu sein“, sagt sie.
Übersetzen bedeutet: Abstand nehmen vom Original
Wie übersetzt man besser als andere? „Wir sind riesig groß und trotzdem unheimlich gut organisiert, das läuft wie am Schnürchen bei uns“, sagt King-Elsner. Und sie denken viel nach. Gerade unerfahrene Übersetzer hielten sich oft an den Wortlaut, sagt King-Elsner. Aber Übersetzen bedeutet: Abstand nehmen vom Original, um den Sinn zu treffen. Das macht es schwer.
Ein Kollege von ihr hat neulich einen Fehler entdeckt in einem Schreiben. Dort stand auf Englisch: „Bis ins Jahr 2021 soll eine Milliarde Euro … investiert werden.“ In der französischen Version des Schreibens stand nicht mehr „bis“, sondern „ab 2021“. Er konnte verhindern, dass das Schreiben veröffentlicht wird.
Levke King-Elsner erzählt vom Druck, der auf der Abteilung lastet. Weil die Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker so politisch ist wie keine zuvor – Gipfeltreffen einberuft, Stellung bezieht –, nimmt die Anzahl der Dokumente zu. Als Juncker Mitte September seine Rede zur Lage der EU hielt, arbeiteten zwei Übersetzerinnen aus Kings Abteilung die Nächte durch. Letzte Details änderte Juncker, Minuten bevor er sprach. Dafür lobte er die Arbeit der Übersetzer hinterher ausdrücklich. Oft kommt das nicht vor, das liegt am Wesen der Übersetzung. Sie ist gut, wenn niemand sie als Übersetzung wahrnimmt.
Neulich war das anders. Da sagte Horst Seehofer im ARD-Sommerinterview, die CSU habe das böse Wort „Asyltourismus“ bloß von der EU-Kommission übernommen. Eine Journalistin fand heraus, dass es in einem Schreiben der Kommission von 2008 steht – in der englischen Version in Anführungszeichen. Die haben Übersetzer in der deutschen Fassung weggelassen. So was ist die Ausnahme. Die Maschine läuft präzise. Die Probleme liegen woanders.
Die EU wäre stärker, wenn sie in sechs Sprachen kommunizieren würde
Sprache ist politisch in Europa. 1,1 Milliarden Euro kosten Dolmetscher und Übersetzer jährlich, zwei Euro pro Bürger. Viel zu viel, finden manche und werfen der EU Steuerverschwendung vor.
Während Levke King-Elsner und ihre Kollegen schneller mehr liefern sollen, verweigern die Mitgliedstaaten Geld, um mehr Übersetzer einzustellen. „Wir haben zwei Ventile“, sagt King-Elsner. Das erste: Auslagerung. Aufträge, die ihre Abteilung nicht selbst schafft, gibt King-Elsner an Freelancer. Das Verfahren ist komplex. Die Vergabe erfolgt über ein Portal und ist anonym, die Idee dahinter fair: Wenn die EU nicht weiß, an wen sie vergibt, kann niemand bevorteilt werden, die Vergabe erfolgt nach Leistung und Preis. So aber ist ein System entstanden, in dem King-Elsner nicht weiß, wer für sie übersetzt, ihre Abnehmer sind Nummern im System, sie kann nicht anrufen. Angewiesen ist sie trotzdem auf die Freien. Schon heute erledigen die ein Drittel der Aufträge, bis 2020 wird der Anteil deutlich steigen. Genaue Zahlen möchte die Generaldirektion noch nicht herausgeben.
Das zweite Ventil: die Technik. Die Übersetzer lassen sich helfen, von der MÜ, der „maschinellen Übersetzung“, sagen sie in Brüssel. Die stückelt aus alten Textbausteinen neue Texte zusammen. Maschine schlägt Mensch? „Die MÜ ist schneller, aber wir müssen immer noch mal sehr genau draufschauen; sie ist alles andere als perfekt“, sagt King-Elsner. Mensch schlägt Maschine.
2004 ermittelte der Wirtschaftswissenschaftler Adam Ginsburgh in einer Studie, wie sich die Mehrsprachigkeit der EU auf ihre wirtschaftliche Stärke auswirkt. Sein Fazit: Die EU wäre stärker, wenn sie in sechs Sprachen kommunizieren würde: Englisch, Französisch, Spanisch, Deutsch, Portugiesisch und Polnisch. Weniger Sprachen seien schlecht, mehr auch. Folgte die EU der Studie, müsste sie 18 Sprachen aus den Verträgen bannen. Aber geht es um Wirtschaft?
Gälisch überlebt auch mithilfe der EU
Levke King-Elsner zitiert das Motto der EU: „In Vielfalt geeint“. Das meine ausdrücklich auch die Sprachen. Europa lebe von der Eleganz des Französischen, der Sprudeligkeit des Italienischen und der Präzision des Deutschen. Wilhelm von Humboldt nannte Sprache einen Ausdruck der Verschiedenheit des Denkens.
Im Nachbarturm G6, nachmittags. Diarmuid Johnson trägt ein kariertes Hemd und Sandalen ohne Socken. Er ist eine Rarität in den Übersetzertürmen Brüssels, nicht nur seiner nackten Füße wegen. Johnson übersetzt ins Gälische.
Irland trat der EU 1973 bei. Zunächst übersetzten die Iren ins Englische. Als im Jahr 2004 Malta beitrat und Maltesisch einführte – obwohl alle Malteser Englisch sprechen –, erinnerten sich die Iren auch an ihre zweite Amtssprache. Bis 2022 soll Gälisch gleichberechtigte Amtssprache werden, obwohl nur jeder 48. Ire Muttersprachler ist und nicht mal alle irischen Parlamentarier die Sprache verstehen. Die Kommission sucht derzeit händeringend Kollegen für Diarmuid Johnson.
Der hat in seinem Büro Karten der Länder aufgehängt, deren Sprachen er spricht: Walisisch, Gälisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Polnisch, Rumänisch. Er verdingte sich viele Jahre als Dozent für keltische Sprachen, bis er las, die EU suche Gälisch-Übersetzer. Im März ging er nach Brüssel, jetzt verdient er 60 000 Euro Einstiegsgehalt. Bösmeinende bezeichnen Johnson als Steuerverschwendung.
„Gälisch ist ein Sonderfall“, sagt der. Weil die Sprache keine Lehnwörter kennt, müssen er und seine Kollegen ständig neue Wörter erfinden. Gerade sucht er eine Übersetzung für das Modewort „Mobilisierung“. Zuletzt erfand er das Adjektiv „terroristisch“ neu: „sceimhlitheoireachta“. Pro Jahr wächst das Gälische dadurch um 100 Begriffe. „Ohne die EU hätte es wenig Chancen“, sagt Johnson.
Jeder kriegt seine Sprache, keiner will verzichten
In Brüssel beginnt die Sprache zu leben. Bis zu 100 Übersetzer sollen bald hier arbeiten. Ein bisschen was von ihrem Verdienst, so hofft Johnson, werden sie in die gälische Kultur investieren. In Irland habe er eine neue Lust aufs Gälische entdeckt, sagt er, Eltern brächten ihre Kinder wieder zum Unterricht. Er selbst hat gerade einen Nibelungenroman auf Gälisch geschrieben, sein Ziel: 2019 will er in Brüssel 1000 Exemplare verkaufen. „Vielleicht rettet die EU unsere Sprache.“
Der Streit über das Gälische symbolisiert einen größeren Konflikt der EU mit ihren Bürgern. Um kein Land zu diskriminieren, behandelt die EU alle gleich. Jeder kriegt seine Sprache, keiner will verzichten. Nach dem Wunsch der Iren 2004 meldeten sich die Spanier und wollten Katalanisch, Baskisch und Galicisch einführen. Auch deutsche Parlamentarier schimpfen gern in Richtung Brüssel. Aber nicht, weil sie Bürokratie in Brüssel abbauen wollen. Sie wollen noch mehr Dokumente übersetzt haben. Mit dem Ruf, ein aufgeblähter Apparat zu sein, müssen sie dann in Brüssel kämpfen. Und Vorschläge, wie es besser ginge, hören sie auch nur selten.
Einer lautet: Englisch zur Einheitssprache machen. Von allen verstanden, von allen gesprochen, die Lingua franca der Globalisierung. Hochdeutsch formte einst das deutsche Kaiserreich. Latein ermöglichte die römische Expansion. Könnte die Einheitssprache Englisch die EU näher zusammenrücken lassen?
„Am Ende trägt der Bürger die EU“
Diarmuid Johnson, der Gälisch-Übersetzer, zweifelt. Schon heute sei das Englisch, das die Brüsseler Politiker sprechen, kaum auszuhalten. Wenn Deutsche, Spanier, Finnen in Englisch formulieren müssten, hantiere die EU bald mit einer „nicht existenten Sprache“, sagt Johnson. Ein englischer Kollege hat einmal eine Liste veröffentlicht mit all den Wörtern, die Brüsseler Beamte im Englischen falsch verwendeten. Zum Beispiel das Wort „Badge“, das mancher für den Ausweis benutzt, der an Eingängen vorgezeigt werden muss. Dabei heißt der „visitor pass“. Schlimmer findet der Engländer nur, wie manch Beamter den Apparat nennt, der einen „badge“ scannt: „badger“, was eigentlich Dachs heißt. Dabei ist davon auszugehen, dass EU-Beamte ein besseres Englisch sprechen als der durchschnittliche Europäer.
„Am Ende trägt der Bürger die EU“, sagt Martina Fornoff aus dem Planning. „Das wird er nicht tun, wenn er noch weniger versteht als bisher.“
Damit der Bürger möglichst viel versteht, hat die EU-Kommission 2008 das Konzept der Adoptivsprache erfunden. Jeder Europäer soll neben seiner Muttersprache und Englisch eine weitere EU-Fremdsprache beherrschen, je nach persönlichem Geschmack. Ein Vorbild könnte Ioannis Ikonomou sein. Der Übersetzer aus der griechischen Sprachabteilung der Kommission spricht 21 der 24 Amtssprachen fließend. Litauisch konnte er mal, hat es aber wieder vergessen. Fehlen Maltesisch und Gälisch. Dafür, so sagt er, habe er noch keine Zeit gehabt.