Machtpoker nach dem Mauerfall: „Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht“
Hat der Westen die Sowjetunion betrogen, als es 1990 um die Frage ging, ob die Nato gen Osten erweitert wird? Ein Gastbeitrag.
Prof. Mary Elise Sarotte ist Zeithistorikerin und Autorin von „The Collapse: The Accidental Opening of the Berlin Wall“ und „1989: The Struggle to Create Post-Cold War Europe“. Dieser Artikel ist die gekürzte Fassung ihrer Rede an der Körber-Stiftung. Am 8. November 2019 um 19 Uhr wird sie bei einer Veranstaltung der Stiftung Berliner Mauer zu hören sein. Weitere Informationen unter: https://veranstaltungen.stiftung-berliner-mauer.de.
Als ich 1989 in Berlin studierte, schien gerade eine neue Ära der Harmonie anzubrechen – in den transatlantischen Beziehungen, aber auch in den amerikanisch-russischen Beziehungen. Damals war ich sicher, dass dieser neue Geist mindestens andauern würde, solange ich lebe und darüber hinaus. Der Kalte Krieg, meinte ich damals, sei nun Geschichte.
Kaum 30 Jahre nach diesen Ereignissen allerdings stellt Donald Trump das transatlantische Verhältnis grundsätzlich in Frage. Wladimir Putin greift in europäische und amerikanische Wahlen ein und stachelt Nationalisten auf beiden Seiten des Atlantiks auf. Trump und Putin zerreißen Rüstungskontrollverträge in der Luft. Es fühlt sich an, als würde ein Versprechen gebrochen werden – das Versprechen von 1989.
In diesem neuen Konflikt zwischen Europa, Russland und den USA spielt ein vermeintlich gebrochenes, historisches Versprechen immer wieder eine große Rolle. Es ist ein wichtiger Bestandteil in der Putinschen Weltanschauung; ein Russland, das vom Westen betrogen worden sei. Es geht um die Nato-Osterweiterung, im Zuge derer viele Staaten Osteuropas und auf dem Balkan der Verteidigungsallianz beitraten. Mit der Osterweiterung hätten die USA ein Versprechen gebrochen, so Putin, dass sie Russland im Zuge der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands gegeben hätten.
Die Unterlagen wurde erst jetzt "declassified"
Ich forsche seit fast 15 Jahren zu der Frage, ob es dieses Versprechen tatsächlich gegeben hat. In sechs Ländern – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Russland, und den USA – habe ich Dokumente eingesehen, Zeitzeugen interviewt und Fernseharchive durchsucht. Zwei Bücher sind bereits dazu erschienen, derzeit arbeite ich an einem dritten, dessen Ergebnisse ich hier teilweise vorwegnehme. Ich untersuche darin die frühen 90er-Jahre und habe in den USA Unterlagen mühselig über das Informationsfreiheitsrecht deklassifizieren lassen, sowohl aus dem Aktenbestand der George-H.-W.-Bush- als auch der Bill-Clinton-Regierung. Darunter sind fast alle Protokolle der Gespräche zwischen Clinton und Boris Jelzin.
Die kurze Antwort ist: Das Thema kam in den Verhandlungen im Jahr 1990 wiederholt auf. Doch eine schriftliche Zusicherung der USA oder der Allianz selbst, die Nato nicht zu erweitern, gab es nicht.
Der Grund dafür war, dass die US-Regierung unter Bush nach dem Fall der Mauer an der Sicherheitsarchitektur des Kalten Krieges festhalten wollte – und damit an der Führungsrolle der USA in der europäischen Sicherheitspolitik. Alternativen zur Nato sind zwar damals vorgeschlagen worden, zum Teil von den Dissidenten, die maßgeblich dazu beigetragen hatten, das friedliche Ende des Kalten Krieges herbeizuzaubern. Sie waren der Meinung, dass die Nato mit dem Ende der Sowjetunion und des Kalten Krieges ihre Mission erfüllt habe. Friedensaktivisten schlugen damals vor, Mittel- und Osteuropa zu einer demilitarisierten Pufferzone zwischen Ost und West zu machen – aus Sicht der USA war das damals die schlechteste Idee von allen. Ein weiterer Gedanke war es, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit auszubauen, die ja ohnehin schon sowohl Mitglieder der Nato als auch Mitglieder des Warschauer Pakts umfasste.
Die Nato sollte den Kalten Krieg überleben
Nach dem Fall der Mauer hatten aber die Friedensaktivisten keine ausreichende Unterstützung der Wähler mehr, um sich durchzusetzen, wie die Wahl zur DDR-Volkskammer am 18. März 1990 zeigte. Stattdessen arbeiteten Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl entschlossen und schnell zusammen, um sicherzustellen, dass die Nato – und damit die führende Rolle der USA in diesem Bündnis und in der europäischen Sicherheitspolitik – den Kalten Krieg überlebte.
Der Erfolg von Bush und Kohl prägte die Epoche danach. 1989 war eine Revolution „von unten“. Die Menschen erstritten neue Lebensbedingungen. Von der Straße aus entstand eine neue Welt. „Von oben“ aber blieb ein ähnlicher Wandel aus. Eine wahrhaft neue Weltordnung in der Außen- und Sicherheitspolitik wurde nicht geschaffen, wiederholten amerikanischen Ankündigungen einer „New World Order“ zum Trotz.
Das amerikanische Narrativ dieser Ereignisse hat in den folgenden Jahren schnell triumphalistische Züge angenommen. Philip Zelikow und Condoleeza Rice, die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates unter Präsident George H.W. Bush waren, urteilten: „Staatsmänner, die ihre Chance sahen, handelten geschickt und schnell und unter Rücksichtnahme auf die Würde der Sowjetunion.“ In den Jahren nach der Wiedervereinigung behaupteten viele amerikanische Kommentatoren fälschlicherweise, die Frage einer Nato-Erweiterung sei in den Verhandlungen zwischen Deutschen, Amerikanern und der Sowjetunion nie aufgekommen.
Interessanterweise hat der ehemalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow diese Sichtweise 2014 öffentlich gestützt. Keins der osteuropäischen Länder habe die Frage angesprochen, ebenso wenig einer der westlichen Staatsmänner oder Diplomaten. Also hört auf, empörte er sich, es so darzustellen, als seien die Sowjetvertreter Naivlinge gewesen, die vom Westen über den Tisch gezogen worden seien. Dokumente aus dem Jahr 1990 allerdings zeigen, dass es durchaus einen Moment gab, in dem Gorbatschow das Gefühl hatte, in die Falle gegangen zu sein – und sich sehr emotional bei Kohl darüber beklagte. Die Dokumente zeigen auch, dass die Frage der Nato-Osterweiterung von den westlichen Diplomaten durchaus diskutiert wurde. Kohl persönlich erzählte Bush 1990, Gorbatschow habe „große Probleme. Seine osteuropäischen Verbündeten sagen, sie wollen in die Nato“.
Kanzler Kohl wurde in Camp David auf Linie gebracht
Ein Schlüsselmoment in den Verhandlungen war der Februar 1990. Die Unterlagen zeigen, dass der damalige bundesdeutsche Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, davon ausging, dass Gorbatschow als Preis für seine Einwilligung zur deutschen Wiedervereinigung eine Garantie einfordern würde, die Nato nicht zu erweitern.
Genscher besuchte Washington Anfang Februar 1990, um dieses Thema zu erörtern. Der damalige US-Außenminister James Baker hatte für Mitte Februar einen Besuch in Moskau geplant, und Genscher reiste an, um eine gemeinsame Position abzustimmen. Genscher berichtete kurz darauf seinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd vom Inhalt seines Gespräches mit Baker. Er habe Baker gesagt, es werde nötig sein, den Sowjets zu versichern, dass die Nato ihr Territorium nicht auf das Gebiet der DDR oder anderswohin in Osteuropa erweitern werde.
In Moskau traf Baker sowohl den damaligen sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse als auch Gorbatschow und erklärte, die Nato werde „keinen Inch von ihrer derzeitigen Position ostwärts rücken“. Gorbatschow antwortete laut Baker, dass eine Verschiebung der Nato nach Osten inakzeptabel wäre.
Nichts wurde schriftlich festgehalten
Dieses Gespräch war allerdings ein hypothetisches und hatte kein konkretes Ergebnis. Nichts wurde schriftlich festgehalten, nichts vereinbart. Der nächste Tag, der 10. Februar 1990, war anders. Baker verließ die Verhandlungen, und Kohl reiste an. Kohl bekräftigte im Gespräch mit Gorbatschow Bakers Linie: Die Nato könne ihr Territorium nicht auf die DDR ausdehnen. Danach bekam Kohl nach eigenen Worten „grünes Licht“ für die deutsche Wiedervereinigung.
Ob Gorbatschow ihm zu dem Zeitpunkt ein so klares Signal geben wollte, ist zweifelhaft. Kohl jedoch hatte den Eindruck – oder fand das Gespräch im Ergebnis eindeutig genug, um es nutzen zu können. Noch am selben Abend berief der Bundeskanzler eine Pressekonferenz in Moskau ein und verkündete das Ergebnis, um sicher zu gehen, dass Gorbatschow es nicht zurücknehmen konnte. Kohl begann auch sofort, die Wirtschafts- und Währungsunion vorzubereiten. Das Gespräch hatte also letzten Endes ein konkretes Ergebnis, Gorbatschow aber bekam nichts schriftlich.
In Washington allerdings sorgte man sich über diesen Verhandlungsstand. Was, fragten sich Präsident Bush und sein Berater Brent Scowcroft, sollte das denn konkret bedeuten, wenn Deutschland wiedervereinigt wäre, sich Artikel 5 des Nato-Vertrages aber nur über einen Teil seines Gebietes ausdehnte? In der Folge wurde Baker aufgefordert, die Zusage der Nicht-Erweiterung nicht zu wiederholen.
Bush sagte: "Zur Hölle damit"
Und auch Kohl wurde bei einem Gipfeltreffen in Camp David von Bush auf Linie gebracht. Wie Bush Kohl klarstellte, waren die Sowjets nicht in der Position, das deutsche Verhältnis zur Nato zu bestimmen: „Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. We can’t let the Soviets clutch victory from the jaws of defeat wir können es nicht zulassen, dass die Sowjets in allerletzter Minute eine Niederlage in einen Sieg wandeln].“ Kohl war wohl etwas überrascht – aber fügte sich. Die neue Verhandlungsstrategie war es nun, „to bribe the Soviets out die Sowjets auszukaufen]“, wie es der spätere US-Verteidigungsminister Robert Gates, damaliger stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater, in seinen Memoiren formulierte.
Gorbatschow fiel auf, dass das Thema Nato-Erweiterung von der Agenda der Gespräche verschwand. Er machte Vorschläge für eine alternative europäische Sicherheitsarchitektur, musste aber im September 1990 feststellen, dass er keinen Erfolg hatte. Das war der Moment als er gegenüber Kohl äußerte, er habe das Gefühl, in die Falle gegangen zu sein. Kohl bot Gorbatschow 15 Milliarden Deutsche Mark als Ausgleich. Gorbatschow willigte ein, alle sowjetischen Truppen aus dem Osten Deutschlands abzuziehen und dem vereinigten Deutschland volle Souveränität zu geben. Eine schriftliche Zusicherung über die Nicht-Erweiterung der Nato erhielt er nicht, im Gegenteil. Die Übereinkunft, die er unterschreibt, erlaubt es der Nato explizit, die Grenze von 1989 zu überschreiten.
Wenn das Haus brennt, sollte man nicht anfangen, die Küche zu renovieren
Was also war die Folge dieser Politik?
US-Außenminister James Baker sagt gern, dass jeder Erfolg die Saat eines zukünftigen Problems enthält. Das ist weise. Der Erfolg von Bush und Kohl in den Jahren 1989 und 1990 stellt keine Ausnahme dar. Sie bekamen die Wiedervereinigung. Sie verhinderten ein nationalistisches Moment, indem Deutschland in das transatlantische Bündnis und die Nato eingebettet blieb. Aber sie verpassten die Chance, die nötigen Reformen an der internationalen Sicherheitsarchitektur vorzunehmen. Stattdessen setzten sie eine Struktur fort, die für das geteilte Europa und den Kalten Krieg geschaffen worden war. In der Folge gab es in Europa faktisch weiterhin eine Frontlinie: zwischen den EU- und Nicht-EU-Staaten – und zwischen Nato-Europa und Nicht-Nato-Europa.
Russland verändert heute wieder europäische Grenzen mit Gewalt. Das Land führt Krieg im Cyberspace - und statt sich dem eindeutig entgegenzustellen, hat Trump geradezu eine Obsession für Putin. Die Ära, die unmittelbar auf den Kalten Krieg folgte, ist 2014 mit dem Einmarsch Russlands auf der Krim zu Ende gegangen.
Wir brauchen diese Leitplanken wieder
Steuern wir, trotz des Zerfalls des alten Wettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sogar auf einen neuen Kalten Krieg zu – verstärkt durch die Erzählung vom gebrochenen Versprechen der Nato?
Die Antwort ist, dass ein neuer Kalter Krieg sogar eines der besseren Szenarien für die Zukunft ist. Ich will damit einen neuen Kalten Krieg nicht herbeireden. Ich verspüre nicht die geringste Nostalgie, wenn ich an diese Zeit denke. Ich bedauere zutiefst, dass der Optimismus meiner Studienjahre verschwunden ist. Aber der Kalte Krieg erzeugte seine eigenen Errungenschaften. Er verhinderte einen „heißen Krieg“. Zudem endete er friedlich – daran erinnern sich Berlin und Deutschland in diesen Tagen anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls. Wichtig war auch das in vielen Verträgen geregelte Abrüstungsregime in der Entspannungsphase des Kalten Krieges.
Diese Entspannungsphase könnte Vorbild auch für die nächsten Jahre und Jahrzehnte im europäisch-amerikanisch-russischen Verhältnis sein: eine Phase zäher Verhandlungen und kleiner, mit viel Geduld errungener Erfolge um neue Rüstungskontrollen. Wir brauchen diese Leitplanken wieder. Und wir brauchen die Nato. Anders als 1989-90 ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die Sicherheitsarchitektur Europas zu ändern. Wenn das Haus brennt, sollte man nicht anfangen, die Küche zu renovieren.